Der Job, mit dem Antonia sich etwas zum Taschengeld dazuverdienen darf, verspricht wenig Spannung. Am Institut, an dem ihre Mutter forscht, hilft sie, das Büro eines tödlich verunglückten Professors auszuräumen, sammelt Schreibzeug zusammen und sortiert Bücher. Zufällig stößt sie dabei auf Unterlagen, die der Professor aus gutem Grund sorgfältig weggeschlossen hat. Sie versteht nicht alles, aber genug, um zu erkennen, dass der Professor heimlich an etwas geforscht hat, das ihm offensichtlich wichtiger war als alle offiziellen Aufträge. Ihre Mutter hält das Projekt „Kanoa“ für eine Fantasterei, vielleicht Notizen zu einem Roman, den der Professor schreiben wollte. Doch Antonia folgt ihrem Bauchgefühl und arbeitet sich weiter durch die Unterlagen. Bald ist sie sicher: „Kanoa“ ist real, und mit dem Tod des Professors ist die Sache noch lange nicht zu Ende.
„Toni, kommst du zum Essen?“ Antonia, von fast allen, die sie kannten, nur Toni genannt, stutzte. Die Stimme ihrer Mutter hörte sich merkwürdig an, ohne dass Antonia es richtig einordnen konnte. Dass ihre Mutter gestresst war, wenn sie aus dem Institut kam, in dem sie arbeitete, kam schon mal vor, aber diesmal hörte es sich irgendwie noch mal anders an.
Antonia beeilte sich, aus ihrem Zimmer in die Küche zu kommen, wo sie mit ihrer Mutter zu Abend zu essen pflegte, wenn nicht eine von beiden außer Haus war. Ihre Mutter saß schon am Tisch. Sie hatte Nudeln mit Käse-Sahne-Soße gekocht, auch das war ein Hinweis, dass sie im Stress war. Die Nudeln waren ein Gericht, das schnell gekocht war, wenn die Zeit fehlte, länger am Herd zu stehen. Das hieß nicht, dass Antonia sie nicht mochte, im Gegenteil, aber zusammen mit der Stimme und auch der Miene ihrer Mutter war es an diesem Abend kein gutes Zeichen.
„Alles okay?“, fragte Antonia, während sie sich setzte. Ihre Mutter lächelte schwach. „Kein Grund, dass du dir Sorgen machst“, antwortete sie. „Aber ich bin ein bisschen geschockt …“ Sie schien nicht zu wissen, wie sie es erklären sollte, und suchte einige Augenblicke nach den richtigen Worten. „Sagt dir der Name Pfeiffer was?“, fragte sie schließlich. „Ich glaube, ich hab ab und zu mal von ihm gesprochen.“ Antonia nickte, sie konnte sich erinnern, dass ihre Mutter gelegentlich einen Professor Doktor Pfeiffer erwähnt hatte. Er leitete einen Teilbereich des Instituts, das zu genetisch bedingten Krankheiten forschte. Das Institut gehörte zur Universität der Stadt, und Antonia glaubte, sich zu erinnern, dass Professor Pfeiffer auch Vorlesungen hielt.
„Er ist gestorben“, erklärte ihre Mutter. „Oh!“, entfuhr es Antonia. Sie persönlich hatte keinen Grund, sich betroffen zu fühlen, sie hatte den Professor nur dem Namen nach gekannt. Aber sie konnte sich schon vorstellen, wie ihre Mutter sich angesichts der Nachricht fühlte. „Sehr alt kann er dann aber nicht geworden sein“, vermutete sie. „Ich meine, wenn er noch gearbeitet hat …“ „Täusch dich da mal nicht“, sagte ihre Mutter. „Wir haben Leute, die forschen so leidenschaftlich, dass ich manchmal glaube, sie haben völlig vergessen, dass sie längst in Rente sein könnten. Der älteste ist fast achtzig, wenn ich mich nicht irre.“ „Und Professor Pfeiffer?“, erkundigte Antonia sich. „58 oder 59, glaube ich“, antwortete ihre Mutter. „Genau weiß ich es gar nicht. Es war ein Autounfall.“
Antonia schwieg. Was hätte sie dazu sagen sollen? „Na ja“, sagte ihre Mutter, „du kannst dir vorstellen, dass die Stimmung heute entsprechend war.“ „Hattest du viel mit ihm zu tun?“, fragte Antonia. Ihre Mutter schüttelte den Kopf. „So gut wie gar nicht. Ich glaube, keiner hatte viel mit ihm zu tun. Mitarbeiter hatte er schon seit einer ganzen Weile nicht mehr. Früher hatte er eine Assistentin, aber die ist irgendwann in Mutterschutz gegangen und danach nicht zurückgekommen. Wie lange ist das jetzt her? Oje, zehn Jahre bestimmt, du warst noch klein damals, noch nicht im Kindergarten.“ Dann mussten es sogar schon mehr als zehn Jahre sein, denn Antonia war mit anderthalb Jahren in den Kindergarten gekommen, und vor zwei Wochen war sie dreizehn geworden. Ihre Mutter war damals schon mit ihr allein gewesen, Antonia wusste, dass sie einer kurzen Beziehung entsprungen war, die nicht mal bis zu ihrer Geburt gehalten hatte. Ihren Vater kannte sie nicht, und weil sie es nie anders erlebt hatte, vermisste sie ihn auch nicht. Umso besser war das Verhältnis zu ihrer Mutter.
