Diese Geschichte ist ein Ratekrimi. Also aufgepasst, am Ende gibt es eine Frage zu beantworten. Findest du die Lösung?
Das Wetter meinte es gut mit den Geistern, Vampiren und Hexen, die am Halloween-Abend durch die Stadt streiften. Für Ende Oktober war es ziemlich warm, und kein Dunstschleier trübte den Blick auf die Sterne. Zu den gruseligen Dekorationen hätten ein wolkenverhangener Himmel und ein Hauch Nebel sicherlich besser gepasst, aber den verkleideten Kindern war wichtiger, dass sie ihre Runde durchs Viertel drehen durften. Das hätten viele Eltern bei Regen sicherlich nicht erlaubt, oder sie wären mitgegangen und hätten den Schirm über die Nachwuchsmonster gehalten; es gab wohl keinen Schwarzmagier, keine Blutsaugerin, den oder die dieser Gedanke nicht mit Schaudern erfüllt hätte.
Anette und Felicitas, beide elf, Cousinen und zugleich auch beste Freundinnen, mochten Halloween. Einige Nachbarn hatten Häuser und Gärten toll dekoriert, und die Kostüme der Kinder, die durch die Straßen zogen, waren auch nicht ohne. Den Vogel schoss sicherlich der Junge ab, dessen Gesicht so geschminkt war, dass es aussah wie zerbrechendes Glas, da waren die beiden sich einig. Wer auch immer das gemacht hatte, verstand sein Handwerk, es sah total echt aus.
Sie selbst verspürten keine Lust, von Haus zu Haus zu ziehen. Früher hatten sie es auch versucht, aber da waren sie acht gewesen, und es war einfach spannend gewesen, bei Dunkelheit noch draußen rumlaufen zu dürfen. Natürlich nicht allein, sie hatten sich mit einem Mädchen zusammengetan, das damals in ihrer Klasse gewesen war, und dessen große Schwester war als Aufpasserin mitgegangen.
An diesem Abend hatten sie sich mit Katharina verabredet, die seit dem fünften Schuljahr in ihrer Klasse war. Sie trafen sich öfter, und auch die Eltern kannten sich, sodass die Mädchen keine Mühe gehabt hatten, die Erlaubnis für eine Übernachtungsparty zu bekommen. Es versprach ein langer Abend zu werden, aber dem sahen die Eltern gelassen entgegen, denn am nächste Tag war ja keine Schule.
Noch war es nicht spät, gerade kurz nach sieben, und die drei Freundinnen aßen zu Abend. Katharinas Mutter hatte als Vorspeise eine Kürbissuppe gekocht, als Hauptgang hatten die Mädchen sich selbst ein Tablett mit Fingerfood fertiggemacht. Viel Aufwand hatten sie nicht gemacht dafür, einfach nur Cracker, die sie auf verschiedene Weise belegt hatten. Der Vorteil daran war, dass sie das Tablett mit nach draußen nehmen und immer wieder mal zwischendurch zugreifen konnten.
Hinter dem Haus, in dem Katharina mit ihren Eltern, zwei kleinen Geschwistern und einer Tante lebte, gab es einen Garten und direkt am Haus eine Terrasse. Ein Tisch und Stühle standen dort, Katharina hatte außerdem Kissen und Decken bereitgelegt. So eingepackt ließ es sich gut aushalten, und falls es wider Erwarten regnen sollte, würde Katharina die Markise ausfahren.
Wie sie neben dem Essen immer wieder auf ihren Smartphones tippten und wischten, sah nicht sehr nach Halloween aus, und auch nicht nett den anderen gegenüber, aber dieser Eindruck täuschte. Die Mädchen erzählten einander Gruselgeschichten, hatten aber keine Lust auf die üblichen Lagerfeuererzählungen. Die Sage von der bleichen Anhalterin, die sich plötzlich in Luft auflöste, kannten sie von der ersten bis zur letzten Strophe, und Geisterbusse mussten ein eigenes Liniennetz haben, so viel wurde davon erzählt. Das waren urbane Legenden, weltweit verbreitet, und riss wohl niemandem mehr vom Hocker, der älter als acht oder neun war. Anette, Felicitas und Katharina glaubten sowieso nicht an Geister, trotzdem fanden sie die angeblich echten Geschichten spannender. Vielleicht lag es daran, dass diese Geschichten subtiler waren, nicht so plakativ gruselig, und dass Ort, Zeit und Personen nicht so austauschbar schienen. Vielfach waren sie mit sogenannten „Lost Places“ verbunden, die durch das Wissen um ihre Vergangenheit schon gespenstisch wirkten, noch ehe man sie mit einer angeblichen Geistersichtung verband.
