Autorenseite René Bote

Retterin zu Pferd

Cover der Kurzgeschichte Retterin zu Pferd

Gemächlich trabte Henry durch den Wald oberhalb der Ruhr. Die Hufe trommelten gleichmäßig auf den festgestampften Erdboden, jeder Tritt ein dumpfer Laut. Man spürte, dass er Freude daran hatte, er liebte lange Touren durch den Wald. Das Gewicht der Reiterin auf dem Rücken machte ihm nichts aus.

 

Violet war vierzehn und schon immer eine Pferdenärrin gewesen. Ein eigenes Pferd saß nicht drin, dafür hatten ihre Eltern weder das Geld, noch hätte sich jeden Tag jemand kümmern können. Umso glücklicher war Violet, dass eine alte Studienfreundin ihrer Mutter auf ihrem Bauernhof auch einen Pferdestall hatte, dessen Boxen sie vermietete. Henry war das einzige Pferd, das ihr selbst gehörte, ein Wallach, der noch nicht ganz sechs Jahre alt war. Violet kannte ihn, seit er ein Fohlen gewesen war, und hatte auf ihm reiten gelernt.

 

Inzwischen durfte sie sich als gute Reiterin bezeichnen, vielleicht hätte sie damit sogar bei Turnieren Aussichten auf gute Platzierungen gehabt. Doch das interessierte sie nicht, sie mochte einfach die Ausflüge mit Henry, unterwegs sein, die Nähe zu ihrem Pferd spüren und die Ruhe genießen. Heute hatte sie sich etwas zu essen und zu trinken mitgenommen, sie wollte ein gutes Stück reiten und dann picknicken, an einer Stelle, an der Henry grasen und aus einem Bach trinken konnte.

 

Der Weg führte meistenteils am Hang entlang, fünfzehn, zwanzig Meter oberhalb der Ruhr. Er wurde nicht viel genutzt, die meisten Spaziergänger nahmen lieber den Parallelweg direkt am Ufer. Also störte Violet auch niemanden, wenn sie hier durchritt; sie nahm Rücksicht, machte Platz und hielt an, damit andere passieren konnten, aber manche Leute meckerten trotzdem. Es kam auch schon mal vor, dass sie angepfiffen wurde, was sie mit dem Pferd auf einem Fußweg zu suchen hatte, obwohl sie nie irgendwo ritt, wo es nicht erlaubt war.

 

Nach einer Viertelstunde machte der Weg eine Kurve nach links und wurde abschüssig. Anders ging es nicht, der Hang war auf den nächsten hundert Metern zu steil, als dass der Weg dort hätte weitergehen können. Nicht mal ein Trampelpfad führte geradeaus, weil jeder, der versucht hätte, weiterzugehen, unweigerlich abgestürzt wäre. Runter zum Fluss war die einzige Möglichkeit, wie es weitergehen konnte. Es war nur ein kurzes Stück Uferweg, den Violet würde benutzen müssen, danach zweigte „ihr“ Weg wieder ab, den Hang hinauf bis auf die ursprüngliche Höhe.

 

Doch je mehr sie sich dem Ufer näherte, desto mehr hatte sie das Gefühl, dass dort etwas nicht in Ordnung war. Sie konnte noch nicht verstehen, was gerufen wurde, aber die Stimmen hörten sich aufgeregt, besorgt an. „Da stimmt was nicht!“, sagte sie zu Henry. „Los!“ Gleichzeitig stieß sie dem Wallach die Hacken in die Flanken, um ihm zu signalisieren, dass es schnell gehen musste. Henry setzte sich in Trab, gerade so schnell, wie es auf dem abschüssigen Weg möglich war, ohne sich den Hals zu brechen. Da konnte Violet sich auf ihn verlassen, er passte auf, auf sich und auch auf sie.

 

Wenig später erreichten sie das Ufer. Was Violet sah, bestätigte ihre schlimmsten Befürchtungen: zwei Jungen, sie mochten sechzehn oder siebzehn sein und waren nur mit Badehosen bekleidet, hasteten den Uferweg entlang und schrien einem dritten etwas zu, der im Wasser trieb. Weil die Stimmen sich in Panik überschlugen, konnte Violet nicht jedes Wort verstehen, aber es war klar, dass sie versuchten, ihren Freund irgendwie wieder ans Ufer zu lotsen.

 

Der hätte die Anweisungen gern in die Tat umgesetzt, konnte aber nicht. Er war offenbar kein guter Schwimmer, eher an der Grenze zum Nichtschwimmer, und kam nicht an gegen die Strömung. Nur mit großer Not hielt er sich über Wasser, und er schien am Ende seiner Kräfte zu sein. Lange würde er sich nicht mehr oben halten können, und die beiden am Ufer waren offenbar unfähig, ihm zu helfen. Möglicherweise konnten sie selbst nicht oder kaum schwimmen, oder sie waren klug genug, um zu wissen, dass die Ruhr stellenweise Tücken hatte, die auch einen guten Schwimmer überwältigen konnten.

