Es waren die ersten richtig warmen Tage des Jahres, und gleich stöhnten die Leute wieder über die Hitze. Es war nicht so, dass Johannes das nicht verstanden hätte, denn er fand knapp 30 Grad auch entschieden zu warm – er amüsierte sich nur immer wieder darüber, dass die gleichen Leute, die sich vor nicht allzu langer Zeit noch über den langen Winter beschwert und gemeint hatten, es müsste doch endlich wärmer werden, jetzt auch wieder nicht zufrieden waren. Tja, leicht hatte man es nicht als Wettergott, irgendwie konnte man es niemandem recht machen.
Johannes saß auf einem Mäuerchen am Rand eines kleinen Platzes im Zentrum des Stadtteils, in dem er wohnte. Der Platz lag im Winkel einer Straßenkreuzung, und gut die Hälfte der Häuser ringsrum hatte ein Ladenlokal im Erdgeschoss. Zu den Geschäften, die dort vertreten waren, gehörte auch eine Eisdiele, und die hatte in diesen Tagen eindeutig am meisten Zulauf. Den zweiten Platz mochte derzeit vielleicht der Friseur schräg gegenüber belegen, dank der Kunden, die sich die im Winter zu einem Wärmespeicher gewachsene Frisur auf ein sommertaugliches Maß lichten ließen.
Die niedrige Mauer, die den höchstens zwei Meter breiten Streifen Vorgarten einer Arztpraxis abschloss, lag anders als der größte Teil des Platzes im Schatten, aber selbst hier war es noch wärmer als Johannes es haben mochte. Er hatte sich ein Eis gegönnt, bevor er nach Hause musste, und weil er die Zeit noch hatte, hatte er sich entschieden, es lieber hier zu essen als unterwegs. Auf dem Rest seines Heimwegs gab es so gut wie keinen Schatten, und in der prallen Sonne hätte er gar nicht so schnell schlecken können, wie das Eis davonrannte. Selbst hier musste er ja schon aufpassen, dass er die Tropfen, die sich bildeten, mit der Zunge auffing, ehe sie außen an der Waffel runterliefen.
Während er sein Eis aß, beobachtete Johannes das gemächliche Treiben auf dem Platz. Niemand bewegte sich mehr als unbedingt nötig, selbst der ältere Herr, der wohl jeden Tag seine Runde durchs Viertel joggte, schien den Tempomaten heute ein gutes Stück niedriger eingestellt zu haben. Johannes kannte ihn nicht mit Namen und wusste auch nicht genau, wo er wohnte, sah ihn aber oft joggen, und das immer ungefähr um die gleiche Zeit.
Auch die meisten anderen kannte er zumindest vom Sehen, denn der Platz mit den Geschäften drumrum war kein Einkaufszentrum mit riesigem Einzugsgebiet. Hierhin kamen die Leute, die in der Nähe wohnten, wenn sie zwischendurch etwas brauchten, das waren auch nicht so wenige, denn sonst hätten sich die Geschäfte ja nicht halten können, am Ende aber doch ein überschaubarer Personenkreis. Das galt insbesondere auch für die Kinder und Jugendlichen, von denen die, die nicht noch im Grundschulalter oder darunter waren, auch fast alle auf die gleiche Schule gingen wie Johannes.
Umso mehr fiel dann natürlich jemand auf, der ihm noch nie über den Weg gelaufen war, wie das Mädchen, das jetzt an der Häuserzeile entlangging. Johannes stutzte und überlegte – nein, kein Zweifel, dieses Mädchen hatte er wirklich nie zuvor gesehen. Seidige rote Haare, helle, fast weiße Haut, grazile Gestalt, das wäre ihm garantiert im Gedächtnis geblieben. Unwillkürlich folgte er dem Weg des Mädchens mit den Augen und überlegte dabei, was es hier zu tun hatte. War es neu in der Gegend, frisch hergezogen? Oder nur zu Besuch?
Das Mädchen hielt auf die Eisdiele zu, an der reger Andrang herrschte. Die Tische, die der Wirt draußen aufgestellt hatte, waren sowieso bis auf den letzten Platz besetzt, und vor dem Verkaufsfenster standen bestimmt sieben oder acht Leute an.
