Zusammen mit ihren Freund Aron schmiedet Nancy große Pläne für die Sommerferien: zu zweit ohne Eltern für eine Woche nach Kopenhagen. Doch als es soweit ist, hat Aron plötzlich eigene Ideen, und in denen spielt Nancy keine Rolle mehr. Wenn es überhaupt noch eine Reise geben soll, braucht Nancy Hilfe, und ohne ein bisschen schummeln geht es auch nicht ab. Doch was ihr widerfährt, scheint nicht nur Nachteile zu haben.
Mit gemischten Gefühlen lief Nancy über den Platz, der den Hagener Hauptbahnhof vom dazugehörigen Busbahnhof trennte. Es war ein Freitagmorgen in den Sommerferien, die Uhr über dem Portal des Bahnhofsgebäudes zeigte kurz nach zehn. Noch genug Zeit also, der Zug nach Hamburg würde um elf fahren. Das eigentliche Ziel sollte Kopenhagen sein, aber Nancy und ihr Freund Aron hatten eine Zwischenübernachtung eingeplant.
Auf die dänische Hauptstadt freute Nancy sich immer noch. Aber ob es mit Aron klappen würde? „Freund“ war nämlich nicht mehr aktuell, vor sechs Wochen hatten sie sich getrennt. Es war nicht der eine große Knall gewesen, Nancy hatte das Gefühl gehabt, dass Aron das Interesse an ihr verloren hatte, und irgendwann auch keine Lust mehr gehabt, irgendetwas mit ihm zu machen.
Doch da war natürlich schon alles geplant gewesen, schon Anfang April hatten Nancy und Aron Fahrt und Zimmer gebucht. Nancy hatte eine Weile überlegt, ob sie die Reise trotzdem durchziehen sollte, mit ihren Eltern und mit ihrer besten Freundin darüber diskutiert. Am Ende hatte sie sich dafür entschieden, und sie glaubte nach wie vor, dass die Entscheidung richtig war. Sie hatte viel Mühe in die Planung gesteckt, sie und Aron hatten das ganz allein auf die Beine gestellt und die Hilfe der Eltern nur in Anspruch genommen, wenn es unumgänglich gewesen war. Die Fahrkarten waren bezahlt, die Zimmer zum Teil, und komplett zurückbekommen hätten sie das Geld nicht mehr. Eine gehörige Portion Trotz war auch dabei gewesen – warum sollte sie einen Rückzieher machen? Auch wenn sie am Ende Schluss gemacht hatte, sah sie den Hauptteil der Verantwortung für das Beziehungsaus bei Aron.
Aron hatte zuerst nichts dazu gesagt, es schien für ihn okay gewesen zu sein. Miteinander auskommen würden sie schon, trotz Trennung, und wenn sie nichts zusammen unternehmen wollten, dann würde das kein Problem sein.
Doch vor drei Wochen hatte sich die Situation noch einmal verändert: Aron hatte eine neue Freundin, und er hatte gefragt, ob er Fahrkarten und Zimmer auf sie umbuchen durfte. Nancy hatte das Ansinnen rundheraus abgelehnt, sie hatte weder Lust gehabt, die ganzen Ferien zu Hause zu verbringen, noch sah sie ein, warum sie sich die ganze Mühe für ein Mädchen gemacht haben sollte, das sie nicht einmal kannte. Seitdem hatte sie kaum noch etwas von Aron gehört, sie schätzte, dass er ein bisschen sauer war. Dann würden sie in Dänemark wohl meist jeder sein eigenes Ding machen, das war okay, sie würde sich bestimmt nicht langweilen allein.
