Autorenseite René Bote

Etappenschlaf

Cover der Kurzgeschichte Etappenschlaf

Wenn sie gewollt hätten, hätten Elias und Dominic sich nachts mit Klopfzeichen unterhalten können. Sie wohnten im selben Haus, auf derselben Etage, und in den spiegelverkehrt zueinander geschnittenen Wohnungen grenzten ihre Zimmer aneinander. Sogar die Betten standen an der gemeinsamen Wand.

Doch die Wirklichkeit sah anders aus: Die beiden Jungen hatten so gut wie nichts miteinander zu tun. Es war keine Abneigung, die das besorgte, es fehlte schlicht an Schnittstellen. Während Elias in dem Haus wohnte, solange er denken konnte, war Dominic vor drei Jahren erst nebenan eingezogen. Vorher hatte er in einem anderen Stadtteil gewohnt und eine andere Grundschule besucht als Dominic. Die hatte er nach dem Umzug auch nicht gewechselt, er hatte weiter bei seinen Freunden bleiben wollen. Die Fahrerei, zwanzig Minuten mit dem Bus morgens hin und mittags wieder zurück, hatte er dafür gern in Kauf genommen. Seit dem letzten Sommer ging er aufs Kästner-Gymnasium, wie seine Freunde und so ziemlich alle aus seiner Grundschule, wenn sie sich nicht für eine andere Schulform entschieden hatten. Dominic dagegen besuchte das Annette-von-Droste-Hülshoff-Gymnasium, wohin es von seiner Grundschule die meisten zog. So gab es keine großen Überschneidungen im Freundeskreis, und weil eben beide ihre Freundschaften gehabt hatten, als Dominic eingezogen war, hatte es nie Druck gegeben, sich anzufreunden.

Gelegentlich begegneten sie sich natürlich, im Treppenhaus oder auf der Straße vor dem Haus. In der Regel grüßten sie einander dann kurz, mehr nicht. An einem Morgen Ende Februar aber fielen Elias die dunklen Schatten auf, die sich unter Dominics Augen entlangzogen, und das machte ihn stutzig. „Was ist los?“, fragte er spontan. „Du siehst ja aus wie …“ Wie ein Zombie, hatte er sagen wollen, aber das verkniff er sich. Dominic verstand ihn trotzdem, und er hätte den Vergleich mit einem Untoten auch nicht als Beleidigung aufgefasst. So ungefähr fühlte er sich nämlich tatsächlich, er lief im absoluten Notbetrieb.

„Ich hab kaum geschlafen“, beantwortete er Elias‘ Frage ehrlich. „Ich wache jedes Mal auf, wenn meine Schwester schreit, und im Moment schreit sie ziemlich oft.“ „Ist sie krank?“, fragte Elias. Er war in seiner Familie das jüngere Kind, hatte also keine Erfahrung mit jüngeren Geschwistern. Auch sonst hatte es in Verwandtschaft und Freundeskreis in den letzten Jahren keinen Nachwuchs gegeben. Dominic schüttelte den Kopf. „Mama sagt, sie wächst gerade schnell, und sie bewegt sich viel. Deshalb hat sie ständig Hunger.“ Mia war am ersten Advent geboren, und mit drei Monaten hatten die meisten Babys noch nicht viel mit geregelten Schlafenszeiten am Hut. Aber seit ein paar Nächten wachte sie noch öfter auf, regelmäßig vier-, fünfmal.

„Kann man da nichts machen?“, wollte Elias wissen. „Ich meine, deine Eltern kommen dann ja auch nicht zum Schlafen …“ „Frag mich nicht!“, sagte Dominic. „Ich glaube, sie kriegen’s irgendwie hin, dass sie schnell wieder einschlafen. Kann sein, sie kriegen so noch genug Schlaf. Aber ich brauche dann immer, bis ich wieder schlafe, und kaum dass ich wieder schlafe, geht’s schon wieder los.“ „Heftig!“, befand Elias. „Ich drücke dir echt die Daumen, dass du bald wieder durchschlafen kannst.“ Für mehr war keine Zeit, sie hatten die Haltestelle erreicht, von der sein Bus fuhr. Dominic musste noch ein Stück weiter zum S-Bahnhof.

