Als die Bagger vor ihrem Haus stehen, fallen Hendrik und seine Mutter aus allen Wolken. Der Vermieter dagegen besteht darauf, dass er die Kündigung rechtzeitig geschickt hat, und kann es sogar beweisen. Schnell wird klar: Hier hat jemand die Finger im Spiel, der nichts Gutes im Schilde führt. Doch wer ist dieser Jemand, und wozu das alles? Die Lage spitzt sich schnell zu, und Hendrik gerät in große Gefahr.
Hendrik blinzelte und setzte sich dann ruckartig im Bett auf. Vor dem Haus, direkt unter seinem Fenster, dröhnte es laut, und irgendetwas fiel polternd um. Ein Unfall auf der Landstraße, die dort vorbeiführte? Ein Wagen, der von der Straße abgekommen und in die Begrenzungsmauer des Parkplatzes geknallt war? Nein, das hätte ganz anders gescheppert, das hatte Hendrik schon zweimal miterlebt. Aber irgendwas passierte da draußen.
Hendrik schob die Decke zur Seite, schwang die Beine aus dem Bett und lief zum Fenster. He, was sollte das denn? Draußen auf dem Parkplatz standen Baufahrzeuge, ein Kipplaster mit einem Bauwagen im Schlepp und ein Tieflader, von dem eben dröhnend und rumpelnd ein schwerer Bagger abgeladen wurde. Das ganze Haus erzitterte unter den Erschütterungen, die die Ketten verursachten. An der Seite entdeckte Hendrik noch einen kleineren Laster mit Gitterelementen und Betonständern für einen Bauzaun. Zwei Arbeiter waren schon dabei, abzuladen und den Bauzaun entlang der Straße aufzustellen.
Hendrik riss das Fenster auf, was einige Kraft erforderte. Das Haus war alt, es als Bruchbude zu bezeichnen, keine ungerechtfertigte Schmähung. Der Rahmen war verzogen, und hätte Hendrik nicht selbst Dichtband angebracht, hätte im Winter ein kalter Wind in sein Zimmer gepfiffen.
„Was machen Sie da?“, schrie er, um den Lärm des Baggermotors zu übertönen. Einer der Männer, die am Heck des Tiefladers standen, merkte auf, schaute zum Haus und entdeckte Hendrik am Fenster. „He, Junge!“, rief er, „Was hast du da drin zu suchen?“ Bitte was? Das lag doch wohl auf der Hand! „Ich wohne hier!“, rief Hendrik zurück. „Was denken Sie denn?“ „Hier wohnt keiner mehr!“, behauptete der Bauarbeiter. „Sieh zu, dass du da rauskommst!“ „Aber …!“, setzte Hendrik zu einem Protest an, doch der Bauarbeiter schnitt ihm das Wort ab. „Nix aber!“, herrschte er ihn an. „Raus da, ich gebe dir fünf Minuten!“
Hendriks Gedanken rasten. Was ging hier vor? So, wie das Ganze aussah, wollten die Männer das Haus abreißen, aber das konnte nicht sein! Ja, dass das Haus beizeiten abgerissen und das Grundstück neu bebaut werden sollte, wusste er, aber doch nicht von jetzt auf gleich!
Das Haus hatte mehr als hundert Jahre auf dem Buckel. Im Erdgeschoss war früher ein Ausflugslokal gewesen, darüber gab es im ersten Stock zwei Wohnungen. Das Lokal war schon geschlossen, solange Hendrik sich erinnern konnte, die zweite Wohnung stand leer, seit die alte Frau Pfalzen vor drei Jahren gestorben war. Seitdem wohnten nur noch Hendrik und seine Mutter hier.
Eine Sanierung lohnte sich nicht mehr. Nicht nur, dass die Reparatur aller Schäden mehr gekostet hätte als ein Neubau, es würde sich auch bei bester Instandsetzung niemand mehr finden, der im Erdgeschoss ein Restaurant oder Café betreiben wollte. Der Leerstand aber würde dazu führen, dass das Haus wieder verfiel, und es hatte auch schon Probleme gegeben mit Leuten, die sich dort illegal hatten einquartieren wollen.
