Autorenseite René Bote

Das Weihnachtsrennen

Cover der Kurzgeschichte Das Weihnachtsrennen

40 Kilometer durch drei Städte, über Stadt- und Landstraßen, zwischendrin auch mit einigen Höhenmetern – der Tisch war gedeckt für ein durchaus anspruchsvolles Radrennen. Das Rennen am zweiten Weihnachtstag hatte Tradition und sollte noch einmal ein Höhepunkt des Radsportjahres für alle Altersklassen werden. Je nach Alter variierte die Strecke, die Erwachsenen fuhren die Runde zweimal, die Kleinen durften Abkürzungen nehmen und sparten sich die Steigung.

 

In der Altersklasse der vierzehn- und fünfzehnjährigen Mädchen war der Favoritenkreis eng eingegrenzt: Charlotte Hagen, Lotta genannt, vom RV 28 und die Halbitalienerin Gina Villa aus der Radsportabteilung des örtlichen Triathlonvereins Tri-Club waren in diesem Jahrgang das Beste, was Westdeutschland an Radrennfahrerinnen zu bieten hatte. Alle, die sich in der Szene auskannten, gingen davon aus, dass sie Gold- und Silbermedaille in die Stadt holen würden. Spekuliert wurde nur, welche den ersten Platz machen würde, die Chancen schienen etwas besser für Gina, die bei den letzten beiden Vergleichen die Nase vorn gehabt hatte. Ohne dass das ihre Leistung schmälern sollte, musste man allerdings festhalten, dass Lotta sich nach den Sommerferien im Schulsport den Fuß verstaucht und durch die Verletzung Trainingsrückstand angesammelt hatte.

 

„Wie fühlst du dich?“, fragte Lottas Vater, der auch ihr Trainer war. „Gut“, antwortete Lotta. „Ich schätze, ich bin wieder bei 100 Prozent.“ „Bring es auf die Strecke!“, forderte ihr Vater. „Du bist besser als Gina, zeig ihr, wo sie steht, wenn du fit bist!“ Lotta nickte. „Ich gebe mein Bestes“, versprach sie.

 

Ihr Vater ging mit ihr noch mal die Strecke durch und fragte sie ab, wie sie die einzelnen Abschnitte angehen sollte. Die Kräfte einteilen, sich nicht auf wahnsinnige Duelle einlassen, aber gleichzeitig Ausbruchsversuche verhindern, um keinem Rückstand hinterherzuhecheln – Lotta kannte das alles, aber sie wusste auch, dass der Plan ganz schnell Makulatur sein konnte. Sie war ja nicht allein auf der Strecke, und sie konnte nicht sicher sein, was die anderen Fahrerinnen machen würden. Sie würde ihre Situation einschätzen und ihre eigenen Entscheidungen treffen müssen, das konnte ihr Vater ihr nicht abnehmen.

 

Sie kannte den Kurs, war das Weihnachtsrennen im Vorjahr schon gefahren und hatte gewonnen, mit zwei Radlängen Vorsprung auf Gina. Auch da hatten sie ihre Altersklasse schon dominiert, obwohl sie zu den jüngeren Fahrerinnen gehört hatten. Trotzdem war sie in den letzten Wochen mehrfach die komplette Strecke gefahren, um sicher zu sein, dass sie alles frisch im Gedächtnis hatte. Im Duell mit Gina zählten Nuancen, ein kurzes Abweichen von der Ideallinie, weil ihr zu spät klar wurde, ob es an einer Gabelung rechts oder links ging, konnte sie den Sieg kosten.

 

Eine Lautsprecherstimme forderte die Fahrerinnen auf, sich am Start zu versammeln, und die Jungen, die im nächsten Rennen starten würden und sich noch warm machten, die Strecke zu räumen. Ein Stück weiter vorne stand der Führungswagen, der vor den ersten Fahrerinnen bleiben würde, das Schlussfahrzeug stand in einer Einfahrt und würde sich einreihen, wenn die letzten Mädchen gestartet waren. Das alles war eine Nummer kleiner als bei einem Profirennen, aber der Ausrichter tat doch das Mögliche, um allen Fahrerinnen und Fahrern optimale Bedingungen zu bieten.

 

Gerüchteweise waren die Veranstalter früher am Morgen noch unsicher gewesen, ob sie das Rennen überhaupt durchführen konnten. Es war kalt, die Temperaturen lagen um den Gefrierpunkt, und niemand wollte dafür verantwortlich sein, wenn es wegen Glätte einen Massensturz gab. Aber nachdem die Strecke begutachtet und in Zusammenarbeit mit der Stadtverwaltung ein Streufahrzeug durchgeschickt worden war, sprach nach Ansicht der Ausrichter nichts mehr dagegen, den Startschuss zu geben.

 

Lotta wäre traurig gewesen, wenn das Rennen ausgefallen wäre. Gerade weil sie bei den letzten Rennen gehandicapt gewesen war, hatte sie sich darauf gefreut, noch mal ein Rennen fahren zu können, ehe es bis Ende März in die Pause ging. So lange würde es kein Rennen geben, der Schwerpunkt der Saison lag zwischen Mai und Ende September. Natürlich würde sie trainieren, aber das war nicht das Gleiche.