„Guckt euch das mal an!“, sagte Katharina und hielt ihr Handy hoch. „Wie Ufos.“ Das Foto zeigte einen futuristisch anmutenden, nie eröffneten Hotel- und Freizeitkomplex irgendwo in Asien, den die Natur langsam zurückeroberte.
Felicitas beugte sich vor, um das Foto besser erkennen zu können. Das war ihr Glück, denn den Bruchteil einer Sekunde später kam etwas aus der Dunkelheit des Gartens angeflogen und strich haarscharf über sie hinweg. Mit einem knisternden und klatschenden Geräusch knallte es hinter ihr an die Hauswand.
Im ersten Moment dachte Felicitas an einen Vogel, der sich verirrt und diesem Irrtum mit dem Leben bezahlt hatte. Dann stieg ihr ein ekliger Gestank in die Nase, und sie begriff: ein faules Ei, der Halloween-Klassiker bei Jugendlichen, die mit der Ausbeute des „Trick or Treat“ nicht zufrieden oder sowieso nur auf Randale aus waren.
„Den kaufe ich mir!“, rief Anette. Auch sie hatte begriffen, was los war. Sie sprang auf und huschte geduckt zur Seite weg. In einem leichten Bogen erreichte sie den Rasen und sprintete weiter in den hinteren Bereich des Gartens. Eine der Freundinnen war hinter ihr, sie hörte die Schritte, wusste aber nicht, ob es Felicitas oder Katharina war. Aus den Augenwinkeln sah sie weitere Eier fliegen, aber sie gingen weit an ihr vorbei. Offenbar hielt der Werfer weiter auf die Terrasse drauf, obwohl er eigentlich gemerkt haben musste, dass die Mädchen zum Gegenangriff übergingen.
Erkennen konnte Anette noch nicht viel, eigentlich wies ihr nur die Flugbahn der Eier den Weg. Der Werfer oder die Werferin musste schräg links vor ihr stehen, im Schatten des Kirschbaums. Noch sieben, acht Schritte, dann würde sie ihn erreicht haben.
Aber so lange wartete der Eierwerfer nicht ab. Ein Ei flog noch an Anette vorbei, dann warf der Schemen sich herum und gab Fersengeld. Sportlich war er, das musste man ihm lassen, er flankte aus vollem Lauf über den Zaun an der Rückseite des Gartens und sprintete über den Garagenhof, der sich daran anschloss.
Irgendwo gab es dort einen Bewegungsmelder, den er im Vorbeilaufen auslöste. Eine Lampe flammte auf und tauchte den Garagenhof in trübes Licht, das zumindest reichte, um nicht blindlings vors nächste Tor zu laufen. So konnte Anette zum ersten Mal Einzelheiten erkennen, der Werfer war ein Junge – das schloss sie aus der Statur – in einem dunklen Trainingsanzug. Vom Kopf sah sie nichts, der steckte unter einer Horrormaske, die wohl Frankensteins Monster darstellen sollte.
Die einzige Ein- und Ausfahrt lag rechts in der Mitte der Garagenreihe, doch der Eierwerfer rannte daran vorbei. Wäre Anette nicht so in Eile gewesen, ihm nachzusetzen, hätte sie sich gewundert, denn für sie sah es so aus, als würde der Junge geradewegs in eine Sackgasse rennen. Der Hof war an drei Seiten von Garagen umgeben, offen war neben der Einfahrt nur die Seite zu Katharinas Garten hin. Das musste der Flüchtende doch sehen!