***

Eigentlich war das Baby nebenan nicht seine Baustelle, aber Elias‘ Gedanken wanderten trotzdem den ganzen Vormittag über immer wieder zu seinem gleichaltrigen Nachbarn. Wie es war, großer Bruder zu sein, konnte er sich kaum vorstellen, und er glaubte auch nicht, dass ihm das noch passieren würde. Aber mehrere Nächte hintereinander mehrfach geweckt zu werden, das musste die Hölle sein, kein Wunder, dass Dominic so aussah, wie er aussah. Das war eine ganz andere Hausnummer als mal morgens unausgeschlafen zu sein, weil man abends zu spät ins Bett gekommen war. Er erinnerte sich an die Nacht vor zwei Jahren, als die alte Frau Stritzel im dritten Stock einen Anfall gehabt hatte und der Rettungswagen mit Blaulicht und Martinshorn gekommen war. Da war er natürlich wach gewesen, und nachdem die betagte Nachbarin erstversorgt worden und der Rettungswagen mit ihr weggefahren war, hatte die Aufregung ihn bestimmt auch noch eine Stunde wach gehalten. Am nächsten Morgen war er ziemlich kaputt gewesen, das wusste er noch, und das war nur eine Nacht gewesen, und er war nur einmal geweckt worden. Dominic machte das jetzt seit Tagen verschärft durch, und wann die Situation sich wieder bessern würde, stand in den Sternen. Irgendwann sicherlich, aber das war ein schwacher Trost, wenn man sich beim Aufstehen schon aufs Ins-Bett-Gehen freute und gleichzeitig wusste, dass die nächste Nacht wahrscheinlich nicht erholsamer werden würde als die gerade vergangene.

In der ersten großen Pause überlegte er, ob Dominic nicht einfach mit Ohrenstöpseln schlafen konnte. Dann würde er das Schreien seiner kleinen Schwester nicht mehr hören, und alles war gut. Es war ja wohl nicht so, dass er irgendwas machen musste, füttern oder die Windel wechseln; er hatte einfach das Pech, dass die Wohnungen im Haus so verflixt hellhörig waren.

Gegen das Schreien an sich konnte man wohl nichts machen. Die kleine Mia hatte eben Hunger, und das Schreien war in ihrem Alter das einzige Mittel, das sie hatte, um ihren Eltern zu zeigen, was sie brauchte. Deshalb schienen Elias die Ohrenstöpsel tatsächlich die beste Abhilfe zu sein – bis er sie mittags zu Hause ausprobierte. Sein Vater hatte immer einige davon da, um sein Gehör bei Arbeiten mit der Bohrmaschine zu schützen. Elias fand, dass sie sich unangenehm anfühlten, und völlig still war es trotzdem nicht. Die Musik, die er als Test aufgedreht hatte, gerade so laut, dass die Nachbarn sich nicht gestört fühlen konnten, hörte er immer noch. Es war irgendwie sogar unangenehmer als ohne Ohrstöpsel, die Töne, die noch durchdrangen, waren dumpf und verzerrt. Gut möglich, dass die Dämpfung reichte, um nicht mehr geweckt zu werden, wenn man einmal schlief, aber erst mal einschlafen – Elias glaubte nicht, dass ihm das gelungen wäre.

Er beschloss, Dominic trotzdem zu fragen, ob Ohrstöpsel eine Lösung sein konnten. Vielleicht störten ihn das Gefühl in den Ohren und die Überreste der Umgebungsgeräusche ja nicht, dann konnte er in der nächsten Nacht wieder ordentlich schlafen. Es war natürlich auch möglich, dass er das schon probiert und gemerkt hatte, dass es für ihn keine Hilfe war. Dann konnte er das ja sagen, und die Idee war gestorben.

