Konstantin saß aufrecht im Bett und wusste nicht, warum. Irgendwas hatte ihn aus dem Schlaf gerissen, aber jetzt schien alles wieder ruhig zu sein.
Wie spät war es überhaupt? Er hatte das Gefühl, noch nicht übermäßig lange geschlafen zu haben, jedenfalls noch nicht die halbe Nacht oder länger. Aber es war vollständig dunkel; da der längste Tag des Jahres noch nicht lange zurück lag, musste es also nach elf sein. Im Haus war nichts mehr zu hören, auch Konstantins Eltern waren wohl schon im Bett.
Konstantin griff zu seiner Armbanduhr, die auf dem Regal neben dem Bett lag und Leuchtzeiger hatte. Viertel vor zwölf, das war eigentlich eine Viertelstunde zu früh, um Gespenster zu sehen. Irgendwas war da also, aber was?
Konstantin legte die Uhr wieder weg und lauschte in die Dunkelheit. Aus dem Haus war nichts zu hören, aber von draußen drang ein leises Plätschern herein. Konstantin hatte das Fenster auf Kipp stehen, um wenigstens etwas von der Hitze, die sich im Lauf des Tages im Zimmer gestaut hatte, raus- und dafür die leider auch nur wenig kühlere Nachtluft reinzulassen.
Es kam schon mal vor, dass ein Vogel ein Bad nahm, wenn der große Pool im Garten gerade nicht genutzt wurde, aber das Plätschern, das gerade schon wieder zu hören war, klang irgendwie anders. War es das, was Konstantin geweckt hatte, ein Geräusch, das nicht mal übermäßig laut war, aber irgendwie ungewohnt?
Ihm fiel nur eine Erklärung ein: Ein anderes Tier musste in den Pool gefallen sein und kämpfte jetzt wahrscheinlich um sein Leben. Eigentlich war es schwer vorstellbar, wie ein Tier in den Pool gelangen sollte, denn der war nicht in den Boden gegraben, sondern ein Becken aus Kunststoff mit Metallversteifungen, das auf der Wiese stand. Die Seitenwände gingen Konstantin bis zum Bauchnabel, und sie waren außen völlig glatt. Es gab auch keine Äste von Bäumen, die über den Pool hingen, wenn also tatsächlich ein anderes Tier als ein Vogel es ins Wasser geschafft hatte, dann musste es groß genug sein, um über die Wand springen zu können, oder es musste sich irgendwie die Leiter raufgehangelt haben.
Vom Fenster aus konnte Konstantin nicht nachschauen, denn selbst wenn etwas Mondlicht den Garten erhellte, war da immer noch der große Apfelbaum, der ihm den Blick versperrte. Er musste also runter in den Garten gehen, und zwar schnell, denn wer wusste schon, wie lange das Tier noch durchhalten würde.
Daher nahm Konstantin sich nicht einmal Zeit, Schuhe anzuziehen, im Schlafanzug und barfuß schlich er nach unten ins Wohnzimmer. Er nahm den Schlüssel für die Terrassentür vom Bord, schloss auf und öffnete die Tür. Er überquerte die Terrasse und spürte, dass die Steine immer noch warm waren, deutlich wärmer als der Rasen, der sich angenehm kühl unter den Sohlen anfühlte.
Das Gras dämpfte auch seine Schritte zu einem kaum hörbaren dumpfen Tapsen. Nur so war es wohl zu erklären, dass er den Pool schon fast erreicht hatte, als von dort ein erschrockener Aufschrei kam. Das war kein Tier, das war ein Mensch!
Konstantin erschrak. Seine Eltern waren das ganz bestimmt nicht, da war er sich sicher, und seine kleine Schwester auch nicht. Aber wer drang nachts in einen fremden Garten ein, um dort schwimmen zu gehen?
Die Frage beantwortete sich ohne sein Zutun, während er noch überlegte, ob er nicht besser umkehren sollte. Ein Kopf tauchte über dem Rand des Pools auf, und selbst im schwachen Mondlicht erkannte Konstantin das Gesicht: Alva!
Alva war seine neue Nachbarin. Sie war so alt wie er, also elf, und vor zwei Wochen mit ihren Eltern ins Nachbarhaus eingezogen, das vorher mehrere Jahre leergestanden hatte. Nach den Sommerferien würde sie auch in seine Schule kommen, sogar in seine Klasse, wenn alles so lief wie gedacht. Vorher hatte sie in Norddeutschland gewohnt, irgendwo bei Lübeck, und die Familie war umgezogen, weil einfach das Gesamtpaket gestimmt hatte: Beide Elternteile hatten sich beruflich verbessern können, und sie hatten eben die Chance gehabt, das Haus mit Garten zu kaufen.
