Autorenseite René Bote

Die falsche Helena

Cover des Buchs Die falsche Helena
18. November 2019
180
978-3750412354
Books on Demand

Mit seiner neuen Klassen­kameradin ver­steht Lennart sich auf Anhieb. Aber irgend­was ist merk­würdig an Helena: Warum spricht sie mit Ber­liner Dialekt, wenn sie von der Nordsee stammt? Und warum reagiert sie auf be­stimmte Themen aus­nehmend gereizt?

Als sie Lennart anver­traut, wer sie wirk­lich ist, beginnt für beide ein Aben­teuer, das sie Kopf und Kragen kosten kann.

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Taschenbuch €7,50

Autorenplauderei: Unter­tauchen

Man stellt sich leicht ein großes Aben­teuer vor, wenn man daran denkt, unterzu­tauchen und an einem anderen Ort unter einem anderen Namen ein völlig neues Leben anzu­fangen. Aber die Wahr­heit dürfte weit­aus weniger spannend und dafür nerven­auf­reibend sein. Auf der einen Seite ver­lieren die Betrof­fenen ihr gesamtes bis­heriges Leben, Freunde, teils sogar Teile ihrer Familie, die ver­traute Umgebung, viel­leicht Orte, an denen sie sich gerne aufge­halten haben, und lieb gewon­nene Gewohn­heiten. Auf der anderen Seite wird die Angst ein stän­diger Beglei­ter, die Angst, sich durch eine Unacht­samkeit zu ver­raten, die Angst, irgend­was über­sehen, eine Spur nicht ver­wischt zu haben, und nicht zuletzt auch die Angst, die wohl jeder hat, wenn er sich in einer neuen Umgebung zurecht­finden muss. Diese Gefühle sind auch Helena nicht fremd, sodass sie in meiner Ge­schichte keine entschlos­sene Heldin ist, sondern eine Getrie­bene, die ver­sucht, ihre Frei­heit zurückzu­gewinnen, die Frei­heit, ihr Leben nach ihren Vorstel­lungen zu gestal­ten.

Genau um 7:53 Uhr kam Lennart zum ersten Mal der Verdacht, dass dieser Montagmorgen nicht so werden würde, wie er es gewohnt war. Normalerweise war Dr. Wohlfahrt um diese Zeit nämlich schon da, der Klassenlehrer der 8c war dafür bekannt, eigentlich immer pünktlich zu kommen. Er unterrichtete Englisch und Geschichte, und er verstand es, den Stoff spannend rüberzubringen. Daher verziehen die Schüler ihm, dass er ihnen selten die eine oder andere Minute Unterricht ersparte, indem er nach dem Klingeln schnell noch einen Kaffee trank wie mancher Kollege.

Den meisten von Lennarts Klassenkameraden schien noch gar nicht aufgefallen zu sein, dass Dr. Wohlfahrt sich verspätete. Sie nahmen es, wie es kam, lasen, zockten auf dem Smartphone, quatschten oder kritzelten noch schnell Hausaufgaben hin, für die ihnen Tags zuvor der Nachmittag zu schade gewesen war. Drei Minuten waren ja auch keine so große Verspätung, es gab Lehrer, bei denen man sich eher wunderte, wenn sie so kurz nach dem Klingeln schon da waren. Vielleicht hatte Dr. Wohlfahrt im Stau gestanden, oder der Bus hatte sich verspätet, Lennart wusste nicht, ob er mit dem Auto oder mit den Öffentlichen zur Schule kam. Oder er war auf dem Flur angesprochen worden, auch davor war kein Lehrer sicher, und manchmal brauchte es dann auch mehr als nur ein oder zwei Sätze, um die Angelegenheit zu klären.

***

Um drei Minuten vor acht, also sieben Minuten nach dem Klingeln, begannen sich dann auch die anderen allmählich zu wundern, und um 7:59 Uhr wurde Mareike, die seit Beginn der sechsten Klasse Klassensprecherin war, entsandt, um im Sekretariat Bescheid zu sagen, dass die 8c immer noch vergeblich auf den Lehrer wartete. Die Achtklässler hätten sich nicht gegen eine unerwartete Freistunde gewehrt, aber sie wollten natürlich vermeiden, dass ihnen hinterher jemand einen Strick daraus drehen konnte. Wenn die Klassensprecherin Dr. Wohlfahrts Fehlen meldete, hatte die Klasse ihre Pflicht getan, alles andere war dann Sache der Sekretärin.