Zu Johannes‘ Überraschung reihte das Mädchen sich nicht ein. Es blieb ungefähr drei oder vier Schritte vom Ende der Schlange entfernt stehen und starrte auf die Vitrine mit dem Eis. Drei, vier Minuten stand es bestimmt so, dann wandte es sich abrupt ab und ging auf dem gleichen Weg zurück, auf dem es gekommen war.
„Keine Lust auf Eis?“, sprach Johannes es spontan an, als es auf ihn zukam. Der Mund war viel schneller als der Verstand, sonst hätte er sich die Frage vielleicht verkniffen. Schließlich kannte er das Mädchen überhaupt nicht, und er war bestimmt kein Aufreißer, der mit jedem Mädchen schäkerte, das in seine Reichweite kam. „Gibt doch nichts Besseres bei der Hitze!“
Das Mädchen blieb stehen und zuckte mit den Schultern. „Macht mir nichts aus“, behauptete es. Das konnte Johannes kaum glauben, alle stöhnten doch unter den Temperaturen, selbst seine Mutter, und die war das verfrorenste Wesen, das er kannte! Aber das Mädchen wirkte tatsächlich erstaunlich frisch, es schwitzte nicht, so weit sich das erkennen ließ, und die Wärme schien es auch nicht so träge zu machen, wie Johannes sich derzeit fühlte. Kam es ihm nur so vor, oder ging sogar Kühle von dem Mädchen aus?
Es musste wohl wirklich so sein, denn als es sich verabschiedete und weiterging, spürte er die Hitze wieder umso stärker. Wie konnte das sein? Ein Kühlakku in der Tasche? Das war die einzige Erklärung, die ihm einfiel, die auch nur einen Hauch von Wahrscheinlichkeit zu besitzen schien, aber komisch war es schon. Er dachte noch darüber nach, als er zu Hause war, zwei Gläser Sprudel auf ex nahm und sich am Waschbecken kaltes Wasser über Hände und Unterarme laufen ließ.
***
Am nächsten Tag traf Johannes das Mädchen an der gleichen Stelle wieder. Er hatte darauf gehofft, dass es wieder vorbeikommen würde, denn irgendwie hatte es seine Neugier geweckt. Er konnte es nicht in Worte fassen, hübsch und geheimnisvoll war es, er wollte wenigstens versuchen, ein bisschen was herauszufinden. Das Risiko, abgewiesen zu werden, bestand natürlich, aber er wollte es zumindest versuchen.
Die Szene glich der vom Vortag aufs Haar: Johannes saß mit seinem Eis auf der Mauer, das Mädchen ging an ihm vorbei zur Eisdiele, holte sich dann doch kein Eis, und auf dem Rückweg sprach Johannes es an. Es hatte das gleiche helle Kleid an wie am Vortag, und er spürte auch wieder die Frische, die es verströmte. Bereitwillig blieb es stehen, und es nannte auch einen Namen: Mia.
Seine Frage, wo sie wohnte, beantwortete Mia mit einer vagen Armbewegung Richtung Nachmittagssonne. Das konnte irgendwo die Straße runter bedeuten, drei Straßen weiter oder auch im Nachbarstadtteil. Wahrscheinlich Letzteres, denn das erklärte auch, warum sie nicht auf seine Schule ging. Sie las gern, vertraute sie ihm an, und war gern Schwimmen gegangen. War? Johannes wunderte sich, aber als er nachfragte, erntete er nur ein Schulterzucken.
***
Am Abend zu Hause hörte Johannes zufällig ein Gespräch zwischen seinen Eltern mit. Die Mutter erzählte dem Vater, was sie von einer Freundin mitbekommen hatte: Nur ein paar Kilometer entfernt war vor einer Woche ein Mädchen von einem Auto angefahren worden. Es hatte sich am Nachmittag rasch ein Eis holen wollen, wahrscheinlich hatte es geguckt, bevor es die Straße überquert hatte, aber das Auto war viel zu schnell unterwegs gewesen. Obwohl das Mädchen scheinbar kaum verletzt gewesen war, war es nach ein paar Stunden im Krankenhaus gestorben, und gestern war es auf dem Friedhof, der zwei Straßen von Johannes‘ Haus entfernt war, beerdigt worden.
Plötzlich war Johannes alles klar, und er wunderte sich, dass er nicht erschrak. Es passte alles zusammen, der Zeitpunkt des Auftauchens, das Umkehren kurz vor der Eisdiele, die Kühle: Das Mädchen, von dem seine Mutter sprach, war Mia – Mia war ein Geist.