***

Elias passte Dominic nach der Schule ab. Das war nur möglich, weil er den kürzeren Heimweg hatte und vor allem den Einsatzwagen, der für ihn sehr günstig fuhr. Dominic brauchte mit der S-Bahn eine Viertelstunde länger, deshalb trafen sie sich auf dem Heimweg eigentlich nie. Elias bekam aber regelmäßig mit, wann Dominic nach Hause kam, denn zu der Zeit machte er sich dann oft sein Mittagessen, und das Küchenfenster ging zur Straße raus.

Seine Eltern arbeiteten beide und waren meistens nicht zu Hause, wenn er Schulschluss hatte. Auch an diesem Tag waren sie nicht da, und sein älterer Bruder hatte zwei Stunden länger Schule. Eine Viertel- oder halbe Stunde später nach Hause zu kommen, war also kein Problem für Elias. Nur sein Magen fragte, wann es denn endlich Essen geben würde; erst als es zu spät war, fiel Elias ein, dass er genug Zeit gehabt hätte, um nach Hause zu gehen, sich schnell etwas zu essen zu machen und Dominic dann entgegenzugehen.

Dominic sah immer noch angeschlagen aus, als er die Treppe vom Bahnsteig der S-Bahnstation herunterkam. Elias war ihm bis dorthin entgegengegangen, ohne selbst zu wissen, warum. Es war einfach ein Gefühl, das es besser war so, vielleicht, weil sie so mehr Zeit hatten zum Reden.

Die Überraschung weckte für einen Moment Dominics verschollen geglaubte Lebensgeister. „Du?“, wunderte er sich. Elias nickte. „Wegen heute Morgen“, sagte er. „Mir ist da was eingefallen … Vielleicht hast’s du’s auch schon probiert, dann …“ Dominic lächelte müde. „Sag schon!“, ermunterte er seinen Nachbarn. „Ich bin für jeden Tipp dankbar, echt. Ich könnte im Stehen einschlafen.“ „Na ja …“ Elias zögerte und kam sich plötzlich lächerlich vor – bestimmt hatte Dominic den Vorschlag mit den Ohrenstöpseln schon ein Dutzend Mal gehört! Aber zurück konnte er nicht mehr. „Ich dachte, vielleicht helfen Ohrenstöpsel“, sagte er schließlich rasch. „Aber auf die Idee bist du wahrscheinlich selbst schon gekommen, oder?“ „Schon“, bestätigte Dominic, aber er schien nicht böse zu sein, dass Elias mit einem Vorschlag um die Ecke gekommen war, der keinen Neuigkeitswert mehr hatte. „Funktioniert aber nicht.“ „Hörst du sie trotzdem?“, wollte Elias wissen. „Ein bisschen“, antwortete Dominic. „Aber das fühlt sich einfach so komisch an mit dem Zeug in den Ohren. Außerdem hab ich Angst, dass ich den Wecker dann auch nicht höre.“ Er grinste schief. „Wenn’s so weitergeht, höre ich den aber bald auch ohne Stöpsel nicht mehr.“

„Dann hilft wohl nur eins:“ Die Idee kam Elias ganz plötzlich. „Du pennst heute Nacht bei mir. Dann kannst du mal wieder ausschlafen.“ „Das wäre cool“, meinte Dominic. „Aber meinst du, deine Eltern erlauben das?“