Dann sah sie, dass es eine schmale Lücke gab zwischen den Garagen auf der linken Seite und denen vor Kopf. Rechts stießen die beiden Reihen rechtwinklig aneinander, aber die Breite des Hofs ließ sich offenbar nicht glatt durch die einer Garage teilen. Einen Zaun oder etwas anderes dort einzuziehen, um die Lücke zu schließen, hatten die Erbauer nicht für nötig befunden. Der Junge erreichte die Lücke und schaffte es, sich durchzuquetschen.
Wenig später hatte auch Anette den Winkel zwischen den Garagen erreicht. Verflixt, das war echt verdammt eng; obwohl sie schlank war, musste sie sich mit Gewalt durchquetschen. Das kostete sie Zeit, die sie nicht hatte, der Eierwerfer war längst um die nächste Ecke verschwunden, während sie noch dabei war, sich durch den Engpass zu zwängen.
Sie ignorierte die Schmerzen am Rücken, der unangenehme Bekanntschaft mit der rau verputzten Ecke der Garage gemacht hatte, und rannte weiter. Sie flog um die Ecke und stoppte dann abrupt. „Scheiße!“, fluchte sie herzhaft. Der Eierwerfer wusste, was er tat, er hatte seine Flucht gut vorbereitet. Irgendwo an der Ecke hatte er ein Fahrrad geparkt, und dass Anette erst mal durch die schmale Lücke hatte kommen müssen, hatte ihm genug Zeit verschafft, sich in den Sattel zu schwingen und außer Reichweite zu kommen. Keine Chance für Anette, ihn noch einzuholen.
Katharina, die ja auch das Problem mit der Engstelle gehabt hatte, schloss zu ihr auf. „Was ist?“, fragte sie außer Atem. „Weg!“, antwortete Anette knapp. Auch sie war außer Puste, obwohl sie gut trainiert war.
Nach ein paar Augenblicken berichtete sie. Katharina hatte den Werfer nicht mehr davonradeln sehen, er war schon außer Sicht gewesen, als sie Anette eingeholt hatte. „Macht nichts“, sagte sie trotzdem, sobald sie wieder halbwegs bei Atem war. „Ich weiß, wer es war.“
„Aus dem Fußballverein“, erklärte sie, als sie Anettes fragenden Blick sah. „Er hatte zwar diese blöde Maske auf dem Kopf, aber die Trainingshose war eine von unserem Verein.“ „Den könnten auch andere haben“, gab Anette zu bedenken. „Oder ist das ein spezielles Design extra für euren Verein?“ Das konnte sie sich nicht vorstellen, denn der Verein, bei dem Katharina spielte, war ein vergleichsweise kleiner Vorortclub, kein Bundesligist, der sich alles nach Maß anfertigen ließ. „Schon“, gab Katharina zu. „Aber hier in Düsseldorf sind wir der einzige Verein damit, und wenn sich einer den im Laden gekauft hat, hat er bestimmt keine Rückennummer draufmachen lassen.“ Das war zumindest unwahrscheinlich, gab Anette zu, und viel wahrscheinlicher war es auch nicht, dass der Werfer aus einer anderen Stadt kam, von einem Verein, den Katharina nicht kannte.