 

„Toi, toi, toi!“, sagte ihr Vater. „Du packst das!“ Lotta nickte und schlug gegen die Hand, die er ihr hinhielt. Dann schob sie ihr Rad zum Start und sicherte sich einen Platz weit vorne im Feld. Wenn es nach ihrem Vater gegangen wäre, hätte sie sich schon lange bereitgemacht, um wirklich direkt an der Startlinie zu stehen. Zwar wurde die Zeit mit Hilfe eines Chips im Schild mit der Startnummer gemessen und startete bei jeder Fahrerin erst, wenn sie tatsächlich über die Startlinie rollte, aber je weiter vorne sie startete, desto geringer war die Gefahr, ein paar Sekunden zu verlieren, weil andere ihr im Weg waren. Doch die Veranstalter hielten den Startbereich frei, bis es ernst wurde, so war Lotta und ihrem Vater nichts anderes geblieben, als sich einen Platz zum Warten zu suchen, der eine möglichst günstige Ausgangsposition bot.

 

Weil Gina es genauso hielt, begegneten sie sich auf dem Weg zur Startzone und standen schließlich nebeneinander in der ersten Reihe. „Viel Glück!“, sagte Gina. „Auf ein gutes Rennen!“ Sie lächelte dabei, und Lotta wusste, dass sie es ehrlich meinte. Natürlich wollte Gina gewinnen, aber sie war eine faire Sportlerin. „Ja, auf ein gutes Rennen“, antwortete Lotta. „Dir auch viel Glück.“ Auch sie meinte es so, wie sie es sagte, und wenn Gina sie schlug, würde sie das akzeptieren, auch wenn sie bis zur Ziellinie alles geben würde, um es zu verhindern.

 

Sie sah, dass ihr Vater das kurze Gespräch bemerkt hatte und es argwöhnisch beobachtete. Sie wusste, dass es ihm nicht gefiel, sie sollte sich auf sich konzentrieren und sich nicht in die Karten schauen lassen. Als ob sie das nicht trennen konnte! Sie war doch keine Anfängerin mehr! Außerdem kannte sie Gina inzwischen so lange, sie wusste, dass die nicht versuchen würde, derart hinterlistig ihre Schwächen auszuforschen.

 

***

 

Lotta kam gut weg und hielt sich vom Start weg in der Spitzengruppe. Insgesamt gingen rund 60 Fahrerinnen auf die Strecke, ein knappes Dutzend setzte sich etwas vom Feld ab. Die meisten aus dieser Gruppe kannte Lotta flüchtig, sie waren alle schon lange dabei und fuhren die meisten Rennen in der Region mit. Aber sie waren doch eine Liga unter ihr und Gina, deshalb war die Konkurrenzsituation nicht zu vergleichen.

 

Während der Vorsprung auf das Hauptfeld kontinuierlich wuchs, blieb die Spitzengruppe als solche recht eng zusammen. Lotta teilte sich ihre Kräfte ein, und sie sah, dass auch Gina bewusst noch nicht versuchte, sich abzusetzen. Hinter ihr war eine Fahrerin aus Ostwestfalen, sie versuchte, sich abwechselnd bei Lotta und Gina im Windschatten zu halten. Ein Mädchen, von dem Lotta wusste, dass es aus Leverkusen kam, obwohl es für einen Verein aus Ratingen fuhr, wagte einen halbherzigen Ausbruchsversuch, brach aber nach wenigen hundert Metern ab.

 

Zur Hälfte der Strecke zog Lotta das Tempo etwas an. Es war kein regelrechter Ausbruchsversuch, nur das kleine bisschen mehr, das die anderen – außer Gina natürlich – nicht auf Dauer würden mitgehen können. Die meisten blieben deshalb auch bei ihrem Tempo, nur Stacy Günzel, die irgendwo am Niederrhein zu Hause war, versuchte, sich dranzuhängen. Und Gina natürlich, sie nahm Lottas Temposteigerung als Signal, ebenfalls etwas fester in die Pedale zu treten. Lotta nahm aber an, dass sie von vornherein so geplant hatte, sie kannte Gina lange genug, um deren Taktik einzuschätzen. Auch deshalb war es zwecklos, vor dem Start einen auf emotionale Eiszeit zu machen, sie fuhren zu lange gegeneinander, um sich noch gegenseitig überraschen zu können.

 

Über eine Strecke von vier oder fünf Kilometern arbeiteten sie sich zu dritt einen Vorsprung gegenüber den Verfolgerinnen aus der Spitzengruppe heraus. Es waren wohl schon einige Minuten, die sie der Spitzengruppe voraus waren, schätzte Lotta, und sie nahm an, dass die wiederum mindestens genauso viel Vorsprung auf das Hauptfeld hatte. Nachprüfen konnte sie es nicht, sie hatte keine Verbindung zu ihrem Vater, über die er ihr ihre Zeit und die der anderen hätte mitteilen können. Auch die Veranstalter hatten keine Displays aufgestellt, um den Fahrerinnen die Zwischenzeiten anzuzeigen. Nur Schilder mit der verbleibenden Entfernung zum Ziel gab es hin und wieder.

 

Noch dreizehn waren es, als Stacy zurückfiel. Sie hatte viel investiert, aber Lotta und Gina hatten keine Schwäche gezeigt. Jetzt musste Stacy eine Entscheidung treffen, ob sie alles auf eine Karte setzten wollte, und entschied sich für das, was realistisch war. Sie konzentrierte sich darauf, den bis jetzt gegenüber den nächsten Verfolgerinnen herausgefahrenen Vorsprung zu halten, um so am Ende den dritten und letzten Podestplatz zu sichern. Dass sie weiter darauf hoffte, dass Lotta und Gina schwächelten, war klar, aber das würde ihr nur etwas nützen, wenn sie selbst dann noch etwas zuzusetzen hatte.