 

Ob sie schon die Rettung gerufen hatten, wusste Violet nicht, aber selbst wenn, würde der Junge im Wasser wohl nicht mehr durchhalten, bis sie da war. „Lauf, Henry!“, rief sie und gab dem Pferd abermals einen leichten Stoß in die Flanken. „Vorsicht!“, rief sie den beiden Jungen am Ufer zu. Nicht, dass die beiden von Henry umgerannt wurden oder beim Versuch, ihm auszuweichen, auch noch ins Wasser fielen!

 

Bis jetzt hatte sie die Jungen nur von hinten und für einen kurzen Moment im Profil gesehen. Erst als sie sie überholte, sah sie für einen Moment die verängstigten Gesichter und erkannte sie. Beide waren an ihrer Schule, bis vor ein paar Stunden in der Zehnten, nach den Ferien würden sie in die Elfte kommen. Der eine hieß Leander, den anderen kannte sie nur vom Sehen. Auch Leander kannte sie nur mit Namen, weil sein jüngerer Bruder, Adam, in ihre Parallelklasse ging; sie hatten seit der Siebten zusammen Spanisch.

 

Die beiden Jungen am Ufer liefen weiter, um mit ihrem Freund auf einer Höhe zu bleiben, hatten aber offensichtlich keinen Plan, wie sie ihn an Land holen sollten. Vom Ufer aus hatten sie auch kaum eine Chance, es sei denn, sie hatten ein Seil dabei; der Junge war zu weit weg, um ihm nur den Arm hinzustrecken.

 

Violet überlegte nicht lange. Sie hieß Henry anzuhalten, saß ab, griff sich einen herumliegenden Zweig und war im nächsten Moment wieder auf Henrys Rücken. Der Zweig war nicht sehr dick, vielleicht so dick wie ihr Daumen, aber frisch und deshalb noch elastisch. Sie hoffte, dass er halten würde, wenigstens für ein paar Augenblicke, denn Zeit, nach einem besseren zu suchen, hatte sie nicht.

 

Ungefähr zwanzig Meter vor dem Jungen im Wasser ragte eine Buhne in den Fluss, dort musst er ziemlich nah vorbeikommen. Es war die beste Chance, ihn rauszuholen, und sehr wahrscheinlich auch die letzte. Selbst mit Henrys Hilfe brauchte sie die Buhne, um in Reichweite des Jungen zu kommen, und bis zur nächsten, 50 Meter weiter flussabwärts, würde er untergegangen sein, befürchtete sie.

 

Brav nahm Henry die Steinbrocken unter die Hufe, die die Buhne bildeten. Er schien zu spüren, worauf es ankam, er trug Violet zügig über den Kamm der Buhne, aber er vergaß nicht, genau zu schauen, wohin er die Hufe setzte.

 

Am Ende der Buhne blieb er stehen. Violet versuchte, abzuschätzen, wie nah der Junge im Wasser vorbeikommen würde, und befürchtete, dass es nicht reichen würde. „Weiter, Henry!“, forderte sie den Wallach auf.

 

Vorsichtig setzte Henry Huf um Huf ins Wasser. Das gefiel ihm nicht, Violet spürte es, und es überraschte sie auch nicht. Das Wasser war trüb, und gleichzeitig brach es das Licht, es war also für Henry schwer, zu prüfen, ob der Untergrund sicher war. Trotzdem machte er brav, was sie verlangte, sie war froh, dass sie sich so auf ihn verlassen konnte. In diesem Moment konnte das Vertrauen, das er zu ihr hatte, lebenswichtig sein.

 

Vier, fünf Schritte machte er, dann war er weit genug draußen. Weiter sollte er auch nicht gehen, auch wenn er mit seinem Gewicht und seiner Statur weniger gefährdet war, vom Fluss weggerissen zu werden, als ein Mensch. Violet hielt sich mit den Oberschenkeln fest und packte den Zweig mit beiden Händen. Gut drei Meter, vielleicht fast vier, hatte sie als „Rettungsleine“, hoffentlich reichte das, und hoffentlich hielt der Zweig!

 

Angespannt schaute sie dem Jungen entgegen, der sich mit letzter Kraft irgendwie über Wasser hielt. Mit Schwimmen hatte das nichts zu tun, er schlug mit den Armen aufs Wasser, und immer wieder tauchte er für einen Moment ganz ab. Violet nahm an, dass er dabei mit den Füßen auf den Grund kam, so tief war der Fluss ja nicht, und sich abstieß, um wieder nach oben zu kommen. Aber wie lange konnte er das durchhalten?