„Aber ich schätze, ich werde seine Arbeit kennenlernen“, fuhr ihre Mutter fort. „Irgendjemand muss sich ja um sein Labor kümmern.“ „Und diese ‚Irgendjemand‘ bist du“, folgerte Antonia, und ihre Mutter nickte. „Warum?“, wollte Antonia wissen. Ihre Mutter zuckte mit den Schultern. „Frau Rohhofner hat mich gefragt, ob ich mich darum kümmern kann“, erklärte sie. Der Name war Antonia geläufig, es war die Institutsleiterin, also die oberste Chefin ihrer Mutter, sah man ab von den Gremien der Uni. „Sie musste natürlich schnell eine Lösung finden“, fuhr Antonias Mutter fort. „Und so viel Auswahl hat sie nicht, gerade weil Professor Pfeiffer jahrelang allein gearbeitet hat. Er musste natürlich regelmäßig berichten, was er macht, aber das heißt noch lange nicht, dass alle auch wirklich durch die Einzelheiten durchsteigen.“ „Und du kannst das?“, vergewisserte Antonia sich. „Ich hoffe“, antwortete ihre Mutter bedächtig. „Ich werde mich auch erst mal einarbeiten müssen, aber ich denke, wenn er sich halbwegs an die Standards gehalten hat mit der Dokumentation, dann werde ich’s schaffen.“ „Sollst du die Abteilung übernehmen?“, wollte Antonia wissen. Sie wusste nicht, ob sie ihrer Mutter die Daumen drücken sollte, denn sie hatte den Eindruck, dass dieser Professor Pfeiffer ziemlich eigenbrötlerisch vor sich hin gewurstelt hatte. Es schien auch nicht so, als hätten die Ergebnisse seiner Arbeit irgendjemanden besonders interessiert. Wenn es so war, dann würde es kein Aufstieg sein, seinen Posten zu übernehmen, und Antonia wusste, dass ihre Mutter keine Freude an so einer Aufgabe haben würde. „Ich glaube nicht“, beantwortete ihre Mutter die Frage. „Ich schätze eher, dass es keine Nachfolge geben wird. Aber das hängt natürlich auch ein bisschen davon ab, was ich finde, wenn ich das alles sichte.“
***
Eine Woche nach dem Tod des Professors fuhr Antonia nachmittags zum Institut. Sie war lange nicht mehr hier gewesen, weil das Institut nicht für Besucher geschaffen war, schon gar nicht für Kinder. Als sie noch kleiner gewesen war, hatte ihre Mutter sie einige wenige Male mitgenommen, aus der Not heraus, wenn niemand da gewesen war, der auf sie hätte aufpassen können.
Jetzt war die Situation anders und Antonia eine willkommene Hilfe. Es war eine Win-win-Situation: Antonia verdiente sich etwas zum Taschengeld dazu, indem sie half, Professor Pfeiffers Räume auszuräumen, und ihre Mutter hatte den Rücken frei für die Sichtung der wichtigen Unterlagen. Das war ganz im Sinne der Institutsleitung, die den Nachlass schnell aufgearbeitet haben wollte und deshalb bereitwillig das Geld für Antonias Schülerjob ausklinkte.