 

Lotta war entschlossen, es nicht dazu kommen zu lassen. Sie fühlte sich gut, sie hatte gut trainiert in den letzten Wochen und war nach der Verletzung im Sommer wieder bei hundert Prozent angekommen. Natürlich spürte sie die gefahrenen Kilometer, aber das war normal. Es gab keinen Grund, zu befürchten, dass ihr auf den letzten Metern die Kraft ausgehen würde. Sie würde das Tempo halten und im richtigen Moment noch einmal zulegen.

 

***

 

Zehn Kilometer vor dem Ziel schienen Lotta und Gina ungefährdet den ersten beiden Plätzen auf dem Siegertreppchen entgegenzufahren. Der Vorsprung war beträchtlich, soweit sie das einschätzen konnten, selbst Stacy war zu weit hinter ihnen, um sie noch im Endspurt abzufangen.

 

Auf einer kurvigen Landstraße passierten sie das Ortsschild ihrer Heimatstadt. Zu beiden Seiten erstreckten sich Felder, bis zu den ersten Siedlungen am Stadtrand war es bestimmt noch ein Kilometer. Leichter Nebel waberte über den Äckern, und nichts war zu hören außer dem Sirren der Reifen, dem keuchenden Atem und ein Stück vor ihnen das Summen des elektrisch betriebenen Führungsfahrzeugs.

 

Im Moment hatte Gina einige Meter Vorsprung, aber das hieß nichts. Lotta kannte das schon, auch bei anderen Rennen, die sie gegeneinander gefahren waren, war es so gewesen. Mal war sie einen Hauch vorne, mal Gina, es wechselte auch während eines Rennens, und es war nur die Frage, wer am Ende zur richtigen Zeit in den Schlussspurt ging.

 

Vorne am Führungsfahrzeug wurde das Fenster auf der Beifahrerseite heruntergelassen. Lotta dachte sich nichts dabei, vielleicht brauchten die beiden Männer da drin einfach frische Luft. Doch dann kam eine Hand aus dem Fenster und warf irgendwas nach draußen. „Ferkel!“, ging es Lotta durch den Kopf. Was genau der Beifahrer auf die Straße entsorgt hatte, hatte sie nicht erkennen können, sie tippte auf eine Zigarettenkippe. Bescheuert war es auf jeden Fall.

 

Gina war wohl nicht gefährdet, getroffen zu werden, das Führungsfahrzeug war weit genug vor ihr. Trotzdem wich Gina aus, im Grunde war das richtig. Auch ein kleiner Gegenstand konnte die dünnen Rennradreifen aus der Spur bringen, und wenn es keine Kippe war, sondern etwas Scharfes, konnte der Reifen auch kaputtgehen. Das würde richtig Ärger geben für den Beifahrer, der damit ja auch auf eine nicht hinnehmbare Weise ins Rennen eingriff. Gina musste von der Ideallinie weggehen, durch das instinktive Ausweichmanöver geriet sie in der gezogenen Linkskurve, die die Straße an dieser Stelle machte, weit nach rechts. Davon hätte Lotta profitieren können, sie war weit genug weg, um den weggeworfenen Gegenstand rechtzeitig einzukalkulieren; so hätte sie mit allenfalls minimalem Ausweichen an der Kurveninnenseite bleiben und einige Meter gutmachen können.

 

Dass sie das so oder so nicht ausgenutzt hätte, weil es unfair gewesen wäre, würde nie jemand erfahren, denn im nächsten Augenblick war die Überlegung Makulatur. Gina rutschte das Rad unter dem Körper weg, beide Räder brachen ohne Vorwarnung nach rechts, zum Fahrbahnrand hin, aus. So schnell konnte Gina gar nicht darauf reagieren, sie stürzte, kam zuerst mit dem Knie auf und krachte dann schwer auf die Hand, mit der sie den Sturz reflexhaft abfangen wollte.

 

Dass sie das Knacken der Knochen hörte, bildete Lotta sich vielleicht nur ein, aber dass Gina diesen Sturz mit einem gebrochenen Handgelenk bezahlt hatte, stand für sie außer Zweifel. Dafür brauchte es nicht erst den Schmerzensschrei von Gina, die liegen blieb, wie sie aufgekommen war, und mit der rechten Hand das Gelenk der linken umklammerte.

 

Das begreifen und handeln waren eins. Lotta zog die Bremsgriffe durch und löste mit einer Fußdrehung die Rasten, die die Schuhe mit den Pedalen verbanden. Sie schob das Rad zum Straßenrand, legte es ins Gras und lief weiter zu Gina. Dabei erkannte sie, was ihrer stärksten Konkurrentin zum Verhängnis geworden war: Ein schmaler Streifen am Straßenrand war mit Raureif überzogen und höllisch glatt. Offenbar hatte das Streufahrzeug in der Kurve den Straßenrand nicht erwischt, und entweder hatte der Fahrer es nicht bemerkt, oder er hatte gedacht, dass es egal war, weil die Ideallinie ohnehin auf der anderen Straßenseite lag.

 

Für den Moment war zweitranging, warum nicht gestreut worden war. Lotta arbeitete sich zu Gina vor und ging dabei im Gras neben der Straße, um nicht selbst auszurutschen. Die Radschuhe waren nicht fürs Laufen gemacht, die Sohle aus Hartplastik und Metall bot keinen verlässlichen Halt.

