Im Klassenchat der 10a herrschte am letzten Tag des Jahres jede Menge Betrieb. Seit dem späten Vormittag tauschten die Jungen und Mädchen sich darüber aus, wie sie den Jahreswechsel verbringen wollten, und versuchten auch ein bisschen, sie gegenseitig zu übertrumpfen. Für viele von ihnen war es das erste Mal, dass sie zu einer „echten“ Silvesterparty gehen durften, und für Dennis und Enno würde es vielleicht auch das vorerst letzte Mal sein, wenn sie sich wirklich so gebärdeten, wie sie die anderen glauben machen wollten. Fünf oder sechs wollten auf die Party von Clarissa, die den Vorteil hatte, dass sie sich mit ihrer Einladung an die Party ihrer älteren Schwester dranhängen konnte.
Dazwischen gab es auch hitzige Debatten, ob man vor dem Hintergrund des Klimawandels überhaupt noch böllern durfte. Einige wollten verzichten oder sich zumindest einschränken, andere meinten, einmal im Jahr musste das doch mal erlaubt sein. Vor allem Jascha und Dea deckten sich gegenseitig mit bissigen Kommentaren ein. Dea wusste ganz genau, dass Jascha nicht so ignorant war, wie er manchmal tat, ließ sich aber trotzdem regelmäßig provozieren; umgekehrt wusste Jascha genauso gut, was sie auf die Palme brachte, konnte es aber nicht lassen, sie anzustechen.
„Ich wünschte, es wäre schon wieder vorbei“, schrieb Jada am frühen Nachmittag in den Chat. „Hier sind sie jetzt schon dran wie verrückt. Mir macht’s nichts aus, aber Sammy hat total Panik.“ Sammy war ihr Hund, eine noch nicht ganz drei Jahre alte Golden-Retriever-Hündin. Sie lag neben Jada auf dem Boden und schmiegte sich an ihre Füße; Jada konnte deutlich spüren, wie sie bei jedem Böller, der draußen hochging, zusammenzuckte.
„Die beiden Vollidioten von gegenüber wieder?“, fragte Nicolina, die zu Jadas engeren Freundinnen in der Klasse gehörte. „Ja“, schrieb Jada zurück. „Ist doch klar.“ Dahinter setzte sie einen Smiley, der wütend mit dem Kopf gegen die Mauer sprang. Im Haus gegenüber wohnte eine Familie mit zwei Söhnen, der eine 19, der andere 17, und beide nicht von der Sorte, mit der man sich gern abgab. Die brauchten immer Krach und Action, und es war ihnen völlig egal, ob andere darunter zu leiden hatten. Jada hatte ihnen schon aus dem Fenster zugeschrien, dass sie sich gefälligst an die Zeiten halten sollten, zu denen geböllert werden durfte, aber die beiden hatten nur gelacht. Sie wussten ganz genau, dass Jada nichts machen konnte – falls sie die Polizei holte, würden sie alles abstreiten und behaupten, Jada wollte ihnen bloß eins auswischen.
Jada war schon mit Sammy draußen gewesen, unten in den Ruhrwiesen, wo nicht geböllert wurde. Inzwischen dämmerte es, und Sammy war müde vom Laufen, fand aber wegen des Lärms keine Ruhe. Die Doppelverglasung der Fenster reichte nicht, um den Krach draußen zu halten, auch nicht mit runtergelassenen Rollläden; Sammy hatte wie alle Hunde nicht nur eine feine Nase, sondern auch ein sehr scharfes Gehör.
Während sie noch eine kurze Beschreibung tippte, wie es gerade bei ihr aussah, erschien im Chat eine weitere Nachricht, in der ihr Name hervorgehoben war. „Willst du mit Sammy zu mir rauskommen?“, schrieb Remo. „Hier passiert gar nichts.“
Das konnte Jada sich vorstellen, denn Remo wohnte ganz weit draußen; das Haus, in dem die Familie lebte, war mal ein allein stehender Bauernhof gewesen. Die Felder, die früher dazugehört hatten, waren schon lange verkauft worden, aber der Abstand zu den nächsten Nachbarn war geblieben. Wenn Remo also nicht selbst sein Taschengeld über den Tag verteilt in die Luft sprengte, oder seine Geschwister, dann würde bei ihm Ruhe herrschen.