Das Institut war in einem zweigeschossigen Bau am Rand des Unicampus‘ untergebracht. Von der Wohnung, in der Antonia und ihre Mutter lebten, war das ein ganzes Eck entfernt, aber trotzdem gut erreichbar. Die Uni war gut an den öffentlichen Nahverkehr angebunden, mehrere Linien fuhren in einem teils engen Takt dorthin. Anders wäre es auch gar nicht gegangen, dass Antonia den Job annahm; sie musste ja erst mal zur Schule, wenn ihre Mutter zur Arbeit fuhr, und wenn ihre Mutter lange arbeiten musste, würde sie auch früher Feierabend machen müssen. Mit 13 Jahren war sie gerade eben alt genug, um überhaupt jobben zu dürfen, und die Gesetze zogen enge Grenzen dafür. Ganz davon ab war ihre Mutter auch ganz dankbar, wenn sie aufs Auto verzichten konnte; das schonte das Klima und sparte ihr als Bonus die Parkplatzsuche.
Antonia fuhr direkt von der Schule aus zur Uni. Abgesehen davon, dass sie wirklich neugierig war auf ihre neue Aufgabe, hätte sie von zu Hause aus ohnehin wieder ein Stück Richtung Schule fahren müssen, ehe sie umstieg. Gegessen hatte sie in der letzten großen Pause, das passte ganz gut.
Das Uni-Gelände war groß und unübersichtlich, und von der Bushaltestelle hatte Antonia noch ein Stück zu laufen. Ihre Mutter hatte ihr den Weg beschrieben, und dankenswerterweise war auch irgendjemand auf die Idee gekommen, ein paar Wegweiser aufzustellen. Das Institut war zwar nicht ausgeschildert, dafür aber ein Seminargebäude in unmittelbarer Nachbarschaft. Alles in allem fand Antonia den Weg recht gut und stand um kurz nach drei vor dem Eingang des Instituts.
Ein bisschen mulmig war ihr jetzt schon. Es war das erste Mal, dass sie irgendwo jobbte, und sie hatte keine Ahnung, wie es in so einem Umfeld zuging. Würde sie alles richtig machen?
Sie gab sich einen Ruck und legte den Daumen auf den Klingelknopf. Die Tür war verschlossen, das Institut war eine reine Forschungseinrichtung ohne Kundenkontakt und konnte keine ungebetenen Gäste brauchen.
Es dauerte einen Moment, bis jemand an die Tür kam, ein junger Mann, der keinen Laborkittel trug, sondern ganz normale Kleidung. „Ja, bitte?“, fragte er, aber Antonia hatte das Gefühl, dass er zumindest ahnte, mit wem er es zu tun hatte. Unlogisch war das nicht, hier klingelten bestimmt nicht viele dreizehnjährigen Mädchen an, und Antonia ging davon aus, dass ihre Mutter oder deren Chefin sie angekündigt hatte.
Trotzdem stellte sie sich mit dem kompletten Namen vor. Sie wollte noch anfügen, wessen Tochter und warum sie da war, aber der junge Mann nahm ihr die Mühe ab. „Ich weiß Bescheid“, sagte er lächelnd. „Du sollst deiner Mutter helfen, das Büro von Professor Pfeiffer auszuräumen. Keine schöne Sache, das, aber deswegen musst du dir nicht den Kopf zerbrechen.“ Antonia hoffte, dass die Bemerkung sich auf den Autounfall bezog und nicht auf das, was der Professor hinterlassen hatte, aber ihre Mutter hätte sie wohl zumindest vorgewarnt. Sie war ja schon seit Tagen dabei, die Unterlagen zu sichten, und würde garantiert nicht zulassen, dass Antonia mit ekligem, vielleicht sogar gefährlichem Zeug in Berührung kam. Gut, wenn sie Pech hatte, hatte der Professor Versuchstiere gehalten, und sie musste die Käfige putzen, aber das würde sie aushalten.
Zunächst mal führte der junge Mann sie in ein Büro. Unterwegs stellte er sich vor, er hieß Klaas, war 22 und Assistent der Institutsleitung. In dieser Position arbeitete er hauptsächlich Frau Rohhofner zu, kümmerte sich um ihren Kalender und bereitete ihre Termine vor, unterstützte aber auch die Abteilungsleitungen, sofern die keine eigene Assistenz hatten.