Das Verhältnis zum Besitzer des Hauses war nicht herzlich, aber in Ordnung. Er hatte Hendriks Mutter frühzeitig darüber informiert, dass er vorhatte, das Haus abzureißen und das Grundstück neu zu bebauen. Dass Hendrik und seine Mutter sich über kurz oder lang eine neue Bleibe würden suchen müssen, war also abzusehen gewesen. Es war auch nicht so, dass sie nicht auf der Suche gewesen wären; sie schauten ständig und hatten auch schon die eine oder andere Wohnung besichtigt. Solange das Vorhaben des Vermieters noch in einem eher frühen Planungsstadium war, und danach hatte es bislang ausgesehen, hatten sie aber keinen Grund gesehen, etwas zu überstürzen. Einerseits war der Markt angespannt, Wohnungen wurden einem nicht gerade hinterhergeworfen, auf der anderen Seite wollte Hendriks Mutter sehen, dass sie im Rahmen dessen, was sie für die Miete ausgeben konnte, das Beste herausholte. Unbedingt vermeiden wollte sie einen Umzug in eine andere Stadt, damit Hendrik nicht die Schule wechseln musste und seinen Freundeskreis verlor.
Hastig zog Hendrik sich an und lief nach unten. Die Tür an der Straßenseite führte zur Kneipe, der Zugang zu den beiden Wohnungen im Obergeschoss lag an der Schmalseite. Das schienen aber die Bauarbeiter nicht zu wissen, deshalb bemerkten sie Hendrik erst, als er über den Vorplatz auf sie zulief.
„Was soll das?“, fragte er den Mann, mit dem er schon am Fenster gesprochen hatte. Der schien das Sagen zu haben, und wenn nicht, würde er Hendrik zumindest den Verantwortlichen zeigen können. „Hast du eine Ahnung, wie gefährlich das ist, sich in Abbruchhäusern rumzutreiben?“, herrschte der Mann ihn an, statt die Frage zu beantworten. „Der Bau ist komplett marode, wenn du durch die Zwischendecke gebrochen wärst, hättest du dir den Hals brechen können.“
„Ich wohne hier!“, wiederholte Hendrik. „Mit meiner Mutter.“ „Hausbesetzung, was?“, unterstellte der Bauarbeiter. „Hier wohnt keiner mehr, die letzten Mieter mussten schon vor Monaten ausziehen, weil die Bude abgerissen wird.“ „Nein“, beharrte Hendrik. „Ja, klar, das Haus soll abgerissen werden, aber noch nicht jetzt.“ „Natürlich jetzt“, widersprach der Bauarbeiter. „So hat’s mein Chef mit dem Besitzer vereinbart.“ „Aber … Aber wir haben keine Kündigung gekriegt!“, wandte Hendrik ein. Er war ganz sicher, dass er das erfahren hätte, und dann hätten sie ja inzwischen auch umgezogen sein müssen. Doch das Abrissunternehmen würde auch nicht ohne Auftrag anrücken, also konnte das eigentlich nur ein Irrtum sein: Irgendjemand musste den Termin falsch aufgeschrieben haben.
Oder hatte der Vermieter vergessen, die Kündigung zu schicken? Kaum, der Mann war eigentlich immer korrekt. Darum kümmerte sich zwar Hendriks Mutter, aber Hendrik bekam es trotzdem mit. Seine Mutter erzählte ihm von solchen Sachen, weil sie fand, dass es nicht schaden konnte, wenn er es schon mal gehört hatte. Mit dreizehn Jahren hatte er zwar noch Zeit, bis die Frage nach der ersten eigenen Wohnung im Raum stand, aber trotzdem.
Der Bauarbeiter schien immer noch überzeugt zu sein, dass Hendrik und seine Mutter sich ohne Wissen des Hausbesitzers in der Wohnung breitgemacht hatten. Immerhin blieb der Bagger auf dem Vorplatz stehen, statt mit dem Abriss zu beginnen; nur die Männer mit dem Bauzaun machten weiter.