 

Vorsichtig hob Lotta Ginas Rad an, zog es zwischen Ginas Beinen weg und legte es zur Seite. Zum Glück war das Rad wie die meisten Rennräder auf ein geringes Gewicht optimiert, sonst hätte Lotta es kaum geschafft, ohne Gina noch zusätzlich wehzutun. Mühsam setzte Gina sich auf, gestützt von Lotta, die aufpasste, dass ihre Konkurrentin sich nicht versehentlich auf die verletzte Hand stützte.

 

Schließlich saß Gina einigermaßen bequem, und Lotta überlegte, was sie nun tun sollte. Natürlich hatte sie kein Handy bei sich, konnte also auch nicht um Hilfe telefonieren. Hatten die Leute aus dem Führungsfahrzeug wenigstens gemerkt, was sie angerichtet hatten, und angehalten? Sonst hatte sie nur noch die Wahl, Gina zurückzulassen, um zum nächsten Haus zu fahren, oder eine der anderen Fahrerinnen anzuhalten.

 

Sie schaute die Strecke entlang und sah, dass das Führungsfahrzeug angehalten hatte. Die beiden Männer hatten also zumindest gesehen, dass sie die Fahrerinnen abgehängt hatten, und warteten, dass sie wieder aufschlossen. Wahrscheinlich hatten sie auch den Sturz gesehen, ein Auge mussten sie ja zwangsläufig auf den Rückspiegel haben, aber vielleicht schätzten sie die Lage nicht so dramatisch ein und dachten, Gina könnte nach einer kurzen Pause weiterfahren.

 

Mit einer Hand winkte sie in Richtung des Fahrzeugs, dass jemand kommen sollte, während sie gleichzeitig schaute, welche Mittel sie hatte, um Gina zu helfen. Aus einem Erste-Hilfe-Kurs in der 4. Klasse wusste sie, dass das verletzte Gelenk stabilisiert werden musste, aber womit? Sie hatte nichts dabei, was sich dafür geeignet hätte.

 

Während sie noch überlegte, näherte sich aus der Richtung, aus der sie und Gina gekommen waren, eine einsame Radfahrerin. Stacy! Sie hatte in der Zwischenzeit vielleicht eine Minute Rückstand angesammelt auf das bisherige Spitzenduo, mehr Zeit konnte nicht vergangen sein seit Ginas Sturz, auch wenn es sich anders anfühlte. Von den übrigen Verfolgerinnen war noch nichts zu sehen, offensichtlich hatte Stacy den Vorsprung auf die Plätze vier und weiter halten können.

 

Stacy sah die beiden Konkurrentinnen am Straßenrand sitzen und verlangsamte ihre Fahrt. „Vorsicht!“, rief Lotta ihr zu. „Am Rand ist’s glatt!“ „Hat’s dich deswegen runtergehauen?“, fragte Stacy, als sie Lotta und Gina erreicht hatte. Gina nickte mit zusammengebissenen Zähnen. „Sie hat sich die Hand gebrochen“, erklärte Lotta. „Kannst du denen da im Auto sagen, sie sollen kommen? Scheint so, als hätten sie nicht gemerkt, dass Gina verletzt ist.“ „Das müssten sie doch gesehen haben!“, wunderte Stacy sich. „Okay, ich schicke sie her.“ „Danke“, sagte Lotta. „Du brauchst dann auch nicht zurückzukommen, es reicht, wenn das Rennen für uns gelaufen ist.“ „Sicher?“, fragte Stacy, sichtlich hin- und hergerissen. Es war ihre Chance, ein Rennen ganz vorne zu beenden, aber sie wollte fair gewinnen. „Du kannst nichts dafür“, betonte Lotta, der es an Stacys Stelle sicherlich ähnlich gegangen wäre. „Du musst nicht verzichten, und wir kommen zurecht.“

 

Stacy nickte und machte sich auf den Weg. Als sie sich dem Führungsfahrzeug näherte, fuhr es wieder an, Fahrer und Beifahrer hatten offenbar tatsächlich nichts begriffen. Aber Stacy rief und winkte, dass sie anhalten sollten, und schließlich trat der Fahrer auf die Bremse. Zum Glück war Stacy schräg hinter dem Auto, sonst wäre sie womöglich noch ins Heck geknallt. Schlitternd hielt sie an der Beifahrerseite, und Lotta sah, wie sie mit dem Mann dort sprach. Es zog sich, Lotta wusste nicht, ob die beiden Männer nicht begriffen, oder ob sie nicht wussten, wie sie ihrer Verantwortung gerecht werden sollten.

 

Dann endlich stieg der Beifahrer aus, wobei er fast noch Stacy die Tür vor die Brust knallte. Er war echt ein Anfänger, und kurz fragte Lotta sich, ob es nicht doch besser wäre, Gina ohne seine Hilfe zu versorgen. Sie sah, dass Stacy noch einmal in ihre Richtung schaute, wie, um sich zu vergewissern, dass es wirklich in Ordnung war, wenn sie weiterfuhr und das Rennen gewann. Sie nickte und lächelte leicht, ja, es war okay.

 

Noch etwas zögernd nahm Stacy wieder Tempo auf. Auch der Führungswagen fuhr wieder an, nachdem der Beifahrer noch einen Rucksack mit Erste-Hilfe-Material von der Rückbank geklaubt hatte. Er setzte sich vor Stacy und entfernte sich zügig.