„Setz dich!“, forderte er sie im Büro auf und deutete auf die einzige Sitzgelegenheit, den Stuhl hinter dem Schreibtisch. „Ich sage der Chefin Bescheid, dass du da bist.“ „Nicht nötig!“, antwortete eine Frauenstimme. Als Antonia den Kopf wandte, stand in der eben noch verschlossenen Zwischentür eine Frau in Jeans und T-Shirt, die freundlich lächelte. „Ich hab die Klingel auch gehört.“ Der Tonfall gefiel Antonia, es schien so, als würde es im Institut trotz der ernsten Themen, an denen es arbeitete, im persönlichen Umgang recht locker zugehen.
Frau Rohhofner bat Antonia nach nebenan und bot ihr Platz an. Im Gegensatz zu Klaas hatte sie mehrere Stühle im Büro stehen, nämlich neben dem Schreibtisch einen kleinen Besprechungstisch. Während Antonia sich zögernd setzte, ging die Institutsleiterin an den Schreibtisch und stülpte sich das Headset über, das an einem Haken an einem der beiden Computermonitore ging. „Ilka?“, sagte sie nach ein paar Augenblicken. „Kommst du runter? Deine Tochter ist da.“
„Deine Mutter kommt gleich“, sagte sie zu Antonia, nachdem sie den Anruf beendet hatte. „Sie wird dir alles zeigen, was du wissen musst, damit du loslegen kannst. Um ein paar kleine Formalitäten vorher kommen wir leider nicht drum herum, aber keine Sorge, das ist nichts Wildes.“
Das war es tatsächlich nicht, Antonia bekam einen Arbeitsvertrag und musste unterschreiben, dass sie nichts von dem, was sie über das Institut und seine Arbeit erfuhr, weitererzählen würde. Weil sie noch nicht volljährig war, musste ihre Mutter ebenfalls unterschreiben. Zuletzt bekam Antonia noch einen Ausweis, den sie sich an den Hosenbund heftete, damit jeder erkennen konnte, dass sie berechtigt war, sich im Institut aufzuhalten.
***
Nachdem ihre Mutter sie noch herumgeführt und einigen Kolleginnen und Kollegen vorgestellt hatte, stürzte Antonia sich in die Arbeit. Natürlich konnte sie nicht die Unterlagen sichten, dafür fehlte ihr das nötige Wissen, aber es gab auch genügend Aufgaben, für die sie keine Vorkenntnisse brauchte. Das fing an mit kleinen Dingen wie dem Einsammeln von Stiften, Notizblöcken, Lochern und allem anderen Büromaterial, das über Schreibtische und Regale verstreut war. So etwas war für sich genommen keine große Aufgabe, aber viele kleine Aufgaben läpperten sich auch zusammen.
Mit solchen Tätigkeiten vergingen zwei Nachmittage im Institut. Es war nicht herausfordernd, nicht einmal spannend, aber immerhin wurde es belohnt. Frau Rohhofner – Marina hieß sie mit Vornamen – war offensichtlich zufrieden mit Antonia, und das schlug sich auch im Lohn nieder. Ursprünglich waren 7 Euro Stundenlohn vereinbart gewesen, das lag schon über dem Durchschnitt für Dreizehnjährige, und am Ende des zweiten Arbeitstages erhöhte Marina ihn spontan auf 12 Euro. Das war der Mindestlohn, den sie einer erwachsenen Aushilfe hätte zahlen müssen, allerdings hätte jemand, der älter war, auch länger arbeiten und Aufgaben übernehmen dürfen, die für Antonia tabu waren. Antonia durfte nur zwei Stunden pro Tag arbeiten, aber das reichte, dass sie nach der ersten Woche schon fast zwei Monatstaschengelder verdient hatte. Da war es zu verkraften, dass die Arbeit selbst bislang nicht weiter aufregend gewesen war.
Außerdem hatte ihre Mutter für die neue Woche eine Aufgabe für sie, die interessanter zu werden versprach, als Kleinkram einzusammeln oder Ausschuss der Entsorgung zuzuführen: Sie sollte Professor Pfeiffers Bibliothek sichten. Der Professor hatte in seinem Büro zwei Regale mit Büchern und mehrere Kisten mit Fachzeitschriften. Auch auf dem Schreibtisch und im Labor lagen noch Bücher, die Antonias Mutter nicht unbesehen ins Altpapier werfen wollte. Sie bat Antonia, zunächst mal alle Bücher nur flüchtig durchzublättern, um festzustellen, ob sie aus der Bibliothek ausgeliehen waren oder sonst jemandem zurückgegeben werden mussten. Anschließend sollte sie versuchen, veraltete Ausgaben auszusortieren, ihre Mutter hatte schon dafür gesorgt, dass sie dafür einen Computer bekam, um im Internet den Katalog der Nationalbibliothek abfragen zu können.