Hendrik lief zurück ins Haus, um sein Handy zu holen, das er in der Eile einzustecken vergessen hatte. Schon auf dem Weg zurück nach unten holte er die Nummer seiner Mutter aus dem Speicher und drückte die Anruftaste. Hoffentlich hörte seine Mutter das Handy und hatte auch Zeit, dranzugehen! Sie arbeitete als Zugbegleiterin bei der Bahn, und am Montagmorgen um halb acht waren die Züge erfahrungsgemäß vollgestopft mit Pendlern. Auch Hendrik wäre eigentlich schon auf dem Weg zur Schule gewesen, aber seine Kunstlehrerin war mit einer anderen Klasse auf Klassenfahrt, sodass die ersten beiden Stunden ausfielen.
Als seine Mutter sich meldete, nach dem vierten oder fünften Klingeln, klang sie besorgt. Das war nicht verwunderlich, denn es gab eine klare Absprache, dass Hendrik nur im Notfall anrief.
Hastig berichtete Hendrik, was gerade zu Hause passierte. „Bitte was?“, kam es vollkommen entgeistert zurück. Danach herrschte eine ganze Weile Stille in der Leitung. Hendrik hatte alles erzählt und wartete auf eine Antwort, was er machen sollte, aber seine Mutter musste das Gehörte erst einmal verarbeiten.
„Hat der Kohlfeld“, das war der Vermieter, „wirklich nie was gesagt?“, bohrte Hendrik schließlich nach. „Ich meine, außer dass er irgendwann mal das Haus abreißen will?“ „Nichts“, versicherte seine Mutter. „Irgendwann würde das kommen, das war schon klar, aber von einem Tag auf den anderen geht das nicht. Wir wohnen jetzt gut acht Jahre da, und ab acht Jahren ist die Kündigungsfrist ein Dreivierteljahr. Und das muss er auch schriftlich machen, und ich schwöre dir, da war nichts.“
Das war eine klare Sachlage, änderte aber nichts daran, dass der Bagger vor der Tür stand, um das Haus abzureißen. „Ich rufe die Polizei“, entschied Hendriks Mutter. „Egal, was da schiefgelaufen ist, die müssen zumindest verhindern, dass die anfangen, abzureißen, solange unsere ganzen Sachen noch im Haus sind. Und dann versuche ich, Herrn Kohlfeld zu erreichen.“
***
Während Hendrik mit seiner Mutter gesprochen hatte, hatte auch der Bauarbeiter telefoniert. „Der Termin steht“, teilte er Hendrik mit. „Alles besprochen und geklärt.“ „Aber wir haben keine Kündigung gekriegt“, wandte Hendrik ein. „Das kann nicht erlaubt sein, dass Sie einfach kommen und das Haus abreißen.“ „Ihr hattet lange genug Zeit, auszuziehen“, behauptete der Bauarbeiter. „Die Kündigung habt ihr im November bekommen, das hat der Chef mir gerade noch mal bestätigt.“ Das wären dann nur gut sieben Monate gewesen, von November bis Ende Juni, nicht die vorgeschriebenen neun. Allerdings hatten Hendrik und seine Mutter am Ende des Vorjahres auch noch nicht die acht Jahre voll gehabt, deshalb hatte wohl noch eine kürzere Frist gegolten.
„Und wenn er sich irrt? Oder Herr Kohlfeld?“, sagte Hendrik. „Wenn meine Mutter sagt, sie hat keinen Brief bekommen, dann hat sie das auch nicht. Und sie hätte mir auch gesagt, wenn feststeht, bis wann wir ausziehen müssen.“ „Mir egal, was deine Mutter dir erzählt oder nicht“, knurrte der Bauarbeiter. „Der Besitzer ist nicht blöd, er wusste wohl schon, warum er die Kündigung per Einschreiben mit Rückschein geschickt hat. Weißt du, was das heißt? Deine Mutter hat unterschrieben, dass sie den Brief gekriegt hat. Wenn ihr dann meint, ihr müsst euch nicht darum kümmern, ist das nicht mein Problem. Als sieh zu, dass du wegkommst, damit wir endlich anfangen können!“
„Nein!“, schrie Hendrik. Er warf sich herum und rannte zurück zum Haus. Er schlug die Tür hinter sich zu, schloss ab und schleppte einen Küchenstuhl nach unten, um zusätzlich die Klinke zu verkeilen. Das würde die Bauarbeiter hoffentlich eine Weile aufhalten! Oder würden sie einfach den Bagger nehmen und ein Loch in die Wand rammen?