„Der Typ muss gewusst haben, dass wir auf der Terrasse sitzen“, mutmaßte Anette. „Die meisten schmeißen ihr Zeug doch von der Straße aus, wenn sie nichts kriegen. Oder meinst du, er ist ums Haus rum, weil er dachte, da erwischen ihn deine Eltern nicht so leicht?“
Katharina nagte an ihrer Unterlippe. „Ich glaube, das hat eigentlich gar nichts mit Halloween zu tun“, sagte sie. „Geklingelt hat er auf jeden Fall nicht, das hätten wir auch draußen gehört.“ „Na ja, vorhin haben schon ein paar geklingelt“, gab Anette zu bedenken. „So um kurz vor sechs oder so. Vielleicht war er da dabei.“ Katharina überlegte kurz, schüttelte dann aber den Kopf. „Glaube ich nicht“, wiederholte sie. „Nein, er will sich rächen, weil unser neuer Trainer die Aufstellung geändert hat.“ „Sitzt er seitdem auf der Bank?“, wollte Anette wissen. „Das nicht“, verneinte Katharina. „Aber einige von uns spielen seitdem eine etwas andere Position. Wir sind besser als letztes Jahr, wir stehen auf dem vierten Platz, letzte Saison waren wir nie besser als Sechster. Aber einige sind unzufrieden, weil sie sich umgewöhnen müssen, auch Yannik.“ „Aber wenn er deswegen nicht draußen sitzt, ist das doch auch für ihn gut, wenn ihr besser werdet“, wunderte sich Anette. „Außerdem hat das doch der Trainer entschieden, nicht du.“ Katharina zuckte mit den Schultern. „Schon“, räumte sie ein. „Aber für mich ist’s besser so, wie wir jetzt spielen. Ich kann die Bälle jetzt auch mal halbhoch oder ganz flach reinbringen, nicht nur hoch. Das hilft echt, jetzt kann viel öfter einer aufs Tor schießen oder köpfen nach meinen Flanken.“
Das leuchtete Anette ein, auf der einen Seite Katharina, die von der geänderten Aufstellung profitierte, auf der anderen Seite dieser Yannik, der das Gefühl hatte, nicht so gut weggekommen zu sein. Trotzdem fand sie den Racheakt idiotisch, nicht nur, weil Katharina trotz allem nichts für die Entscheidung des Trainers konnte.
Außerdem hatten die Eier echten Schaden angerichtet, wie sich zeigte, als Anette und Katharina zum Haus zurückkehrten. Sie fanden Felicitas und Katharinas Eltern in Katharinas Zimmer, in dem es bestialisch stank. Es ging zum Garten raus, und mindestens ein Ei war durchs offene Fenster geflogen. Eins war sicher: Hier würden die Mädchen nicht schlafen.
Doch das war noch das kleinste Problem. Von allem, was das Ei – vielleicht war es auch mehr als eins gewesen – hätte treffen können, hatte es ausgerechnet den aufgeklappten Laptop getroffen. „Ich fürchte, das ist hin“, erklärte Felicitas. „Das Zeug ist in die Tastatur gelaufen, das kriegst du nie wieder raus, und es stinkt bis in alle Ewigkeit.“ Ganz abgesehen von den technischen Problemen, die die Misshandlung nach sich ziehen würde, verklebte Kontakte und alles – Anette und Felicitas konnten sich nicht vorstellen, dass das Gerät noch ordnungsgemäß funktionieren würde. Das war nicht wie bei Wasser, das mit etwas Glück wegtrocknete, ohne bleibenden Schaden anzurichten. Wenn, dann konnte nur ein Spezialist etwas retten, und Felicitas fürchtete, dass es fast so viel kosten würde wie ein neues Gerät.
„Die Rechnung kriegt Yannik!“, kündigte Katharina grimmig an. Gleichzeitig rief sie auf dem Smartphone die Website ihres Vereins auf und dort ein Foto ihrer Mannschaft. „Hier!“, sagte sie, hielt Anette und Felicitas das Display hin und deutete auf den Jungen, der ganz rechts in der hinteren Reihe stand. Auf seiner Hose stand wie bei allen die Rückennummer, die 7 in seinem Fall. Anette konnte sich schon vorstellen, dass er die Bälle lieber hoch serviert bekam, sodass er seinen Größenvorteil ausspielen konnte. Vermutlich war es auch nicht leicht für die Verteidiger, ihn aus dem Zielbereich der Flanken abzudrängen.
Trotzdem schüttelte sie den Kopf, und sie sah, dass Felicitas das Gleiche dachte. „Er war das nicht“, sagte sie. Sie deutete auf einen Jungen, der in der vorderen Reihe kniete. „Er war’s.“ Katharina schüttelte den Kopf. „Unsinn!“, sagte sie. „Ausgerechnet Chris? Der würde sich das gar nicht trauen. Außerdem hab ich doch die Nummer gesehen.“
Weißt du, warum Anette und Felicitas sich ihrer Sache so sicher sind?
Auflösung