Antonia machte sich mit Eifer an die Arbeit. Buch um Buch nahm sie aus dem Regal, schaute auf dem Inneneinband vorne und hinten nach Bibliotheksstempeln, Widmungen oder anderen Hinweisen auf einen fremden Besitzer, und stellte es wieder zurück.
So viele Bücher! Ob der Professor die wohl alle gelesen hatte? Wahrscheinlich nicht, vermutete Antonia, sonst wäre er zu nichts anderem mehr gekommen. Schließlich waren das Fachbücher, der Inhalt hoch kompliziert, das las sich nicht so schnell weg wie ein Abenteuerroman. Antonia hatte ab und an mitbekommen, wie ihre Mutter das machte, sie nutzte solche Bücher als Nachschlagewerke, wie ein Lexikon.
Auf jeden Fall hatte er nicht nur gelesen, das sah Antonia, als sie die ersten Bücher vom zweiten Regalboden nahm. Sein Name stand auf dem Einband, teils allein, teils als einer von mehreren. Die Titel hörten sich kompliziert an, mit Fachwörtern, die Antonia nichts sagten. Aber Professor Pfeiffer musste Ahnung von seinem Fach gehabt haben, denn Antonia fand fast zwanzig Bücher, die er allein oder zusammen mit anderen geschrieben hatte. Manche davon trugen unter dem Titel einen Zusatz, dass es sich um eine aktualisierte Neuauflage handelte, bei einem war es die 23. Antonia wertete das als Beweis, dass die Bücher etwas taugten, denn sonst wären sie bestimmt nicht so oft neu aufgelegt worden, sondern schnell in der Versenkung verschwunden.
Der nächste Regalboden hatte eine Glastür, die abgeschlossen war. Einen Schlüssel sah Antonia nicht, er steckte nicht im Schloss und lag auch nicht auf dem Brett darunter oder darüber. „Weißt du, wo der Schlüssel ist?“, fragte sie ihre Mutter. „Oder soll ich die erst mal auslassen?“ „Keine Ahnung“, antwortete ihre Mutter. „Schau mal nach, ob du den Schlüssel findest, vielleicht im Schreibtisch. Wenn er nicht da ist, müssen wir den Schrank aufbrechen.“ „Du meinst, die Scheibe einschlagen?“, wunderte Antonia sich. Ihre Mutter zuckte mit den Schultern. „Wenn wir Pech haben, hat er den Schlüssel bei sich“, sagte sie. „Dann kommen wir da so schnell nicht dran, wenn überhaupt noch. Aber einen Hammer braucht’s nicht, im schlimmsten Fall einen Glasschneider.“
Antonia nickte und machte sich auf die Suche. Im Schreibtisch lagen einige Schlüssel, das hatte sie gesehen, als sie das Schreibzeug herausgekramt hatte. Falls von denen keiner passte, würde sie alle Schlüssel durchprobieren, die sie sonst noch im Büro oder im Labor fand.
Doch die Mühe war vergebens, keiner der Schlüssel aus der Schreibtischschublade passte, und sonst fand Antonia nur noch zwei Schlüssel, die im Labor in zwei Schranktüren steckten. Auch sie passten nicht ins Schloss des Bücherregals, Antonia hatte auch nicht damit gerechnet.
Allerdings hatte sie bei der Ausprobiererei den Eindruck gewonnen, dass das Schloss kein Exemplar der höchsten Sicherheitskategorie war. Der Verschlussmechanismus bestand offenbar nur aus einem Drehriegel, der sich mit dem Schließzylinder drehte und beim Abschließen in eine Aussparung in der Regalwand senkte. Antonia war alles andere als eine erfahrene Einbrecherin, im Gegenteil, sie hatte noch nie ein Schloss aufgebrochen, aber sie beschloss, ihr Glück zu versuchen.