Das alles wusste Konstantin nicht von ihr selbst, denn er hatte es bislang vermieden, mit ihr zu reden. Seine Mutter hatte es ihm erzählt, sie hatte sich auf Anhieb mit Alvas verstanden, aber ihre Versuche, ihn dazu zu bringen, mit Alva Freundschaft zu schließen, hatten ihn mit jedem Mal trotziger werden lassen. Warum sollte er mit einem Mädchen herumziehen, um ihm die Zeit zu vertreiben, bis es in der Schule neue Freundinnen finden konnte? Und jetzt schwamm dieses Mädchen völlig ungeniert in seinem Pool!
„He!“, rief er. „Was machst du da?“ Das war zwar offensichtlich, aber irgendwie war die ganze Situation so unwirklich, dass ihm nichts Besseres einfiel. Alva würdigte ihn auch keiner Antwort, während sie eilig aus dem Bassin kletterte. Mit einem dumpfen Laut trafen ihre Füße auf den Rasen, und Alva rannte davon.
Konstantin setzte ihr nach, so einfach wollte er sie nicht davonkommen lassen. Wenigstens sollte sie ihm erklären, was sie geritten hatte, nachts in einen Garten einzudringen, in dem sie nichts verloren hatte, und sich in anderer Leute Pool zu vergnügen.
Es war von Anfang an ein ungleiches Duell, nicht weil Alva eine sehr schlechte Läuferin oder Konstantin ein sehr guter Sprinter gewesen wäre, sondern weil Konstantin den perfekten Startpunkt hatte, um Alva mühelos den Weg zum Zaun abzuschneiden. Seinem ersten Versuch, sie festzuhalten, konnte sie noch mit einem Haken ausweichen, doch dann erwischte er ihren Arm und packte zu.
Alva versuchte, sich loszureißen. Eigentlich war das so unsinnig, wie es unsinnig war, dass Konstantin sie überhaupt festhalten wollte. Er hatte sie erwischt und erkannt, und ob er sie jetzt gleich zu seinen Eltern schleifte, oder ob er ihnen am nächsten Morgen erzählte, was passiert war, machte kaum einen Unterschied. Allenfalls würden Kontantins Eltern noch zusätzlich grantig sein, wenn sie aus dem Schlaf gerissen wurden und durch den Tumult vielleicht auch noch seine kleine Schwester aufwachte.
Durch den Versuch, sich loszureißen, verlor Alva das Gleichgewicht. So schnell, wie das ging, konnte Konstantin gar nicht reagieren und loslassen, und so landeten sie beide der Länge nach auf dem Rasen. Für Alva war das eindeutig unangenehmer als für Konstantin, denn indem sie ihn in ihrem eigenen Sturz mitriss, diente sie ihm unfreiwillig als Sprungmatte. Konstantin hörte ihr schmerzerfülltes Keuchen und rollte sich hastig zur Seite, um sie nicht länger mit seinem Gewicht an den Rasen zu pinnen.
„Alles ok?“, fragte er, jetzt nur noch besorgt, ob sie sich verletzt hatte. „Geht schon“, antwortete Alva, während sie sich aufsetzte. „Du bist mit dem Ellenbogen auf meiner Schulter gelandet, das zwiebelt ganz schön, aber kaputt ist nichts.“
„Zum Glück!“ Auch Konstantin hatte sich aufgesetzt, und zu seiner eigenen Überraschung war er Alva gar nicht mehr böse. Oder war er das überhaupt nie gewesen? „Aber warum hast du eigentlich…?“ „Weil man’s sonst nirgendwo aushält“, seufzte Alva. „Mein Zimmer ist bulleheiß, obwohl ich den ganzen Tag die Rolladen runter hatte, und ich kann die Fenster aufmachen, wie ich will, draußen ist’s ja auch kaum kühler. Ich weiß, ich hätte nicht einfach in euren Pool gehen dürfen, aber ich konnte einfach nicht anders. Sagst du deinen Eltern, dass du mich erwischt hast?“
Hätte sie das etwas früher gefragt, dann hätte Konstatins Antwort vermutlich anders ausgesehen, und er hätte Alva in die Hand versprochen, dafür zu sorgen, dass sie Ärger bekam, aber jetzt schüttelte er den Kopf. „Quatsch!“, sagte er. „Bei der Hitze muss man einfach schwimmen. Weißt du was – ich mach sogar mit!“
Alva riss überrascht die Augen auf. Das war wohl das Letzte, womit sie gerechnet hatte, und das konnte Konstantin sogar verstehen. Wer konnte denn auch ernsthaft glauben, dass ein Hausbesitzer sich mit dem ertappten Einbrecher zusammentat? Aber Alva hatte vollkommen recht, es war einfach unheimlich heiß, selbst in der Nacht fielen die Temparaturen kaum ab, und er konnte selbst ja auch kaum schlafen. Vielleicht hatte deshalb auch das leise Plätschern, das Alva beim Schwimmen verursacht hatte, gereicht, um ihn zu wecken, denn normalerweise hatte er keinen derart leichten Schlaf.