Mareike und ihre beste Freundin und Stellvertreterin Celine, die sie begleiten wollte, kamen jedoch nicht weit, Mareike wollte gerade nach der Türklinke greifen, als die ihr von außen entzogen wurde. Die Tür öffnete sich, und Dr. Wohlfahrt trat ein. Er war nicht allein gekommen, ein Mädchen war bei ihm, das Lennart noch nie gesehen hatte. Es musste dreizehn oder vierzehn sein, also im Alter der Achtklässler, und wirkte etwas verunsichert.

Die Rädchen in Lennarts Kopf drehten sich nur kurz und rasteten dann ein: eine Neue? Wenn Dr. Wohlfahrt das Mädchen beim Sekretariat abgeholt und dabei vielleicht noch ein paar Worte mit den Eltern gewechselt hatte, erklärte das natürlich die Verspätung. Ob das Mädchen überhaupt von den Eltern gebracht worden war, konnte Lennart zwar nicht wissen, aber er nahm es an. Seine Mutter hätte sich jedenfalls unter keinen Umständen davon abhalten lassen, ihn am ersten Tag zu bringen und sich den neuen Klassenlehrer anzusehen, wenn er aus irgendwelchen Gründen die Schule gewechselt hätte.

Das Mädchen schaute nur kurz in die Runde und richtete dann den Blick auf einem Punkt am Boden, ein paar Schritte vor seinen Füßen. Lennart konnte sich gut vorstellen, dass es sich gerade höllisch unwohl fühlte, ihm wäre in so einer Situation garantiert das Herz in die Hose gerutscht. Neu in eine Gruppe zu kommen, die sich schon länger kannte, und selbst niemanden zu kennen, war immer schwer. Man wusste nicht, wie die neuen Kameraden tickten und wer mit wem nicht konnte, die Fettnäpfchen, die auf jeden Neuen lauerten, waren zahlreich.

Dass einer von den anderen das Mädchen kannte und gewusst hatte, dass es neu in die Klasse kommen würde, schloss Lennart aus. Er brauchte sich nur kurz umzuschauen, die anderen waren alle genauso überrascht wie er. Außerdem hätte es sich längst rumgesprochen, wenn einer aus der Klasse auch nur gerüchteweise davon gehört hätte, dass sie eine Neue bekommen würden.

Während Mareike und Celine hastig an ihre Plätze zurückkehrten, schob Dr. Wohlfahrt das unbekannte Mädchen sanft Richtung Tafel. Um Ruhe brauchte er nicht erst zu bitten, denn die Achtklässler, die den Auftritt des Mädchens bis dahin halblaut diskutiert hatten, verstummten sofort, als sie sahen, dass er etwas sagen wollte.

„Das ist Helena Meteler“, stellte er das Mädchen vor. „Sie ist frisch hergezogen und ab heute eure neue Klassenkameradin. Magst du kurz selbst ein bisschen was von dir erzählen?“

Helena nickte, obwohl kaum zu übersehen war, dass sie sich lieber gleich hingesetzt hätte, am besten ganz hinten, wo sie aus dem Blickfeld der anderen raus war. „Ja, hallo“, begann sie unsicher, „ich bin Helena. Ich bin 13, und bis letzte Woche hab ich in einem Dorf in der Nähe von Bremen gewohnt.“ Offenbar ging sie davon aus, dass der Name ihres Heimatortes ohnehin niemandem etwas gesagt hätte. „Wir sind umgezogen, weil meine Mutter hier einen neuen Job hat.“

„Danke.“ Dr. Wohlfahrt nickte, zum Zeichen, dass das vorerst genügen sollte. Er besaß genügend Einfühlungsvermögen, um zu wissen, dass Helena sich etwas Besseres vorstellen konnte, als vor einer Klasse zu stehen, die sie nicht kannte, und von sich selbst zu erzählen. „Ich hab’s noch nicht geschafft, die Bücher für dich zu holen, du kriegst sie nachher.“ Die 8c hatte montags zweimal Unterricht bei ihm, Englisch in der ersten und Geschichte in der fünften Stunde. „Am besten setzt du dich erst mal, du hast die Wahl zwischen Lilian“, er deutete auf den freien Platz in der zweiten Reihe links vom Mittelgang, „oder Marvin.“ Diesmal zeigte er in die letzte Reihe, wo bei den Jungs noch eine Tischhälfte frei war. „Neben Lisa sitzt normalerweise Antonia, die ist aber anscheinend noch krank.“

