Autorenseite René Bote

Rakete von …?

Cover der Kurzgeschichte Rakete von ...?

Der letzte Tag des Jahres näherte sich dem Ende. Noch eine knappe halbe Stunde, dann würde das Feuerwerk losgehen. Besser gesagt: richtig losgehen, denn vereinzelte Böller wurden den ganzen Abend schon gezündet, und Funkes an der Ecke hatten schon um acht ein kleines Feuerwerk veranstaltet, damit ihre beiden Kinder es sehen konnten. Die waren erst vier und zwei und brauchten altersgemäß noch viel Schlaf.

 

Auch für Anette und Felicitas war es das erste Mal, dass sie bis zum Feuerwerk durchgehend wach bleiben durften. In den letzten Jahren waren sie immer ins Bett geschickt worden, zur üblichen Schlafenszeit oder etwas danach, und kurz vor Mitternacht geweckt worden. Jetzt waren sie elf und nach Ansicht der Eltern alt genug, um einen langen Abend zu verkraften.

 

Die beiden Mädchen waren Cousinen und zugleich beste Freundinnen. Silvester feierten sie traditionell mit der gesamten Verwandtschaft bei einer Großtante, was nicht zuletzt daran lag, dass die am Tag davor Geburtstag hatte. Zur Tradition gehörte ein Buffet, zu dem alle Gäste etwas beisteuerten, nach dem Essen verteilte sich die Gesellschaft: Die Erwachsenen fanden sich zu Grüppchen zusammen, die sich unterhielten, die Kinder spielten im Nebenraum. Anette und Felicitas hatten unter anderem zusammen mit einer weiteren, etwas jüngeren Cousine ein Ratespiel ausprobiert, das die zu Weihnachten bekommen hatte. Nachdem Jenny ins Bett – beziehungsweise ein Lager aus Isomatte und Decken – geschickt worden war, hatten sie ein paar Folgen einer Serie geschaut.

 

Jetzt lohnte es nicht mehr, noch eine neue Folge anzufangen, und ihnen stand auch mehr der Sinn nach frischer Luft. Noch gab es wenigstens welche, nach dem Feuerwerk würde die ganze Straße verqualmt sein.

 

Sie gingen durchs Wohnzimmer, nicht weiter beachtet von den Erwachsenen, und traten durch die Tür auf den Balkon. Links war die Wand, die den Balkon von dem der Nachbarwohnung trennte, nach rechts erstreckte sich ein schmaler Schlauch drei Meter vor der Wohnzimmerfront.

 

Unvermittelt blieb Anette, die voranging, stehen. Sie stand unter einer Laterne, die an einem Haken von der Decke hing, und fand spontan, dass es nett wäre, sie anzuzünden. Sie machte einen Schritt zurück, um an das kleine Türchen zu kommen und das Teelicht herauszuholen. Ein Feuerzeug fand sie in einem Korb mit Krimskrams, der in der Ecke des Fensters auf der Fensterbank stand. Sie zündete das Teelicht an, stellte es in die Laterne, schloss das Türchen und legte das Feuerzeug wieder an seinen Platz. Sie trat ans Geländer und stützte sich mit den Händen auf. Felicitas stellte sich neben sie.

 

Auf der Straße vor dem Haus war bereits Betrieb. Direkt gegenüber standen zwei Frauen vor der Tür und rauchten, rechts und links davon wurde offenbar schon gefeiert und das Feuerwerk vorbereitet. Rechts waren es überwiegend Jugendliche, links zwei Familien mit Kindern zwischen Grundschulalter und Mittelstufe.

 

Anette und Felicitas kannten nur eines davon, einen Jungen, der in der Klasse über ihnen war. Näher zu tun hatten sie nicht mit ihm, wussten aber, dass er ein ziemlicher Witzbold war. Er versuchte ständig, sich mit irgendwelchen vermeintlich lustigen Aktionen in den Vordergrund zu spielen, war dabei aber selten wirklich witzig und richtete oft genug Flurschaden an.

 

Bei den Jungs auf der anderen Seite war der Flurschaden Programm. Auch mit denen hatten Anette und Felicitas keinen direkten Kontakt, und sie legten Wert darauf, dass es auch so blieb. Da waren zwei oder drei bei, die ständig auf Krawall aus waren und sicher gleich auch wieder Ärger machen würden. Böller, die in Deutschland aus gutem Grund verboten waren, gehörten bei denen zum guten Ton, und sie warfen auf alles, was sich bewegte. Das hatte auch schon Ärger mit der Polizei gegeben, und es hieß, dass einer der Typen wegen Körperverletzung vorbestraft war. Wahrscheinlich ging auch der Mülleimer an der Bushaltestelle ein Stück die Straße runter auf ihre Kappe, der vor einem Jahr in Flammen aufgegangen war.

 

Felicitas beugte sich zu ihrer Cousine hinüber. Sie wollte ihr zuflüstern, dass sie hoffte, die Typen würden dieses Jahr mal friedlich bleiben, als etwas haarscharf über ihren Kopf hinwegzischte. Hätte sie sich nicht bewegt, dann wäre sie voll im Gesicht getroffen worden.

 

Auch so war es schlimm genug, denn der Lärm, mit dem das Ding hinter ihnen hochging, zerriss den Mädchen fast die Trommelfelle. Funken stoben, Felicitas spürte etwas Heißes am Arm, und es stank bestialisch.

 

Es dauerte einen Moment, bis Anette und Felicitas begriffen, dass jemand eine Rakete auf den Balkon, auf sie gefeuert hatte. Hastig duckten sie sich hinter die Brüstung, Anette packte beherzt einen brennenden Rest und warf ihn auf die Straße. Darauf, ob unten gerade jemand herlief, konnte sie keine Rücksicht nehmen, es war ohnehin Glück, dass die Rakete nichts in Brand gesetzt hatte. In erster Linie war das der Voraussicht ihrer Großtante zu verdanken, die möglichst alles weggeräumt hatte, was brennen konnte.

 

„Bist du okay?“, fragte Anette ihre Cousine. Ihr selbst klingelten noch die Ohren, und ihr Herz pochte wie wild vom Schreck, aber sie schien nichts abbekommen zu haben. Felicitas nickte. „Mein Pulli ist hin“, sagte sie mit einem Blick auf ihren Ärmel, in dem ein Brandloch von der Größe einer Euro-Münze prangte. „Aber mir ist nichts passiert. Dir?“ „Auch nicht“, antwortete Anette. „Aber verdammt, das hätte auch richtig übel ausgehen können.“

 

Als sie sich bewegte, knirschte etwas unter ihrem Fuß – Glas! Das Fenster hatte es zum Glück nicht erwischt, wohl aber die kleine Laterne. Die Scheibe in der Tür war gesprengt worden und lag in Scherben auf dem Boden. „Na warte!“, knurrte sie. „Dass der ein Blödmann ist, wissen wir, aber das war eins zu viel.“ Felicitas nickte und huschte geduckt zur Balkontür. Mal schauen, was die Eltern sagten, wenn sie bezahlen durften, was ihr Sohn mit seinem „Scherz“ kaputtgemacht hatte!

 

Woher wissen Anette und Felicitas, wer die Rakete gezündet hat?

 

Auflösung