Aber warum ihn die Geräusche vom Pool geweckt hatten oder ob es nicht vielleicht etwas ganz anderes gewesen war, war Konstantin im Moment herzlich egal. Alva hatte ihm richtig Lust auf Schwimmen gemacht, und deshalb stemmte er sich vom Rasen hoch und hielt ihr die Hand hin, um ihr ebenfalls aufzuhelfen. Alva lächelte, da war auch etwas Erleichterung dabei, dass es keinen Ärger geben würde, und ließ sich auf die Füße ziehen.
Jetzt, wo sie sozusagen offiziell die Erlaubnis hatte, auch wenn ihre und auch Konstantins Eltern das sicherlich anders sahen, wollte sie so schnell wie möglich wieder ins Wasser. Sichtlich ungeduldig wartete sie, bis Konstantin sich bis auf die Unterhose ausgezogen hatte, und war dann noch vor ihm an der Leiter. Konstantin folgte ihr dichtauf, so nah, dass er sie auf der Leiter anstieß.
Das Wasser war noch warm von der Sonne, die es den ganzen Tag über aufgenommen hatte, und Konstantin fand es herrlich, viel besser als im Bett zu liegen und nur mühsam in den Schlaf zu kommen. Gut, dass Alva diese Idee gehabt und ihn aus Versehen geweckt hatte!
Dass er sich eigentlich nicht mit ihr hatte abgeben wollen, hatte er völlig vergessen, und je länger er neben ihr schwamm, mit ihr tauchte und sie nassspritzte, desto netter fand er sie. Wenn sie wollte, dann durfte sie jetzt jeden Tag zum Schwimmen zu ihm kommen, denn es machte wirklich Spaß mit ihr.
*** Epilog ***
Am nächsten Morgen schlief Konstantin ziemlich lange, was kein Wunder war, denn es war schon nach zwei Uhr morgens gewesen, als Alva und er entschieden hatten, dann doch mal ins Bett zu gehen. Die Toberei im Pool hatte Konstantin nicht nur erfrischt, sondern auch müde gemacht, so dass er anschließend angenehm schnell eingeschlafen war.
Seine Mutter sagte nichts dazu, dass er später als gewohnt frühstückte. Schließlich hatte er Ferien, und ein gemeinsames Frühstück gab es ohnehin nur am Wochenende, weil Konstantins Vater sehr früh zur Arbeit musste.
Gleich nach dem Frühstück ging Konstantin nach draußen, um ein bisschen zu schwimmen. Wenig später kam auch Alva dazu, er hatte sie ja ausdrücklich eingeladen; sie war schon im Badeanzug und kletterte einfach über den niedrigen Zaun.
„Da habt ihr euch ja heute Nacht wirklich zusammengerauft!“, stellte Konstantins Mutter fest. Konstantin hatte gar nicht gemerkt, dass sie in den Garten gekommen war, und nahm vor Schreck erst mal eine kräftige See über. Mist, sie hatte es mitgekriegt! Das würde Ärger geben, spätestens, wenn Alva wieder zu Hause war.
Doch zu seiner Überraschung lächelte seine Mutter. „Wenn ihr nicht wollt, dass Papa und ich mitkriegen, wie ihr nachts schwimmt, dann müsst ihr schon ein bisschen leiser sein“, sagte sie ruhig. „Aber ich glaube, es war eine gute Idee von uns, euch nicht zu stören, wo ihr gerade dabei wart, euch anzufreunden. Also ausnahmsweise Schwamm drüber.“