 

Durch die Haare, die vom Wasser dunkel gefärbt und ins Gesicht geklebt wurden, und durch das häufige Untertauchen erkannte Violet den Jungen erst, als er fast bei ihr war. Adam! Das war noch mal ein Schock, bis dahin hatte sie, soweit sie sich überhaupt Gedanken gemacht hatte darüber, an einen weiteren Freund von Leander gedacht. Eigentlich war es unerheblich in diesem Moment, jemand kämpfte um sein Leben, sie war die Einzige, die ihn retten konnte, und das würde sie tun.

 

„Adam!“, rief sie. „Nimm den Ast!“ Mehr konnte sie nicht tun, sie konnte sich nicht weiter vorwagen, und sie hatte nichts Besseres, was sie ihm hinhalten konnte, damit er sich festklammern konnte. Was sie tun sollte, wenn es nicht klappte – es musste einfach, den Gedanken an alles andere verbot sie sich.

 

„Wo?“, rief Adam mit schwacher Stimme. „Drei Meter vor dir!“, antwortete Violet. „Ein kleines bisschen rechts!“ Wieder tauchte Adam ab, diesmal jedoch vielleicht zumindest teilweise bewusst. Als er wieder hochkam, hatte er leicht die Richtung geändert, offensichtlich hatte er das Abstoßen am Boden dazu genutzt. „Ja!“, versuchte Violet ihm Mut zu machen. „Du bist näher dran! Du schaffst das!“

 

Adam antwortete nicht, er brauchte seinen Atem für anderen Dinge. Aber er kämpfte, tauchte noch einmal unter, und danach hatte er den Ast in Reichweite. Mit der rechten Hand bekam er das Ende zu packen, Violet spürte den Ruck in den Armen. Unwillkürlich hielt sie den Atem an, hoffentlich konnte Adam sich halten! Viel Kraft hatte er bestimmt nicht mehr, wer wusste denn, wie lange er schon gegen die Strömung angekämpft hatte.

 

Seine Hände waren nass, die Rinde des Astes glatt, für einen Augenblick drohte er abzurutschen. Doch er fasste nach, der kurze Stumpf eines abgebrochenen Seitenasts half ihm. Mit etwas Mühe brachte er auch die zweite Hand an den einzigen Halt, der sich ihm bot.

 

Stück für Stück zog Violet ihn zu sich heran. „Ich hab dich gleich!“, sagte sie, um ihm Mut zu machen für den letzten Meter. „Kannst du die Füße auf den Grund stellen?“

 

Adam probierte es. Sehr tief war das Wasser an der Stelle, wo er jetzt war, nicht mehr, nur knapp hüfttief. Irgendwie kam Adam auf die Füße, aber so wackelig, dass es ihn um ein Haar gleich wieder umgerissen hätte. Der Stock rettete ihn und half ihm, sich weiterzuhangeln, bis er neben Henry stand.

 

„Nimm meine Hand!“, forderte Violet ihn auf. Sie hielt ihm die Hand hin, und als er vorsichtig den Arm ausstreckte, umklammerte sie sein Handgelenk. So konnte er ihr nicht wegrutschen, während sie Henry vorsichtig zurück auf die Buhne dirigierte.

 

Adam musste das kurze Stück notgedrungen selbst waten und laufen. Violet hatte nicht die Kraft, um ihn aufs Pferd zu ziehen, Adam war größer als sie, wenn auch nicht viel, und muskulös. Außerdem wäre das Gewicht wohl auch für Henry zu viel gewesen, der war zwar kräftig, aber auch kein Rückepferd, das daran gewöhnt war, täglich Tonnengewichte zu wuchten.

 

Henry musste sich drehen, rückwärts die Buhne hinaufzuklettern war für ihn undenkbar. Violet schaffte es, ihn so zu dirigieren, dass er dabei quasi um Adam herumging, sodass der keine zusätzlichen Meter machen musste.

 

Als Henry schließlich den kleinen Anstieg erklomm, spürte Violet ihren Mitschüler schwer an ihrem Arm hängen. Er war wirklich völlig ausgepumpt, und hätte sie ihn nicht gehalten, wäre er oben auf der Buhne auf die Steine geknallt. Irgendwie gelang es ihr, seinen Arm so um Henrys Hals zu legen, dass er sich einen Augenblick halten konnte, bis sie abgestiegen war und ihm helfen konnte, sich hinzusetzen. Schwer atmend ließ er sich nach hinten sinken.

 

Violet ließ ihm Zeit. Jetzt konnte nichts mehr passieren, eine große Welle, die die Buhne überflutete und sie alle drei wegspülte, brauchten sie nicht zu befürchten.