 

Das bedeutete, dass Gina einige Zeit würde warten müssen, bis sie abgeholt wurde, denn das nächste Begleitfahrzeug war hinter der allerletzten Fahrerin, und erfahrungsgemäß gab es immer die eine oder andere, die dem Feld weit hinterherhing. Oder wollte der Beifahrer einen Rettungswagen rufen? Ins Krankenhaus musste Gina auf jeden Fall, damit die Hand geröntgt und fachgerecht behandelt wurde.

 

Eine große Hilfe war der Mann Lotta nicht. Vielleicht kam es ihr auch nur so vor, weil sie immer noch stinkig war wegen seines Umweltfrevels, der das Unglück überhaupt erst ausgelöst hatte. Immerhin hatte er genug Mullbinden im Rucksack, um die verletzte Hand zu schienen. Allerdings fehlte es an einem langen, festen Gegenstand, den man als Schiene benutzen konnte, da war nichts Passendes im Rucksack, und auf dem Acker brauchte man wohl auch nicht nach einem Stock zu suchen. Doch Lotta hatte eine Idee, sie nahm ihre Wasserflasche aus der Halterung am Rahmen ihres Fahrrads. Die hatte nicht die optimale Form, aber Lotta schaffte es, sie so an Ginas Arm zu fixieren, dass das Gelenk nicht mehr bewegt werden konnte.

 

Der Mann aus dem Begleitfahrzeug kam immerhin auf die Idee, eine dieser Foliendecken herauszukramen, die dazu dienten, Verletzte vor Unterkühlungen zu bewahren. Die konnten Lotta und Gina brauchen, sie waren mit Radlerhose und Trikot nur leicht bekleidet, und nach 30 Kilometern Radrennen waren sie natürlich auch durchgeschwitzt. Noch wirkte die Anstrengung nach und hielt die Mädchen warm, aber das würde sich schnell ändern.

 

Lotta breitete die Decke auf dem Boden aus, sodass sie und Gina einen Rand als Unterlage unter dem Po nutzen konnten. Sie rückte dicht an Gina heran, dicht wie an eine gute Freundin, so hatten beide Platz unter der Folie und konnten sich sogar gegenseitig etwas wärmen.

 

Während sie sich so gut wie möglich einkuschelten, rauschte die Spitzengruppe an ihnen vorbei. Lotta schaute kaum auf, bekam aber mit, wie zwei Mädchen einen Sprint anzogen, sowie sie die Situation erfassten. Der Gedankengang war klar: Für Lotta und Gina war das Rennen gelaufen, das hieß, dass nun Stacy die Führende war, und sie abzufangen, lag eher im Bereich des Möglichen. Sollten sie, für Lotta ging es in diesem Moment nur um Gina.

 

Für den Beifahrer des Begleitfahrzeugs gab es nicht mehr viel zu tun. Immerhin rief er die Rennleitung an, um sie über den Unfall zu verständigen. Die Rennleitung würde wiederum Ginas Trainer informieren, und Lotta rief dem Mann zu, dass sie am Start und Ziel nicht vergessen sollten, auch ihrem Vater Bescheid zu sagen, dass sie bei Gina blieb. Danach hieß es warten.

 

***

 

Die Veranstalter dachten mit. Statt Lotta und Gina auf das Begleitfahrzeug hinter den letzten Fahrerinnen warten zu lassen, schickten sie einen Wagen auf dem kürzesten Weg zum Unfallort. Es dauerte etwas über zehn Minuten, bis ein Kompaktwagen über einen Feldweg gerumpelt kam, der eigentlich nur für landwirtschaftliche Fahrzeuge freigegeben war, und auf die Landstraße einbog. Gleich darauf hielt er bei den beiden Mädchen.

 

Am Steuer saß eine Frau um die dreißig, wahrscheinlich eine Helferin, die man woanders abgezogen hatte. Das Auto war vermutlich ihr privates und auf jeden Fall zu klein, um die Räder mitzunehmen. Das machte aber nichts, wichtig war, dass Gina schnell zu einem Arzt kam. Selbst Lotta hätte nicht unbedingt mitfahren müssen, sie hätte auch weiterradeln können, entweder auf der Rennstrecke oder auf dem direkten Weg. Aber sie fand es besser, Gina nicht allein zu lassen, und die Frau, die sie abholte, Mareike hieß sie, war einverstanden. Die Fahrräder würde das letzte Begleitfahrzeug einsammeln, der Beifahrer des Führungsfahrzeugs „durfte“ sie so lange bewachen.

 

Mareike bemühte sich um eine erschütterungsfreie Fahrt, damit Gina keine zusätzlichen Schmerzen leiden musste. Ganz vermeiden ließ es sich leider nicht, einige Straßenstücke waren so krumm und buckelig, dass Mareike unmöglich allen Unebenheiten ausweichen konnte. Aber Gina biss die Zähne zusammen, mehr als ein schmerzliches Zischen kam ihr nicht über die Lippen, und das auch nur, als Mareike aufgrund der Lichtverhältnisse eine Kante im Asphalt übersah. Lotta fand, dass Gina sich tapfer hielt, die Schmerzen im Handgelenk mussten doch beträchtlich sein.