Dankbar machte Helena sich auf den Weg, und wenig überraschend entschied sie sich für den Platz neben Lilian. Lennart nutzte die Gelegenheit, um sie genauer in Augenschein zu nehmen. Sie war ungefähr so groß wie er, eher ein kleines bisschen größer, und schlank. Ihr langes Haar war lockig und hatte ein etwas dunkleres Blond; Lennart wusste nicht, ob es für diese Farbe einen eigenen Namen gab, es war noch zu hell, um es dunkelblond zu nennen, aber eben auch nicht strohblond wie Linus, der zwei Plätze rechts von ihm saß. Ihr Gesicht wirkte nett, geschminkt schien es nicht zu sein, soweit Lennart das ohne jede Ahnung von Lippenstift, Eyeliner und Wimperntusche beurteilen konnte. Mit schwarzen Jeans, rotem Sweatshirt und einer leichten Jacke war sie bequem und der spätsommerlichen Witterung angepasst bekleidet. Auf dem Rücken trug sie einen schwarzen Schulrucksack, auf den sie offenbar selbst mit silbernem Lackmaler einen Teddy gezeichnet hatte. Der Rucksack schien ziemlich leer zu sein, was sollte sie auch eingepackt haben außer ihrem Pausenbrot, etwas zu trinken, Stift und Notizblock. Aber sie hatte offenbar schon damit gerechnet, dass sie auf dem Heimweg mehr zu tragen haben würde.

***

Nachdem Helena sich gesetzt hatte, bat Dr. Wohlfahrt die Jungen und Mädchen aus der 8c, sich selbst kurz vorzustellen. Weil die Klasse ja eigentlich Englisch hatte, sollten sie das auf Englisch tun, nach drei Jahren Unterricht durfte man erwarten, dass sie das konnten. Wenn einer ins Schleudern kam, weil er ein ausgefallenes Hobby hatte oder sonst etwas nicht auszudrücken wusste, dann half Dr. Wohlfahrt mit der entsprechenden Vokabel aus und verbuchte das als zusätzlichen Lerneffekt.

Als Lennart an der Reihe war, zu erzählen, wie er hieß, wie alt er war und was er machte, wenn die Schule aus war, hatte er das Gefühl, nur noch zigmal Gesagtes wiederzukäuen. Er war noch nicht ganz vierzehn, und von seinen Hobbys war keines irgendwie ungewöhnlich. Er spielte Fußball, hörte gern aktuelle Musik und las Kriminalgeschichten. Das war alles schon mindestens drei- oder viermal genannt worden, als er dran war, und merken würde sich Helena das sowieso nicht alles auf Anhieb. Selbst er wusste ja bei manchen Klassenkameraden nicht genau, was sie so in ihrer Freizeit machten, und er kannte sie immerhin alle seit über drei Jahren.

***

In der Pause hielt Helena sich zunächst an Lilian, die sie ein bisschen herumführte und ihr die wichtigsten Anlaufstellen zeigte. Lennart, der das zeitweise aus der Ferne verfolgte, hatte aber nicht den Eindruck, dass sich da eine innige Freundschaft entwickeln würde. Lilian wusste natürlich, was Dr. Wohlfahrt von ihr erwartete, auch wenn er es nicht ausdrücklich gesagt hatte, aber viele gemeinsame Gesprächsthemen schienen sie und Helena nicht zu haben. Deshalb war Lennart auch nicht überrascht, dass Lilian sich, sobald sie sich der Pflicht entledigt hatte, wieder zu ihren Freundinnen gesellte. Helena schien erst etwas unschlüssig, was sie machen sollte, kam dann aber recht schnell mit Nina ins Gespräch, und obwohl Lennart zu weit weg war, um auch nur ein Wort davon zu verstehen, sah es für ihn so aus, als ob die beiden sich auf Anhieb verstanden.

***

Zur fünften Stunde brachte Dr. Wohlfahrt wie versprochen die Schulbücher für Helena mit. Es war ein ganzer Stapel, offenbar hatte er sich mit den Kollegen abgesprochen, damit Helena nicht bei jedem Fachlehrer einzeln antreten musste, um das Buch für das jeweilige Fach in Empfang zu nehmen. Außerdem bekam sie eine kurze Liste mit ein paar Büchern, die sie selbst besorgen musste; darum sollte sie sich schnellstmöglich kümmern, damit sie im Unterricht nicht bei Lilian mit reingucken musste. Helena nickte nur, sehr begeistert war sie offensichtlich nicht von dem ganzen Stress. Lennart wusste, dass die Lehrpläne nicht in allen Bundesländern gleich waren, und er hoffte, dass Helena deswegen nicht zu viel Stoff würde nachholen müssen. Wenn ihr vor lauter Lernen kaum noch Freizeit blieb, dann würde es garantiert nicht einfacher werden, sich einzuleben und neue Freunde zu finden.

