Eine Kreuzfahrt war nicht das, was Alex sich für die Sommerferien gewünscht hat. Nur Marie, die auch nicht ganz aus freien Stücken an Bord ist, rettet vorerst seine Laune. Doch dann wird Alex plötzlich verdächtigt, Geld gestohlen zu haben, und nur Marie hält zu ihm. Zusammen mit ihr versucht er, Beweise für seine Unschuld zu sammeln, aber das ist gefährlicher, als er sich vorstellen konnte.
Autorenplauderei: Kreuzfahrten
Die Idee zu dieser Geschichte ist so alt, dass die vor der Umsetzung die Volljährigkeit erreicht hat. Ich habe ein bisschen überlegt, ob ich sie überhaupt noch umsetzen soll, denn in den 18 Jahren, die seitdem vergangen sind, hat sich bei vielen Menschen die Einstellung zu Kreuzfahrten stark gewandelt. Auf der anderen Seite sind Kreuzfahrten aber nach wie vor stark gefragt, und für mich sieht es auch nicht so aus, als würde der Markt so schnell einbrechen wollen. Damit ist die Geschichte nicht völlig aus der Welt gefallen, ein Hinweis an die Auswirkungen des schwimmenden Handlungsortes gehörte für mich aber unbedingt hinein.
Hoch ragte die Princess of Northern Sun über dem Kai des Kieler Hafens auf. Ob er das beeindruckend finden sollte, wusste Alex noch nicht so genau – okay, irgendwie schon, wenn man sie zum ersten Mal sah, aber er wusste, dass das Schiff unter den Kreuzfahrtdampfern eher ein Fliegengewicht war. Gerade mal knapp unter 1000 Passagieren hatten darauf Platz, die meisten Kreuzfahrtschiffe fassten das Fünf-, die ganz großen sogar das Zehnfache. Immer mit der entsprechenden vielköpfigen Besatzung natürlich, in der so ziemlich das gesamte Branchenverzeichnis vertreten war.
Doch auch wenn auf der Princess of Northern Sun gezwungenermaßen vieles eine Nummer kleiner war, was Kreuzfahrtgäste erwarteten, war da. Es gab Decks zum Flanieren, Restaurants, ein Schwimmbad, Fit- und Wellness-Bereich, Unterhaltungsangebote einschließlich Kino, spezielles Kinderprogramm und Abendveranstaltungen für die Erwachsenen.
Obwohl seine Eltern ein Paket gebucht hatten, mit dem er fast alles davon benutzen durfte, so viel er wollte, hielt sich Alex‘ Begeisterung arg in Grenzen. Auf der einen Seite waren Kreuzfahrturlaube schon aus Gründen des Klimaschutzes nicht das Nonplusultra, vorsichtig ausgedrückt. Auf der anderen Seite hatte Alex auch ganz persönlich keinen Bock darauf. Das Unterhaltungsprogramm war bestimmt lahm, davon war er überzeugt, und wahrscheinlich würden seine Eltern und er so ziemlich die Einzigen sein, die noch nicht im Rentenalter waren. Nichts gegen ältere Leute, aber acht Tage lang zwischen Hunderten davon eingekeilt zu sein, brauchte er dann doch nicht.
Wäre es nach ihm gegangen, wäre er zu Hause geblieben. Er wäre nicht allein gewesen, seine ältere Schwester Nina hatte sich erfolgreich geweigert, die Kreuzfahrt mitzumachen. Sie war allerdings auch schon 17 und konnte ein paar Tage für sich selbst sorgen; Alex war zwölf. Dass sie ihm in den Rücken gefallen wäre, als er mit seinen Eltern diskutiert hatte, was denn schon groß passieren sollte, wenn er mit ihr zu Hause blieb, konnte man ihr nicht vorwerfen. Beigesprungen war sie ihm aber auch nicht, und dass sie keinen Bock hatte, die Verantwortung zu übernehmen, überraschte Alex jetzt auch nicht so sehr. Welche große Schwester hätte das schon?