„Ist das echt okay für dich?“, vergewisserte Jada sich. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie es sein würde, den Silvesterabend mit ihm zu verbringen, auch wenn sie ihn durchaus in Ordnung fand. Aber für Sammy wäre es eine riesige Erleichterung, rauszukommen aus der Stadt, und allein ihretwegen würde Jada die Einladung annehmen, wenn es Remo wirklich nichts ausmachte, dass sie kamen. Allerdings hatte er doch irgendwas geschrieben, dass er feiern gehen wollte, oder hatte sie sich da geirrt? Sie scrollte nach oben, bis sie den Post fand: Ja, er war zu einer Party eingeladen, durfte von seinen Eltern aus auch und hatte zumindest überlegt, hinzugehen. Jada zitierte den Post und setzte einen überlegenden Smiley dahinter.
„Egal“, schrieb Remo zurück. „Ich war eh noch nicht sicher, ob ich hingehe, und verpassen werde ich da nichts.“
Ein paar Augenblicke später klingelte das Handy – Remo! „Ich dachte, so ist es einfacher“, sagte er. „Außerdem muss das nicht die ganze Klasse mitlesen, sonst gibt’s nur blöde Sprüche.“ „Das hättest du dir drei bis vier Posts früher überlegen müssen“, gab Jada trocken zurück. „Aber ich find’s klasse, dass du mich einlädst.“ „Willst du direkt rüberkommen?“, fragte Remo. „Ich meine, es wird ja schon dunkel, und je länger du wartest, desto mehr wird unterwegs rumgeböllert.“
Damit hatte er recht, aber Jada musste erst mal ihre Eltern fragen, ob sie überhaupt durfte. „Weiß nicht, ob sie mich so lange irgendwo hinlassen“, sagte sie. „Und sie müssen mich ja dann auch abholen heute Nacht.“ „Wenn dir Schlafsack und Isomatte reichen, kannst du bis morgen bleiben“, antwortete Remo. „Ich hab Romy schon gefragt, sie hat nichts dagegen, wenn du bei ihr pennst, und für meine Eltern ist es auch okay.“ Romy war seine jüngere Schwester, 13 oder 14 war sie, wenn Jada sich nicht täuschte. Es gab auch noch einen Zwilling dazu, Raul.
Wenn jemand mitbekam, dass sie bei Remo übernachtete, auch wenn es im Zimmer seiner jüngeren Schwester war, würde sie das Klassengespräch sein, bis sich etwas Besseres fand, das war Jada klar. Aber für Sammy würde sie auch das in Kauf nehmen.
Ihre Eltern waren ziemlich perplex, als Jada ihnen von der Einladung erzählte. Jada hatte nie zuvor bei einem Jungen übernachtet, und die Einladung kam natürlich auch sehr kurzfristig. Auf der anderen Seite war Jada fast 16, also kein Kleinkind mehr, und es ging ja zuerst mal darum, Sammys Nerven zu schonen. Die Eltern überlegten kurz und entschieden dann, dass eigentlich nichts dagegen sprach, dass Jada die Nacht bei Remo verbrachte, wenn seine Eltern damit einverstanden waren.
Das war telefonisch schnell geklärt, und eigentlich hatten Jadas Eltern auch nicht ernsthaft daran gezweifelt, dass Remo um Erlaubnis gefragt hatte, ehe er Jada eingeladen hatte. Jada schaute in der Zwischenzeit schon nach den Busverbindungen und schickte Remo eine Nachricht, wann sie bei ihm ankommen würde.
Um kurz nach halb fünf zog sie ihre Jacke an, setzte ihren Rucksack mit allem, was sie für die eine Übernachtung brauchte, auf und nahm Sammy an die Leine. Die schaute zunächst etwas verdutzt, das war nicht die Zeit, zu der Jada normalerweise mit ihr rausging, sprang dann aber doch fröhlich die Treppe runter.
Jada musste zweimal umsteigen und war eine ganze Weile unterwegs. In einer kleinen Siedlung am Stadtrand stieg sie aus, gut zehn Minuten Fußweg hatte sie jetzt noch vor sich, vielleicht auch eine Viertelstunde. Das hing auch ein bisschen davon ab, wie oft Sammy stehen blieb, um irgendwas zu beschnuppern.