 

Am Start und Ziel des Rennens wurde Gina bereits erwartet. Man hatte einen Parkplatz freigehalten für Mareike, sodass Gina nicht elend weit laufen musste, und als Mareike den Wagen in die Parklücke rangierte, eilten Ginas Eltern und auch ihr Trainer heran. Ginas Mutter schien sich auf Gina stürzen und sie in die Arme schließen zu wollen, erinnerte sich aber gerade noch rechtzeitig daran, dass das Ginas Handgelenk nicht guttun würde. Also legte sie Gina nur ganz vorsichtig einen Arm um die Schultern. „Was ist passiert?“, fragte sie besorgt. „Weggerutscht“, antwortete Gina knapp. „Da ist was aus dem Auto vor uns geflogen, ich wollte ausweichen.“ „Aus dem Begleitauto?“, hakte ihr Trainer nach. „Unmöglich!“ „Ich hab’s gesehen“, sprang Lotta Gina bei. „Der Beifahrer hat was aus dem Fenster geworfen. Gina ist nach ganz rechts rüber, und da am Rand war die Straße glatt.“

 

Ginas Trainer warf ihr einen Blick zu, der einen leichten Unwillen nicht verbergen konnte. Dass sich ausgerechnet die schärfste Konkurrentin nach dem Sturz um Gina gekümmert hatte, passte ihm nicht, aber er konnte schwerlich etwas dagegen sagen. „Wenn das stimmt“ – was sollte der Zweifel, Lotta wusste, was sie gesehen hatte? – „dann muss ich mit der Rennleitung reden, damit sie den Mann abziehen“, sagte er. „Das ist unverantwortlich. Und sie müssen Gina als Siegerin werten, sie war klar vorne.“ „Charlotte war nur ganz knapp hinter mir“, korrigierte Gina ihn sofort. „Du kannst nicht wissen, ob ich gewonnen hätte oder sie.“ „Ist doch jetzt egal!“, ging Ginas Vater dazwischen. Der Trainer hatte ihn offenbar für einen Moment überrumpelt, jetzt rückte er die Prioritäten zurecht. „Wir bringen Gina ins Krankenhaus, alles andere kann man später klären.“ „Wohin bringen Sie sie?“, fragte Lotta spontan. Ginas Vater überlegte kurz. „Elisabeth-Klinikum“, sagte er dann. „Ist von hier aus am nächsten.“ Warum Lotta das wissen wollte, fragte er nicht, und genau wusste sie es selbst nicht. „Mach’s gut!“, sagte sie noch zu Gina. „Ich hoffe, du bist schnell wieder gesund.“

 

***

 

Das Rennen lief noch. Den Sieg hatte Stacy eingefahren, und auch die Platzierungen dahinter standen fest, aber einige Nachzüglerinnen waren noch auf der Strecke.

 

Lotta schlängelte sich zum Start- und Zielbereich durch, suchte und fand Stacy, die ausgepumpt auf dem Bordstein hockte, und gratulierte ihr zum Sieg. „Danke“, sagte Stacy und lächelte schwach. „Weiß selbst noch nicht, ob ich mich freue, irgendwie schon, aber ich hätte nicht gewonnen, wenn Gina nicht diesen Unfall gehabt hätte. Wie geht’s ihr?“ „Sie ist auf dem Weg ins Krankenhaus“, antwortete Lotta. „Aber ich glaube, es ist nicht allzu schlimm.“

 

Sie verabschiedete sich von Stacy und suchte ihren Vater. Sie hatte so eine Ahnung, dass sie ihn in der Nähe der Rennleitung finden würde, weil dort eventuelle Nachrichten einlaufen würden. Außerdem hatte er so keinen langen Weg, wenn er die Wertung des Rennens beanstanden wollte. Lotta vermutete, dass er da ganz ähnliche Gedanken hatte wie Ginas Trainer, aber das würde sie ihm austreiben. Klar, sie und Gina waren weit vor den anderen gewesen, es sprach viel dafür, dass sie den Sieg unter sich ausgemacht hätten, aber eine Garantie gab es nicht dafür. Sie hätte auch selbst noch einen Unfall haben oder schlicht und ergreifend abbauen können, sodass sie doch noch abgefangen wurde. Sie hatte das Rennen abgebrochen, um Gina zu helfen, also fiel sie aus der Wertung, Punkt.

 

Tatsächlich fand sie ihren Vater wenige Schritte von dem zu einer Seite offenen Zelt entfernt, in dem die Rennleitung untergebracht war. Er entdeckte sie ihm gleichen Moment und schaute ihr verärgert entgegen. „Schöner Mist!“, empfing er sie. „Warum bist du nicht weitergefahren?“ „Weil Gina Hilfe gebraucht hat“, antwortete Lotta. „Ich kann sie doch nicht einfach liegen lassen!“ „Hätte sie das für dich auch gemacht?“, sagte ihr Vater. „Bestimmt nicht! Auf der Strecke ist jeder für sich selbst verantwortlich. Du hättest weiterfahren müssen! Einen Rennsieg wirft man nicht einfach weg! Außerdem war doch das Begleitfahrzeug da!“ „Der Blödmann im Auto war doch schuld, dass Gina gestürzt ist“, gab Lotta zurück. „Trotzdem“, beharrte ihr Vater. „Du kümmerst dich um dich, um nichts anderes! Wenn du keinen Ehrgeiz hast, kannst du auch gleich aufhören.“ „Natürlich hab ich Ehrgeiz!“, verwahrte Lotta sich. Der Vorwurf traf sie, aber gleichzeitig hatte sie dieses übertriebene Konkurrenzdenken so satt. „Aber ich will nicht um jeden Preis gewinnen. Nicht, indem ich einfach vorbeifahre, wenn jemand Hilfe braucht.“

 

Damit wandte sie sich ab, ihr Vater sollte nicht sehen, dass die Wut ihr Tränen in die Augen steigen ließ. „Ich fahre allein nach Hause!“, sagte sie noch, dann ließ sie ihren Vater stehen.