Darüber hatte Elias sich keine Gedanken gemacht. Wann hätte er auch sollen? Die Idee war ihm ja gerade erst gekommen. Er glaubte aber nicht, dass es Probleme geben würde, normalerweise sperrten seine Eltern sich nicht, wenn er einen Freund bei sich übernachten lassen wollte. Unter der Woche sahen sie das zwar nicht so gern, sie befürchteten, dass die Jungs ewig wach blieben und dann in der Schule durchhingen, aber das war mit Dominic derzeit nicht zu befürchten. Okay, dass er am nächsten Morgen durchhing, war abzusehen, egal, wo er schlief, aber das lag daran, dass man den Schlaf, der ihm mittlerweile fehlte, in einer Nacht gar nicht wieder reinholen konnte. Wahrscheinlich würden die Eltern sich auch wundern, dass er Dominic einladen wollte, wo sie doch sonst nie etwas zusammen machten. Aber sie würden verstehen, warum, und es war ja nicht so, dass sie Dominic gar nicht kannten.

Um das zu klären, rief Elias seine Mutter auf dem Handy an. Er wusste, dass er das nur tun sollte, wenn es einen triftigen Grund gab, denn seine Mutter wurde nicht für private Gespräche bezahlt und würde die Zeit hinten dranhängen müssen. Aber die Sache schien ihm wichtig genug; theoretisch hätte es gereicht, die Frage nach Feierabend zu klären, aber Elias nahm an, dass es Dominic schon guttun würde, zu wissen, dass er mal wieder eine Nacht würde durchschlafen können.

Seine Mutter klang zunächst leicht besorgt, als sie sich meldete. „Darf Dominic heute bei uns schlafen?“, fragte Elias direkt. „Dominic?“, wunderte sich seine Mutter. „Seit wann …?“ „Na ja, ich hab ihn auf dem Weg zum Bus getroffen“, erklärte Elias. „Er hat mir erzählt, dass er total platt ist, weil er nachts immer aufwacht, wenn seine kleine Schwester schreit.“ „Oje!“, meinte seine Mutter. „Das glaube ich, dass er dann müde ist.“ Sie überlegte kurz. „Was sagen denn seine Eltern?“ „Die haben wir noch nicht gefragt“, gab Elias zu. „Ist mir gerade erst eingefallen. Ich hab ihn erst gefragt, ob er vielleicht mit Ohrstöpseln schlafen könnte, aber mit denen kann er nicht schlafen.“

Seine Mutter zögerte, und Elias konnte sich denken, warum. Auf der einen Seite wollte sie nicht nein sagen, weil sie sich vorstellen konnte, wie es Dominic ging, wenn er in seinem Zimmer regelmäßig vom Schreien seiner Baby-Schwester geweckt wurde. Auf der anderen Seite kannte sie ihn aber nicht so gut wie Elias’ Freunde, die häufiger zu Besuch kamen, und wusste, dass Elias Dominic so viel besser auch nicht kannte.

„Also gut“, sagte sie schließlich. „Wenn seine Eltern einverstanden sind, dann von mir aus. Ich schaue mal, dass ich nachher noch mit Rieke“ – Dominics Mutter, man duzte sich immerhin – „spreche. Vielleicht fällt mir noch was ein, so eine Phase kann dauern, und dauernd bei uns schlafen kann Dominic ja auch nicht.“

***

Dominics Mutter hatte keine Einwände, dass Dominic bei Elias schlief. Sie wusste, dass die beiden Jungen keine so enge Verbindung hatten, aber ein bisschen kannte man sich ja schon. Außerdem würde Dominic in der Nachbarwohnung auch nicht aus der Welt sein.

Der Rest blieb den beiden Jungen überlassen. Elias und Dominic verabredeten, dass Dominic gegen halb acht rüberkommen würde. Dann würden beide Familien fertig sein mit dem Abendessen, es würde aber auch noch etwas Zeit bleiben bis zur üblichen Schlafenszeit. Elias fand, dass es schöner wäre, wenn sie noch ein bisschen was zusammen machen konnten, ehe sie sich bettfertig machten. Er würde aber auch nichts sagen, wenn Dominic lieber gleich schlafen wollte, es war ja nicht zu übersehen, wie müde er war.