***

Wo in der Stadt sie wohnte, hatte Helena nicht verraten, als sie sich zu Beginn der ersten Stunde vorgestellt hatte. Erst nach Schulschluss stellte sich heraus, dass sie zumindest ein Stück weit den gleichen Weg hatte wie Lennart. Lennart hörte eine Stimme seinen Namen rufen, als er auf dem Weg zur Bushaltestelle über den Schulhof ging, und als er sich umdrehte, sah er, wie Lilian mit ausgestrecktem Arm in seine Richtung deutete und etwas zu Helena sagte. Helena nickte und setzte sich in Trab, offenbar hatte sie Lilian gefragt, wo der Bus abfuhr, den sie nehmen musste, und Lilian hatte ihr geraten, sich an Lennart zu halten. Lennart hatte nichts dagegen einzuwenden, ergab sich doch so für ihn die Gelegenheit, mal ein paar Worte mit Helena zu wechseln.

„Danke“, sagte Helena, als sie ihn erreicht hatte. „Lilian sagt, du fährst auch mit dem 37er?“ Lennart nickte. „Bis wohin musst du?“, erkundigte er sich. „Blumenstraße“, antwortete Helena. „Und du?“ „Akazienweg. Das ist zwei weiter.“ „Dann wohnen wir gar nicht so weit auseinander“, stellte Helena fest. „Oder musst du noch umsteigen?“ Lennart schüttelte den Kopf, er musste von der Haltestelle aus nur um die Ecke biegen und ein paar Dutzend Meter die Straße runter, dann war er zu Hause. Er fragte Helena nach ihrer Adresse, das waren von ihm aus zu Fuß gerade mal zehn Minuten und höchstens vier oder fünf mit dem Rad.

„Sag mal, hast du eigentlich auch mal in Berlin gewohnt?“, fragte Lennart, als sie die Haltestelle erreicht hatten. „Du sprichst so ein ganz kleines bisschen wie meine Oma, die hat als Kind da gewohnt, und den Dialekt hat sie immer noch.“

Für einen ganz kurzen Moment hatte er das Gefühl, einen merkwürdigen Ausdruck in Helenas Augen zu sehen, einen Ausdruck, den er nicht richtig einordnen konnte. Aber vielleicht hatte er sich auch getäuscht, denn als sie den Kopf schüttelte, war der Ausdruck weg. „Nein, nie“, antwortete sie. „Ich hab nie woanders gelebt als in Grasberg. Aber kann sein, dass ich mir ein bisschen was abgeguckt hab. Wenn ich irgendwas höre, das mir gefällt, dann übernehme ich das manchmal. Ich sag zum Beispiel auch Pfannkuchen statt Berliner, das ist ja glaube ich auch Berlinerisch.“ „Also zweisprachig“, stellte Lennart grinsend fest, und auch Helena lachte. „Und du?“, wollte sie wissen. „Ich meine, wohnst du schon immer hier?“ „In der Stadt, ja“, erzählte Lennart. „Als ich noch klein war, da haben wir in der Innenstadt gewohnt, aber als mein Bruder geboren wurde, da war ich drei, da war es schon ziemlich eng in der Wohnung, die wir damals hatten, und als ich dann auch noch eine Schwester gekriegt hab, da ging’s dann gar nicht mehr, und wir sind dahin gezogen, wo wir jetzt wohnen.“ „Wie alt ist deine Schwester jetzt?“ „Nächste Woche wird sie acht“, antwortete Lennart. „Wenn du dich also ganz schnell mit ihr anfreundest, dann kriegst du vielleicht noch eine Einladung zum Kindergeburtstag.“ „Mit Blindekuh und Topfschlagen?“, scherzte Helena. „Dann komme ich auf jeden Fall.“

Lennart verkniff sich die Bemerkung, dass er nichts dagegen hätte, das hätte wohl doch etwas merkwürdig geklungen, wo sie sich doch gerade erst ein paar Stunden kannten. Aber sie gefiel ihm, das konnte er jetzt schon sagen, und dass sie auf dem Schulweg den gleichen Bus nehmen musste wie er, versprach die Fahrten in Zukunft um einiges unterhaltsamer werden zu lassen als bisher.