 

***

 

Am späten Vormittag war Lotta wieder zu Hause. Sie hatte noch die Siegerehrung abgewartet, dann hatte sie sich aufs Rad geschwungen. Obwohl ihr das zu drei Vierteln gefahrene Rennen in den Beinen steckte, hatte es sie nicht auf kürzestem Weg nach Hause gezogen. Lieber war sie noch ein bisschen durch die Gegend geradelt, in lockerem Tempo, und als sie am Bahnhof vorbeigekommen war, hatte sie sich spontan einen Kakao geholt.

 

Natürlich versuchte ihr Vater, noch einmal mit ihr über das Rennen zu sprechen, aber sie würgte ihn kurzerhand ab. Sie wusste, dass sie bis zu Ginas Sturz ein gutes Rennen gefahren war, mit guten Aussichten, sich am Ende gegen Gina durchzusetzen und den Pokal zu holen. Aber es war richtig gewesen, nicht weiterzufahren, davon war sie überzeugt; bei allem Ehrgeiz, das Beste aus sich rauszuholen und die bestmöglichen Platzierungen einzufahren, gab es Dinge, die wichtiger waren. Anders als ihr Vater glaubte sie auch nicht, dass Gina umgekehrt anders gehandelt hätte. Sie kannte ihre Konkurrentin nun schon so lange, und auch wenn die Erwachsenen die Konkurrenz in den Vordergrund stellten, gab es die kleinen Momente, die Lotta sagten, dass Gina in Ordnung war. Auch Gina wollte gewinnen, und sie war bereit, sich dafür zu plagen, aber nicht um jeden Preis.

 

Nach dem Mittagessen fuhr Lotta wieder los, diesmal allerdings mit ihrem City Bike, das sie privat benutzte. Das Rennrad hatte weder Beleuchtung noch Reflektoren oder eine Klingel, eigentlich hätte sie damit gar nicht nach Hause fahren dürfen. Zügig radelte sie durch die Straßen, auf denen am zweiten Weihnachtsfeiertag nicht viel los war, und bog schließlich in die Zufahrt zum Elisabeth-Klinikum ein. Hier musste sie aufpassen, offenbar besuchten viele Freunde oder Verwandte, die das Pech hatten, die Feiertage im Krankenhaus verbringen zu müssen. Der Parkplatz war rappelsturzvoll, und auf den Fahrbahnen zwischen den Stellplätzen kreisten Autos, die nach einer freien Parklücke suchten.

 

Weil es keinen Fahrradständer gab, kettete Lotta ihr Fahrrad neben dem Eingang an eine Laterne. Sie betrat die Eingangshalle und ging geradeaus zum Infotresen, hinter dem ein älterer Mann Dienst tat. „Guten Tag“, grüßte sie, „ich möchte zu Gina Villa. Auf welcher Station finde ich sie?“ Es war ein Schuss ins Blaue, denn es konnte auch sein, dass Gina direkt nach Hause entlassen worden war, nachdem ihre Hand verarztet worden war. Wenn das der Fall war, würde sie ihren Plan, sie zu besuchen, fallen lassen müssen, denn sie hatte weder Adresse noch Telefonnummer von Gina. Sie hätte höchstens versuchen können, über den Tri-Club an die Telefonnummer des Trainers zu kommen, aber den schätzte sie so ein, dass er lieber seine eigene Existenz verleugnen würde, als ihr zu einem Kontakt mit Gina zu verhelfen.

 

Doch sie hatte Glück, soweit man in diesem Fall davon sprechen konnte: Gina war noch da, auf Station IV. Auf dem Wegweiser sah Lotta, dass das die Kinderstation war, dabei war Gina mit 15 eigentlich kein Kind mehr. Aber eine spezielle Station für Jugendliche gab es wohl nicht, also musste sie entweder zu den Kindern oder auf eine „normale“ Station.

 

Sie nahm die Treppe hoch in den ersten Stock, folgte dort wiederum dem Wegweiser und stand schließlich vor der Tür zur Station. Die Tür war offen, und es stand auch nirgends ein Hinweis, dass Besucher sich zunächst beim Pflegepersonal meldet sollten. Trotzdem spürte Lotta ihr Herz klopfen bis hoch in den Hals, als sie die Station betrat, so, als wäre sie dabei, etwas strickt Verbotenes zu tun. In gewisser Weise war es das auch, ihrem Vater wäre es bestimmt nicht recht gewesen, dass sie Gina im Krankenhaus besuchte, und Ginas Trainer auch nicht. Aber davon wollte sie sich nicht abschrecken lassen.

 

Sie schaute, ob sie Gina irgendwo sah, das Zimmer verlassen durfte sie ja wohl hoffentlich, fand sie aber nicht. Notgedrungen wandte sie sich also an eine Krankenschwester, die im Stationszimmer über irgendwelchen Unterlagen saß, und fragte nach. „Bist du eine Freundin von Gina?“, vergewisserte die Krankenschwester sich, und Lotta nickte. „Charlotte Hagen. Wir fahren zusammen Radrennen.“ Das war nicht mal gelogen, dass sie für verschiedene Vereine fuhren, brauchte die Krankenschwester nicht zu wissen. Wahrscheinlich verließ sie sich ohnehin auf ihr Bauchgefühl. „Ganz hinten links, 1.022!“, sagte sie.