Im Nachhinein ärgerte er sich, dass er seine Mutter nicht gefragt hatte, ob Dominic schon zum Abendessen kommen durfte. Eigentlich wäre das besser gewesen, vor allem hätte es sich für Dominic sicherlich besser angefühlt, irgendwie normaler, als wenn er nur zum Schlafen kam. Doch dafür konnte er seine Mutter nicht noch mal bei der Arbeit stören.

Die hatte aber offensichtlich denselben Gedanken. Noch ehe Elias und Dominic zu Hause angekommen waren, schickte sie eine Nachricht, dass Dominic ruhig schon vor dem Abendessen kommen konnte. „Willst du?“, fragte Elias, nachdem er die Information weitergegeben hatte. „Gerne“, antwortete Dominic. „Sehr viel früher kann ich aber nicht, ich hab Training.“ „Tennis, oder?“ vergewisserte Elias sich. Darüber gesprochen hatten sie nie, aber er hatte Dominic schon einige Male mit einer Sporttasche aus dem Haus gehen sehen, aus der der Griff des Schlägers geragt hatte. Dominic nickte und erzählte, wann und wo er trainierte. „Viel früher bin ich auch nicht zurück“ kommentierte Elias die genannte Uhrzeit. „Bandprobe.“ „Du spielst in einer Band?“, wunderte Dominic sich. „Aber zu Hause übst du nicht, oder? Das hätte ich bestimmt mal gehört.“ „Ist so was im Jugendtreff“, erklärte Elias. „Einmal die Woche treffen wir uns zum Üben, und manchmal spielen wir, wenn da irgendwelche Partys sind. Bei einem Schulfest durften wir auch schon mal auftreten. Ich mache das Schlagzeug.“ „Und was spielt ihr so?“, erkundigte Dominic sich. „Querbeet“, antwortete Elias bereitwillig. Er zählte ein paar Titel auf, wirklich ein buntes Sammelsurium verschiedener Stilrichtungen. „Du kannst ja Bescheid sagen, wenn ihr das nächste Mal auftretet“, meinte Dominic. „Dann komme ich zuhören. Vorausgesetzt, ich bin bis dahin wieder in einem Zustand, wo ich nicht sogar zu Heavy Metal schlafe.“ „Kriegen wir hin“, versprach Elias, und er würde auf jeden Fall dran denken, Dominic zum nächsten Auftritt einzuladen. Er spürte, dass Dominic nicht nur aus Höflichkeit gefragt hatte, überhaupt waren sie ganz locker ins Quatschen gekommen, obwohl sie sich nur flüchtig kannten. Ein langer Abend wie sonst, wenn einer seiner Freunde bei ihm übernachtete, würde es nicht werden, aber er freute sich trotzdem darauf.

***

Um viertel nach sechs klingelte Dominic bei den Nachbarn, und Elias ließ ihn ein. „Genau richtig“, meinte er. „In zehn Minuten oder so gibt’s Essen.“

Das roch man schon, denn da Elias’ Eltern mittags nicht da waren, wurde abends warm gegessen. Elias witterte Knödel und hoffte, dass es wirklich nicht mehr länger dauerte; er hatte ordentlich Hunger.

Dominic konnte das nicht von sich behaupten, obwohl er beim Training wie immer viel gerannt war. Die Müdigkeit schlug ihm auf den Appetit, mehr als einen Knödel schaffte er nicht, während Elias gleich drei nahm und sich zum Schluss noch einen mit seinem Vater teilte. Zum Glück schienen Elias’ Eltern nicht verstimmt, weil er als Gast so wenig aß. Sie konnten sich wohl vorstellen, dass der Magen auch keine Lust hatte, wenn der Rest des Körpers auf Sparflamme lief.