Der Zug war also abgefahren, Alex musste sich mit der achttägigen Reise anfreunden. Hoffentlich gab das Bordprogramm wenigstens irgendwas Brauchbares her! Ansonsten blieben nur die Landausflüge, die Princess of Northern Sun würde in der dänischen Hauptstadt Kopenhagen und in drei norwegischen Häfen anlegen.
Das Einchecken auf dem Schiff war schon eine Wissenschaft für sich. Obwohl Alex‘ Eltern die nötigen Angaben vorab online gemacht hatten, ging die Angestellte der Reederei noch einmal alle Daten durch und fragte nach, ob alles so stimmte. Alex und seine Eltern mussten ihre Ausweise vorzeigen, Alex‘ Eltern außerdem die Kreditkarte, über die alles abgerechnet werden würde, was an Bord extra kostete. Zuletzt wurden noch Passfotos gemacht, und danach mussten Alex und seine Eltern noch einmal ein paar Minuten warten, bis sie endlich ihre Bordkarten bekamen. Die Karte war auf dem Schiff Personalausweis, Kreditkarte und Kabinenschlüssel zugleich, sie zu verlieren war also nicht ratsam. Nun konnten Alex und seine Eltern aufs Schiff und bekamen von einem Steward ihre Kabinen gezeigt.
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Alex ahnte nicht, dass er nur ein paar Türen weiter eine Leidensgenossin hatte. Marie war so alt wie er und im Grunde aus demselben Grund am Bord wie er: weil die Eltern nicht erlaubten, dass sie allein zu Hause blieb. Allerdings wäre sie auch wirklich allein gewesen, sie war Einzelkind.
Sie reiste mit ihrer Tante, der ältesten Cousine ihrer Mutter. Tante Sonja war auch ihre Patentante, und sie hatten ein gutes Verhältnis. An ihr lag es nicht, dass Marie wenig Lust auf die Kreuzfahrt verspürte. Vielmehr stellte Marie sich das Bordleben ähnlich langweilig vor wie Alex, von dessen Einzug ein Stück den Gang hinunter sie noch nichts wusste.
Maries Eltern waren von Freunden eingeladen worden, Freunden, mit denen sie sich schon lange einmal wieder hatten treffen wollen. Ob es viel besser gewesen wäre, mit ihnen zu fahren, wagte Marie zu bezweifeln, auf dem Dorf, wo die Freunde wohnten, war wohl auch nichts los. Aber wenigstens hätte sie dort wandern gehen können, nicht nur vom Bug bis zum Heck eines Schiffes. Doch die Frage hatte sich nicht gestellt, denn für einen dritten Gast war das Haus nicht groß genug. Tante Sonja, die seit zwanzig Jahren jedes Jahr eine Kreuzfahrt machte, hatte das mitbekommen und vorgeschlagen, dass Marie doch mit ihr kommen könnte. Da Marie nicht allein zu Hause bleiben durfte und sonst auch keine Alternative anzubieten gewusst hatte, die ihre Eltern überzeugt hätte, war sie nun hier.
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Das Ablegen der Princess of Northern Sun verfolgte Alex vom obersten Deck aus. Seine Eltern meinten, das gehörte sich einfach so, und ihm war keine Ausrede eingefallen. Wenn er gesagt hätte, dass er lieber in der Kabine bleiben wollte, wären sie enttäuscht gewesen, und ständig seine Unlust raushängen zu lassen, würde ihm nicht helfen. Im Gegenteil, wenn er damit seinen Eltern die Stimmung vermieste, würde es nur Ärger geben, und vielleicht würde er sich damit selbst die eine oder andere Freiheit verbauen. Lieber erst mal mit den Wölfen heulen und schauen, was ging.
Das Deck war gesteckt voll, und alle wollten an die Reling, die das Deck zum Bug hin begrenzte. Das konnte natürlich nicht klappen, dafür hätte das Schiff 500 Meter breit sein müssen. Auch Alex und seine Eltern fanden keinen Platz mehr dort, immerhin aber einen an der Reling auf der Backbordseite; das war die linke Seite des Schiffs, rechts hieß in der Seemannssprache steuerbords.
Das Schiff zitterte leicht, als die Maschinen zu arbeiten begannen, zunächst noch mit geringer Kraft. Behutsam löste der Rumpf sich vom Kai und drehte den Bug in die Fahrrinne.