 

Lotta bedankte sich und ging weiter. Das Zimmer war nicht schwer zu finden, die Tür angelehnt. Lotta hörte ein leises Piepsen, aber das schien eher von einem Handy zu kommen als von medizinischen Geräten. Sie klopfte an und wartete, bis von drinnen eine Stimme „Ja!“, rief. Sie war sich nicht sicher, ob es Gina war, aber Gina hätte wohl protestiert, wenn sie etwas dagegen gehabt hätte, dass jemand reinkam.

 

Sie atmete tief durch, öffnete die Tür und trat ins Zimmer. Drei Betten, zwei davon belegt, Ginas Mitpatientin war jünger, höchstens zwölf, und trug ein großes Pflaster auf dem Bauch, wie das hochgerutschte Schlafanzugoberteil offenbarte. Sie schaute Lotta entgegen, stellte dann fest, dass sie die Besucherin nicht kannte, und zockte weiter auf dem Handy.

 

Gina dagegen riss die Augen auf. „Charlotte?“, entfuhr es ihr verdutzt. „Nö“, sagte Lotta trocken. „Lotta reicht. Alles andere kostet zu viel Atem.“ Woher sie die Schlagfertigkeit nahm, wusste sie selbst nicht, aber es war gut, denn es verhinderte, dass Spannung oder Unsicherheit überhaupt erst aufkommen konnte. Die beiden Mädchen lachten, und Lotta erkundigte sich, wie es Gina ging. „Schon okay“, meinte die. „Die Speiche ist durch, ist aber ein glatter Bruch, die Ärzte meinen, dass das schnell heilt. Zwei Wochen Gips und danach noch schonen, wird also wieder.“ „Tut’s noch weh?“, fragte Lotta, aber Gina schüttelte den Kopf. „Wahrscheinlich schon“, antwortete sie, „aber ich merke nichts davon, sie haben mir Tabletten dagegen gegeben.“ „Und wann darfst du nach Hause?“ „Wahrscheinlich morgen schon“, sagte Gina. „Sie gucken sich den Arm noch mal an, und dann schmeißen sie mich raus.“ „Immerhin“, meinte Lotta. „Todlangweilig hier, oder?“ „Geht so“, antwortete Gina. „Ich hab was zu lesen und kann Musik oder Hörbücher hören. Aber ich bin trotzdem froh, wenn ich wieder zu Hause bin.“

 

Das konnte Lotta nachvollziehen. Sie hatte noch nie im Krankenhaus gelegen, hatte aber so eine Ahnung, dass sie jede Minute verflucht hätte. „Musst du hier im Zimmer bleiben?“, erkundigte sie sich. Gina schüttelte den Kopf. „Nein, ich darf raus“, antwortete sie. „Wollen wir rausgehen? Alleine hatte ich keinen Bock, aber …“ „Klar“, sagte Lotta sofort.

 

Sie half Gina, die Schuhe anzuziehen, weil die natürlich mit dem eingegipsten Unterarm gehandicapt war. Auch die Jacke hielt sie ihr hin, sodass Gina mit den Armen leicht hineinschlüpfen konnte. „Schon blöd, dass ich dafür Hilfe brauche“, meinte Gina. „Das ist eigentlich das Schlimmste daran, das stört mich mehr, als dass ich jetzt ein paar Wochen lang kein Fahrrad fahren kann. Das will was heißen.“ „Hauptsache, du wirst wieder gesund“, sagte Lotta. „Aber ich kann’s verstehen, mir würde das auch stinken. Bist du eigentlich sehr traurig, weil du jetzt das Rennen nicht gewonnen hast?“ „Hätte ich vielleicht sowieso nicht“, räumte Gina genauso ehrlich ein wie am Vormittag ihrem Trainer gegenüber. „Du bist wieder komplett fit, das hab ich schon gemerkt.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Passiert ist passiert“, stellte sie sehr richtig fest. „Aber weißt du, was ich toll finde?“ Lotta schüttelte den Kopf. „Dass du bei mir geblieben bist. Du hättest auch weiterfahren und locker den Sieg einfahren können.“ „Dir zu helfen war wichtiger“, betonte Lotta. „Und ich hab’s gern getan. Wenn dein Arm nicht gewesen wäre, dann wäre es fast gemütlich gewesen, so an Weihnachten da draußen, mit dem Nebel über den Feldern. Vielleicht noch Kakao dabei und ein paar Weihnachtsplätzchen …“ „Hört sich nach einem Plan an“, befand Gina. „Nächstes Jahr? Ich meine, am zweiten Weihnachtstag fahren wir bestimmt wieder beim Rennen mit, aber am ersten Weihnachtstag? Bevor ich nachmittags mit meinen Eltern zu Oma und Opa fahre?“ „Meinst du das ernst?“, vergewisserte Lotta sich, und Gina nickte. „Du denkst es doch auch, oder? Dieses ganze Abstand halten und nicht miteinander reden und so, das kommt doch nur von Viktor“, das war ihr Trainer, „und von deinem Vater. So ein Blödsinn! Wir können doch beim Radrennen gegeneinander fahren und trotzdem Freundinnen sein, oder?“ Lotta nickte nur, Gina hatte alles ausgesprochen, was es zu sagen gab. Sie kannten sich ihr halbes Leben lang, vielleicht waren sie schon immer irgendwie Freundinnen gewesen und hatten nur den Anstoß gebraucht, um es zu merken.