Als sie ausstieg, hatte Jada ihr Handy in der Hand, denn sie hatte keine Lust, sich zu verlaufen, und wollte sich deshalb von der Navi-App den Weg weisen lassen. Doch das erwies sich als unnötig, denn sie wurde erwartet: Remo war gekommen, um sie abzuholen. Davon hatte er nichts gesagt, obwohl sie sogar beiläufig gechattet hatten, während Jada im Bus gesessen hatte. „Ist doch lustiger so, als wenn du alleine durch die Gegend tappst“, sagte er. „Außerdem kenne ich Abkürzungen, die dir die App garantiert nicht ausspuckt, auch wenn du ihr sagst, sie soll dir alles zeigen, bis zum letzten Kaninchenpfad, und ich weiß, wo wir durchgehen können, ohne dass uns der Bauer mit der Schrotflinte auflauert.“
Während ihr Frauchen mit Remo sprach, machte Sammy sich auf ihre Art ein Bild des Gastgebers: Sie beschnupperte seine Hosenbeine. Jada hielt sie kurz, merkte aber schnell, dass Remo kein Problem mit der Neugier des Hundes hatte. Remo hielt Sammy die Hände hin, und als er sicher war, dass Sammy sich vergewissert hatte, dass er okay war, strich er ihr über den Kopf. Jada freute sich, es schien so, als würden die beiden sich auf Anhieb verstehen. Das war gut, auf jeden Fall besser, als wenn Remo Sammy nur ertragen hätte, um ihr einen Gefallen zu tun.
Als sie die Siedlung hinter sich ließen, knipste Remo eine Lampe an, die an einem Gurt um seine Brust gebunden war. Inzwischen war es Nacht geworden, und für die paar Leute, die hier durchkamen, stellte die Stadt keine Laternen auf. Das war wohl auch im Sinne der Natur besser; auch wenn ein Großteil der Fläche landwirtschaftlich genutzt wurde, waren hier sicherlich eine Menge Tiere unterwegs.
Es war ein merkwürdiges Gefühl, mit Sammy und Remo durch die Nacht zu laufen, und Jada hatte es gar nicht so eilig, zu Remo nach Hause zu kommen. Auch Remo machte nicht den Eindruck, als wollte er so schnell wie möglich zurück, und wartete geduldig, wenn Sammy irgendwo schnuppern wollte.
Jada war noch nie bei ihm zu Hause gewesen, und wäre es nicht schon dunkel gewesen, hätte sie sich das frühere Bauernhaus sicherlich neugierig angesehen. Jetzt war nicht viel zu erkennen, Jada sah ein paar erleuchtete Fenster im Erdgeschoss, und als sie sich dem Haus näherten, schaltete ein Bewegungsmelder eine Lampe ein. Der Rest verschwand in der Finsternis.
Remo stellte sie seinen Eltern vor, die zum Glück kein großes Aufheben machten. Sie begrüßten Jada freundlich, aber unaufgeregt. Danach nahm Remo sie mit nach oben in sein Zimmer.
Sammy musste natürlich erst mal alle Möbel beschnuppern, aber Jada hielt die Leine ganz kurz. „Du kannst sie ruhig ableinen“, sagte Remo. „Hier kann sie keinen Schaden anrichten.“ „Kann ich ihr irgendwo ihre Decke hinlegen?“, fragte Jada. „Dann weiß sie, wo sie hingehört.“ „Klar“, antwortete Remo und deutete auf die Ecke neben dem Fenster. „Ich schätze, da stolpert keiner über sie.“
Sammy schien noch nicht zu wissen, was sie von der Situation halten sollte. Sie kannte das Haus nicht, sie kannte Remo und seine Eltern nicht, lauter unbekannte Gerüche… Aber Jada war da, und sie war ganz ruhig, das gab Sammy Sicherheit. Irgendwann rollte sie sich auf ihrer Decke zusammen und begann zu dösen; ein Ohr war immer hochgeklappt, aber sie war nicht in aufgeregter Hab-Acht-Stellung.