Dafür brauchte sie auf jeden Fall etwas, das einerseits schmal genug war, um es zwischen Scheibe und Regalwand durchzuschieben, aber andererseits stabil genug, um den Riegel hochzudrücken. Zunächst überlegte sie, eine Büroklammer zurechtzubiegen, doch als sie in die Plastikbox mit dem gesammelten Büromaterial griff, fiel ihr Blick auf ein Bündel Heftstreifen, und sie hatte eine bessere Idee. Der Metallstreifen darin, der die Papiere zusammenhielt, war länger als eine aufgebogene Büroklammer, und bestimmt auch stabiler, damit würde es leichter gehen.
Antonia versuchte es, aber es war doch schwieriger, als sie es sich vorgestellt hatte. Im Film sah das so leicht aus, ein bisschen prockeln, und schon war das Schloss auf. Aber die Scheibe stieß direkt an die Regalwand, und Antonia hatte einige Mühe, ihr primitives Werkzeug dazwischenzuquetschen. Irgendwann schaffte sie es, aber der Druck auf den Metallstreifen war zu hoch, es gelang ihr nicht, ihn nach oben zu schieben gegen den Riegel. Mist, sie brauchte etwas, um den Spalt zwischen Scheibe und Holz zu weiten! Sie überlegte kurz, dann lief sie in die Teeküche und holte sich ein Buttermesser aus der Besteckschublade. Das war stabil genug, um die Scheibe eine Winzigkeit wegzuhebeln, gerade genug, dass der Metallstreifen ausreichend Spielraum hatte. Jetzt war es wirklich ein Kinderspiel, und ein paar Augenblicke später konnte sie die Scheibe öffnen.
„Ich hab’s!“, sagte sie zu ihrer Mutter, die sich die ganze Zeit schon durch irgendwelche Unterlagen wühlte. Von Digitalisierung schien Professor Pfeiffer nicht viel gehalten zu haben, Aktenordner hatte er noch mehr als Bücher. Ihre Mutter schaute auf und sah die behelfsmäßigen Einbruchswerkzeuge, die Antonia noch in der Hand hielt. „Du hast das Schloss geknackt?“, wunderte sie sich. „Damit?“ Antonia nickte. „War gar nicht schwer“, versicherte sie, „nur ein ganz simples Metallding, das ich wegschieben musste.“ „Zum Glück!“, meinte ihre Mutter, halb im Scherz. „Wenn’s schwer gewesen wäre, dann müsste ich mir Sorgen machen, woher du das kannst. Du brauchst das auch gar nicht weiter zu üben, okay?“ Antonia grinste. „Wer weiß, wie viele Schlösser ohne Schlüssel ich hier noch finde“, gab sie trocken zurück. „Aber keine Sorge, Einbrecherin werde ich nicht. Da müsste ich ja jedes Mal mit schwerem Gepäck rennen, wenn ich anschließend abhaue.“ Sie ging regelmäßig in die Kletterhalle und war auch sonst nicht unsportlich, aber trotzdem.
Während ihre Mutter sich wieder ihrer Arbeit zuwandte, begann Antonia, den Inhalt des geöffneten Regals zu sichten. Es waren nur wenige Bücher, die hier standen, und ein bisschen wunderte sie sich, warum der Professor sie unter Verschluss gehalten hatte. Die Bücher sahen nicht so aus, als gehörten sie unbedingt in den Giftschrank; Antonia verstand zwar nicht alle Fachbegriffe in Titeln und Klappentexten, aber es schienen ihr doch ganz gewöhnliche wissenschaftliche Werke zu sein, die auch in frei zugänglichen Bibliotheken zu finden waren. Außerdem taugte die Sicherung nicht, um jemanden aufzuhalten, der ernsthaft an das Fach wollte, das hatte Antonia ja gerade selbst bewiesen.
Sie las die Titel ihrer Mutter vor, aber auch die sah nicht, warum jemand diese Bücher wegschließen sollte. „Nichts Ungewöhnliches“, sagte sie. „Alles Themen, zu denen man eben was im Schrank hat, wenn man sich intensiv mit Genetik befasst.“ „Auch die Bücher über Neandertaler?“, wunderte sich Antonia. Die drei oder vier Bücher über diesen ausgestorbenen Verwandten des modernen Menschen waren ihr aufgefallen, weil sie nicht zum Rest zu passen schienen. Das war doch was Frühgeschichtliches und hatte nichts mit Genetik zu tun!