 

Vom Ufer her staksten Leander und der andere Junge heran, dessen Namen Violet nicht kannte. Sie hatten sich nicht getraut, Violet auf die Buhne zu folgen, vielleicht hatten sie befürchtet, sie könnten ihr im Weg sein. Vielleicht hatten sie auch gar nichts gedacht, Violet fehlte die Fantasie, sich auszumalen, was in ihnen vorgegangen sein musste, vor allem in Leander.

 

Leander kniete sich neben seinen Bruder und schloss ihn in die Arme. „Alter!“, sagte er. „Hast du uns einen Schiss eingejagt!“ Es sollte cool klingen, aber die Stimme spielte nicht mit, und Violet sah auch die Tränen in Leanders Augen.

 

Danach sagte eine ganze Weile niemand mehr etwas. Adam war völlig fertig und musste sich erst mal ausruhen, und auch Violet fühlte sich erschöpft, obwohl sie sich körperlich gar nicht so sehr angestrengt hatte.

 

Irgendwann setzte Adam sich auf. „Danke“, sagte er zu Violet. „Mann, wenn du nicht da gewesen wärst …!“ „Lieber nicht dran denken!“, antwortete Violet. „Aber was ist eigentlich passiert? Bist du zu weit raus?“

 

Adam schüttelte den Kopf. „Ich war höchstens vier, fünf Meter vom Ufer weg“, berichtete er. „Gerade so, dass ich mir ein paar Hände voll Wasser draufklatschen konnte. Aber dann hab ich auf irgendwas Spitzes getreten, ein Stein, schätze ich mal, da bin ich natürlich weggezuckt, und als ich mich abfangen wollte, war der nichts mehr. Plötzlich lag ich drin, und ich hab’s nicht geschafft, wieder ans Ufer zu kommen.“ „Ja, die Strömung kann verdammt stark sein“, pflichtete Violet ihm bei. „Glaubt man gar nicht, wenn man nur vom Ufer aus guckt.“ Adam zuckte mit den Schultern. „Schon“, gab er zu. „Ich weiß auch, dass es immer heißt, man soll das nicht unterschätzen. Aber wenn man schwimmen kann, dann schafft man’s wahrscheinlich wieder ans Ufer, wenn so ist wie heute.“

 

„Kannst du gar nicht schwimmen?“, fragte Violet. Das wollte ihr kaum in den Kopf, obwohl sie mit eigenen Augen gesehen hatte, dass er keine Schwimmbewegungen gemacht, sondern nur wild um sich geschlagen hatte. Adam war supersportlich, mit Abstand der beste Sportler der ganzen Jahrgangsstufe. Egal, um welche Sportart es ging, Fußball, Leichtathletik, Radfahren, was auch immer, er war immer ganz vorne mit dabei. Und ausgerechnet beim Schwimmen war er hintendran?

 

Wieder zuckte Adam mit den Schultern. Dass Violet ihn aus dem Wasser hatte ziehen müssen, war ihm sichtlich peinlich, und dann noch vor dem großen Bruder. „Weiß auch nicht, warum“, gab er zu. „Meine Eltern haben’s nicht so mit Schwimmen, sie sind nie mit uns ins Schwimmbad oder so, und in der Grundschule sollte es wohl mal was geben, war dann aber doch nicht.“ „Bei uns auch nicht“, erinnerte Violet sich. „Erst war im Schwimmbad alles belegt, und als da was frei war, ist die einzige Lehrerin, die das bei uns an der Schule machen durfte, krank geworden. Aber ich war beim Babyschwimmen und später noch mal im Kurs, damit ich noch sicherer werde. Silber hab ich schon lange, und wenn ich besser im Rückenschwimmen wäre, hätte ich Gold auch schon gemacht.“

 

„Verrätst du mich?“, fragte Adam unsicher. Klar, dass er sich die Blamage nicht geben wollte, und Violet fielen ein paar Jungs aus der Stufe ein, die sich wahrscheinlich einen Ast gefreut hätten, wenn sie den Supersportler hätten stutzen können. Dabei gab Adam nicht an mit seinem Können, aber allein dass die anderen bei den meisten Sportarten nicht gegen ihn ankamen, schürte neben Bewunderung auch genug Neid.

 

Sie würde ihn aber nicht den Wölfen zum Fraß vorwerfen. „Ich erzähle niemandem was“, versprach sie. „Aber nur unter einer Bedingung: Du lernst schwimmen. Gleich morgen früh fangen wir an, und danach gehen wir mindestens zwei oder dreimal die Woche hin, so lange, bis du mindestens Bronze hast.“ „Versprochen“, sagte Adam sofort. „Du hast mein Wort.“ Violet spürte, dass er es ernst meinte, und irgendwie freute sie sich darauf.