Jada machte es sich ebenfalls gemütlich. Weil Remo nur den Schreibtischstuhl und das Bett als Sitzgelegenheiten hätte anbieten können, setzten sie sich auf den Teppich. Mit dem Rücken ans Bett gelehnt, spielten sie verschiedene Spiele auf Remos Laptop; er hatte zum Glück einige, die man auch zu zweit spielen und relativ schnell lernen konnte.
So verging die Zeit wie im Flug, und als Remos Eltern zum Abendessen riefen, erschrak Jada fast; sie hatte die Zeit völlig vergessen und keine Ahnung gehabt, dass es schon so spät war.
Es gab das Silvester-Essen schlechthin: Raclette. „Vielleicht gar nicht schlecht, dass du gekommen bist“, meinte Remo, während er half, die letzten Schüsseln ins Esszimmer zu tragen. Auch Jada half unaufgefordert mit. „So essen wir vielleicht nur die nächsten zweieinhalb Wochen Raclette statt die nächsten drei.“
In der Tat war der Tisch üppig gedeckt, auch zu sechst würden sie das nicht alles aufbekommen. Aber die Auswahl war so zusammengestellt, dass nichts umkommen würde, alles würde sich ein paar Tage halten oder konnte eingefroren werden, und vieles eignete sich auch als Zutat zu irgendeinem anderen Gericht.
Es war eine fröhliche Runde, und Jada genoss es, dass sie dabei sein durfte. Das Essen zog sich, schon allein, weil alle immer wieder darauf warten mussten, dass die selbst kreierten Gerichten in den Pfännchen garten, aber es wurde nicht langweilig.
Nach dem Essen holte Raul einen Stapel Brettspiele aus dem Schrank. Das hatte Tradition, so verbrachte die Familie den Silvesterabend schon, so lange Remo sich erinnern konnte. Natürlich hatten die Spiele im Lauf der Zeit gewechselt, waren auch herausfordernder geworden, als die Kinder nicht mehr so klein gewesen waren, aber das war nur eine Randnotiz. Jada konnte sich gar nicht entsinnen, wann sie zuletzt ein Brettspiel gespielt hatte, wahrscheinlich war sie da noch in der Grundschule gewesen. In ihrer Familie war das einfach nicht so verbreitet, und auch ihre Freundinnen schienen sich dafür nicht zu interessieren.
Nach zwei Runden eines Spiels, das Elemente von Quiz und Strategiespiel verband, musste Jada aussetzen: Es wurde Zeit für Sammys Abendspaziergang. Sammy lag brav neben ihr, aber Jada spürte, dass die Hündin langsam unruhig wurde. „Soll ich mitkommen?“, erbot sich Remo. „Dann musst du nicht allein durch eine Ecke tigern, die du nicht kennst.“ „Na ja, Sammy würde mich schon wieder zurück in die Zivilisation bringen“, antwortete Jada lächelnd. „Aber wenn du magst, gerne.“
Remo schien es wirklich nichts auszumachen, und sie freute sich, dass er sie begleitete. Es war schön mit ihm, und sie hatte in den letzten Stunden schon mehr als einmal gedacht, dass sie das gern öfter machen würde. Es musste ja nicht Silvester sein dafür – dass es Spaß machte, Zeit mit ihm zu verbringen, war Grund genug.
Remo wählte einen Weg, der sie auf einen kleinen Hügel führte. Von oben hatte man einen guten Ausblick auf weite Teile der Stadt. „Wenn du willst, können wir nachher zum Feuerwerk wieder hier raufgehen“, schlug er vor, als sie auf der Kuppe standen. „Ist schon toll, wenn überall die bunten Raketen hochgehen. Sammy könnte sogar mitkommen, man hört nichts hier oben. Okay, sie hat natürlich schärfere Ohren als wir, aber ich glaube nicht, dass es für sie so laut ist, dass es sie erschreckt.“ „Gerne“, antwortete Jada. „War eine tolle Idee von dir, dass du mich eingeladen hast. Das ist so entspannt bei euch, und Sammy fühlt sich auch total wohl.“ „Heißt das, ich darf dich für nächstes Jahr wieder einplanen?“, folgerte Remo. „Darfst du“, antwortete Jada lächelnd. Sie spürte, dass er sich darüber freute, und ohne groß darüber nachzudenken, lehnte sie den Kopf an seine Schulter.