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Nancy tauchte ein in den Schatten der Bahnhofshalle und schaute sich um. Wo genau sie Aron treffen würde, wusste sie nicht, sie hatten nichts ausgemacht. Sie hatte ihm am Vorabend noch eine Nachricht geschickt und vorgeschlagen, sich direkt neben dem Haupteingang zu treffen, doch da war er nicht. Das war erst mal okay, denn als Uhrzeit hatte sie viertel nach zehn vorgeschlagen, und bis dahin waren es noch ein paar Minuten. Allerdings behauptete die App, dass er die Nachricht noch gar nicht gelesen hatte. Aron konnte also überall und nirgends sein, wenn er schon da war, irgendwo in der Halle, im Bahnsteigtunnel oder schon auf dem Bahnsteig. Ein bisschen ärgerte Nancy sich, dass er nicht auf die Nachricht reagiert hatte, die Sucherei ohne festen Treffpunkt konnte man sich wirklich sparen. Aber wegen solcher Kleinigkeiten wollte sie sich den Urlaub nicht vermiesen lassen. Vielleicht hatte er sein Handy lautlos gestellt, um den letzten Abend vor dem Urlaub ungestört mit seiner neuen Freundin zu verbringen, und danach vergessen, es wieder umzuschalten.
Nancy beschloss, abzuwarten. Noch war genügend Zeit, bis der Zug fuhr, und neben den Fahrkartenautomaten auf der rechten Seite stand sie strategisch günstig. Von dort aus hatte sie nicht nur den Eingang im Blick, sondern, wenn sie den Kopf drehte, auch den größten Teil der Halle bis zum Anfang des Bahnsteigtunnels. Auch wenn Aron sich etwas zu essen geholt hatte, oder nebenan in der Bahnhofsbuchhandlung frisches Lesefutter, würde sie ihn sehen. Gleichzeitig stand sie so, dass er sie umgekehrt auch nur schwer übersehen konnte. Irgendwann würde er schon auftauchen, und wenn er bis halb nicht da war, würde sie ihn anrufen.
Sie musste sich eine Weile gedulden, denn Aron reizte unwissentlich das Zeitlimit, das sie sich gesetzt hatte, fast aus. Er kam auch nicht allein, aber es waren nicht seine Eltern, die ihn begleiteten. Da war die Situation vermutlich ähnlich wie bei Nancy – ihre Eltern mussten arbeiten und hatten sich deshalb schon früher am Morgen von ihr verabschiedet, Nancy war extra eher aufgestanden, um sie noch zu sehen.
Sie hatte Arons neue Freundin noch nie zu Gesicht bekommen und wusste nicht einmal, wo er sie kennengelernt hatte. Trotzdem war ihr sofort klar, dass das Mädchen mit den blonden Locken, das ihn begleitete, diese neue Freundin sein musste. Den Namen hatte Aron wohl mal erwähnt, Sina, wenn Nancy sich richtig erinnerte, und sie war wohl fast 17, also knapp ein Jahr älter als Nancy, die am Tag der Zeugnisvergabe 16 geworden war.
Nancy ging den beiden entgegen. Dabei fiel ihr auf, dass Sina einen Rollkoffer hinter sich herzog – hatte Aron so viel Gepäck, dass er neben dem großen Wanderrucksack, den er auf dem Rücken trug, auch noch den Koffer brauchte? Damit würde er dann aber auf der Zugfahrt allein zurechtkommen müssen, Nancy würde ihm nicht die Lasteneselin spielen. Oder war Sina selbst auf dem Sprung in den Urlaub und verband die Verabschiedung ihres Freundes mit der eigenen Abreise? Hoffentlich nahm sie dann nicht denselben Zug, zusammen mit der neuen Freundin ihres Ex-Freundes unterwegs zu sein, stellte Nancy sich ziemlich merkwürdig vor.
„Was machst du denn hier?“, begrüßte Aron sie, und er schien tatsächlich überrascht zu sein. „Wir fahren zusammen weg, schon vergessen?“, gab Nancy zurück, um sich ihre Verwirrung nicht anmerken zu lassen. Wollte er sie verladen? „Wir?“, echote Aron, und es hörte sich tatsächlich so an, als wäre das das Letzte, was er erwartet hätte. „Ich fahre mit Sina, das weißt du doch. Weil ich jetzt mit ihr zusammen bin, und …“ „Moment!“, fuhr Nancy auf. „Du hast alles auf sie umgebucht und mir nichts davon gesagt? Spinnst du jetzt komplett?“