Gute Magier sind schwer zu finden. Aber ohne wird es schwer, in der Online-Welt von Lyndarmal Kingdom zu Ruhm und Ehre zu kommen. Deshalb zögern Lukas und Norman auch nicht lange, als sie auf einer fast schon verlorenen Mission auf eine Magierin treffen, die bereit ist, sich ihnen anzuschließen. Keine schlechte Wahl, wie sich schnell zeigt, und das ist das Wichtigste, aber irgendwie fragt Lukas sich doch, wer eigentlich hinter „Dungeanne“ steckt.
Lyndarmal Kingdom war der jüngste Hit unter den Online-Rollenspielen, und das zu Recht: eine riesige Welt, die frei erkundet werden konnte, eine Unzahl von Herausforderungen und eine ausgefeilte Spielstruktur. Neulinge kamen schnell zu ersten Erfolgserlebnissen, die Grundzüge der Steuerung waren leicht zu lernen, und ausgefeilte Combos, also Kombinationen aus mehreren Schlägen oder Zaubern, brauchte es für die ersten Gegner nicht. Aber auch Fortgeschrittene kamen auf ihre Kosten und fanden immer wieder neue, fesselnde Aufgaben.
Lukas und Norman hatten vor knapp zwei Monaten begonnen, Lyndarmal Kingdom zu spielen. Sie waren beide dreizehn, im Sommer in die 8. Klasse gekommen und schon seit der Grundschule eng befreundet. Beide hatten Erfahrung mit anderen Rollenspielen, waren aber keine Hardcore-Zocker, die nichts anderes mehr kannten. Sie spielten zwei- oder dreimal in der Woche, meistens nach dem Abendessen; mit diesem vernünftigen Rahmen waren sie wahrscheinlich der Traum aller Eltern, die Schwierigkeiten hatten, ihre Sprösslinge vom Computer wegzuholen, und die personifizierte Langeweile in den Augen der Vielspieler. Der Grund für die Zurückhaltung war leicht erklärt: Sie hatten auch noch ein Leben in der realen Welt und andere Hobbys.
Gemessen daran hatten sie schon ordentlich upgelevelt, also durch Siege gegen Computergegner und gelöste Rätsel Erfahrungspunkte gesammelt, die ihre Avatare stärker machten. Sie hatten sich abgesprochen, Lukas hatte eine Charakterklasse gewählt, die ihre Stärken vor allem im Nahkampf hatte, Norman dagegen eine, die gut war im Umgang mit Bogen und Armbrüsten. In den Kämpfen, die sie bislang ausgefochten hatten, funktionierte diese Taktik recht brauchbar.
Doch an größere Herausforderungen hatten sie sich noch nicht gewagt. „Wir brauchen unbedingt noch einen im Team“, stellte Lukas fest, als sie den Vorabend in der großen Pause besprachen. Sie hatten sich an den Rand des Schulhofs zurückgezogen, wollten vor allem Steven aus der Parallelklasse aus dem Weg gehen, mit dem zusammen sie Französisch hatten. Steven drängte sich mit dem Team, das er in Lyndarmal Kingdom um sich geschart hatte, gern in fremde Kämpfe, räumte die von anderen so gut wie geschlagenen Gegner ab und klaute so die Erfahrungspunkte. Das war hochgradig verpönt und verstieß sicherlich auch gegen die Regeln, hatte ihm aber bislang noch keine Sperre eingebrockt. Hätte er erfahren, welche Avatare Lukas und Norman gehörten, hätte er sie garantiert gezielt aufs Korn genommen, schon um seinen Anspruch zu untermauern, in der Schule der Spieler mit dem höchsten Level zu sein.
„Definitiv“, pflichtete Norman seinem Freund bei. „Ein Magier wäre gut.“ Er hatte sich umgeschaut, ob niemand mithörte, aber da bestand kein Grund zur Sorge. Links von ihnen spielten ein paar Fünftklässler Fußball, drei gegen drei auf ein Tor, das von einem siebten gehütet wurde. Die bekamen nichts mit, man musste schon hoffen, dass sie wenigstens am Ende der Pause die Klingel wahrnehmen würden. Ein Stück weiter rechts stand Anna, die mit ihnen in eine Klasse ging. Wenn sie etwas aufschnappte, war das nicht weiter schlimm, sie würde niemandem etwas davon erzählen. Sie verbrachte oft die Pausen allein, war zwar nicht unbeliebt, aber schüchtern. Soweit Lukas und Norman wussten, hatte sie eine beste Freundin, die allerdings eine andere Schule besuchte.
Lukas war dasselbe durch den Kopf gegangen wie Norman: In den letzten Kämpfen, die sie in Lyndarmal Kingdom bestritten hatten, hatten sie selbst kräftig einstecken müssen, weil sie stärkere Gegner angegangen waren als zuvor. Die verlorenen Energiepunkte füllten sich zwar von allein wieder auf, aber nur sehr langsam. Das bedeutete nervige Wartezeiten für Lukas und Norman, wenn sie nicht mit unvollständiger Energie in den nächsten Kampf gehen und riskieren wollten, ihn zu verlieren, weil ihre Energiepunkte vor denen des Gegners aufgebraucht waren. Wenn sie Glück hatten, ließ einer der geschlagenen Gegner einen kleinen Heiltrank fallen, man konnte sie auch kaufen, aber das war keine Dauerlösung. Magiercharaktere konnten Heilzauber wirken, das würde das Problem lösen.