Nach dem Essen nahm Elias Dominic mit in sein Zimmer. „Willst du gleich schlafen?“, fragte er. „Na ja“, antwortete Dominic vorsichtig, „so sehr lange möchte ich nicht mehr machen.“ Er sehnte sich nach einer ganzen Reihe von Stunden ungestörten Schlafs, aber gleichzeitig wollte er seinen Gastgeber nicht vor den Kopf stoßen. „Völlig klar“, sagte Elias und meinte es auch so. „Hier kannst du dich ausbreiten.“ Er deutete auf die Fläche vor seinem Schreibtisch, die er freigeräumt hatte, damit Dominic dort seine Isomatte und seinen Schlafsack ausrollen konnte. Ein Gästebett oder eine Schlafcouch gab es bei ihnen nicht. „Stört’s dich, wenn ich noch ein bisschen zocke? Den Ton mache ich aus.“ „Mach ruhig“, antwortete Dominic, nicht nur aus Höflichkeit dem Gastgeber gegenüber. Das Flackern des Bildschirms würde ihn nicht stören, er konnte sich ja in die andere Richtung drehen.

Er rollte Matte und Schlafsack aus und machte sich bettfertig. Auch Elias zog sich schon mal um und putzte sich die Zähne, weil er im Lauf des Abends auch nichts von Belang mehr machen würde. Außerdem schätzte er, dass er so später weniger Lärm machen würde, wenn er sich selbst schlafen legte.

Während Dominic in den Schlafsack schlüpfte, startete Elias die Spielekonsole, stellte den Ton ab und rief dann ein Rennspiel auf. Zu seiner Überraschung streckte Dominic sich und angelte sich den zweiten Controller von dem Tischchen, auf dem Konsole und Bildschirm standen. „Eine Runde fahre ich mit“, meinte er. „Falls du nichts dagegen hast.“ „Kennst du das Spiel?“, folgerte Elias, der ganz und gar nichts dagegen hatte, gegen ihn zu fahren. Zu zweit machte es ihm definitiv mehr Spaß.

Dominic nickte; er spielte das Spiel auch, allerdings in der PC-Version. Es gab kleine Unterschiede, was das Fahrverhalten der Boliden betraf, dadurch war Elias etwas im Vorteil, aber damit konnte Dominic leben. Vielleicht würde es ja irgendwann mal ein „Rückspiel“ geben, bei ihm am PC, dann hätte er den Vorteil. Vor allem aber ging es nur um den Spaß, zu einem Rennen auf höchstem Niveau hätte er gar nicht mehr die Konzentration aufbringen können.

***

Dominic hatte Spaß am Rennen gegen Elias und durchaus Lust, noch mehr davon zu fahren oder vielleicht auch andere Spiele auszuprobieren, die man gemeinsam spielen konnte. An diesem Abend aber behielten Vernunft und Müdigkeit die Oberhand, Dominic fuhr nur das eine Rennen und verzichtete nach der knappen Niederlage auf die Revanche. Danach legte er sich schlafen, und ob Elias noch ein neues Rennen startete oder etwas anderes machte, bekam er schon nicht mehr mit.

Das wurde belohnt, denn taufrisch fühlte er sich zwar nicht, als am nächsten Morgen der Wecker klingelte, aber doch deutlich besser als in den letzten Tagen. „War doch eine coole Sache!“, meinte Elias, als Dominic sich auf dem Weg zur Bushaltestelle noch einmal bei ihm für die Einladung bedankte. „Und wenn wir das noch mal machen, hältst du vielleicht ein paar Runden länger durch.“ „Wenn Mia durchschläft, mache ich dich komplett ein!“, kündigte Dominic an, und beide lachten.

Es war schon merkwürdig – drei Jahre lang hatten sie nebeneinander gewohnt, ohne wirklich Kontakt zu haben, und doch fühlte es sich so völlig normal an, zu reden und zusammen Spaß zu haben. Vielleicht hatten sie einfach den Anstoß gebraucht, um zu merken, wie gut sie sich verstanden. So gesehen mussten sie Mia fast dankbar sein, auch wenn sie noch viel zu klein war, um zu ahnen, was sie losgetreten hatte.