Alex sah nicht viel davon, eigentlich nur, dass der Streifen Wasser zwischen dem stählernen Schiffskörper und der gemauerten Wand des Hafenbeckens immer breiter wurde. Er fand das auch nicht so wahnsinnig spannend; als er im dritten Schuljahr mit der Klasse auf dem Ausflugsschiff auf dem Stausee gewesen war, da war es noch spannender gewesen, aber aus dem Alter war er raus. Vielleicht wollte er es auch nicht spannend finden, weil er fest davon ausging, in den nächsten Tagen vor Langeweile zu sterben.
Während seine Eltern versuchten, trotz des Gedränges ein paar brauchbare Fotos hinzubekommen, schaute Alex sich unauffällig die Mitreisenden an. Was er sah, war kein Freudenfest, auch wenn seine Befürchtung, nur er und seine Eltern würden den Altersschnitt nach unten ziehen, sich nicht bewahrheitete. Eine Reihe Leute waren zwar tatsächlich schon älter, ein paar schätzte Alex sogar auch gut über 80, aber es gab auch eine ganze Reihe von Familien mit Kindern. Allerdings war keines der Kinder in seinem Alter, alle waren deutlich jünger, neun, wenn es hochkam, die jüngsten vielleicht noch nicht mal im Kindergarten. Noch jemanden in seinem Alter sah Alex nicht, auch keine Jugendlichen oder jungen Erwachsenen. Toll, er steckte also genau in der Lücke!
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Marie konnte auf die Erfahrung ihrer Patentante zurückgreifen. Die wusste, dass das oberste Deck während der Abfahrt einem Ameisenhaufen glich, allerdings einem, der nicht nur scheinbar völlig unorganisiert war. Daher verfolgte sie die Abfahrt von einem der tieferen Decks, zusammen mit ihrer Tante. Der Ausblick war nicht schlechter, sie war immer noch hoch über der Wasserlinie, und einen Rundumblick gab es oben auch nicht; das verhinderten diverse Deckaufbauten.
Es gab noch ein paar andere, die sich die Abfahrt von hier besahen. Marie vermutete, dass das alles Leute waren, die schon die eine oder andere Kreuzfahrt erlebt und keine Lust hatten, sich durch das Geschiebe auf dem obersten Deck zu zwängen. Der Anblick hatte etwas Beruhigendes, denn Marie sah, dass mitnichten nur Rentner und Rentnerinnen an Bord waren, und die Leute trugen überwiegend ganz normale Kleidung. Tante Sonja hatte ihr zwar versichert, dass sie nicht die einzige Jugendliche unter lauter alten Leuten sein würde, und dass es an Bord längst nicht mehr so steif zuging wie früher, aber so ganz geglaubt hatte sie das irgendwie trotz allem nicht. Zumindest würde sie nicht auffallen, wohin sie auch kam, das war schon mal gut.
„Willst du dich ein bisschen umsehen?“, schlug ihre Tante vor, während Kiel langsam hinter ihnen zurückblieb. Sie selbst hatte keinen Grund, die Princess of Northern Sun zu erkunden, es war bereits ihre zweite Reise auf dem Schiff, die Reiseroute war indessen eine andere als beim ersten Mal. Für Marie dagegen war das alles neu, sie war noch nie auf einem solchen Schiff gewesen. Da ging es ihr wie Alex, der zwei Decks über ihr deutlich weniger Ausblick hatte: Ausflugsboote waren bislang das Einzige in diese Richtung, was sie kannte, in ihrem Fall zwei, die auf dem Rhein bei Köln verkehrten, und eins auf einem Stausee im Sauerland.
Da das Schiff in den nächsten acht Tagen ihr Zuhause sein würde, konnte es nicht schaden, sich zumindest ansatzweise mit ihm vertraut zu machen. Außerdem war sie schon neugierig, auch wenn sie nicht glaubte, dass sie sich irgendwann so für Kreuzfahrten begeistern würde wie ihre Tante.
Es gab eine App der Reederei, zu deren Funktionen auch eine Schiffsführung gehörte. Doch Marie traute sich nicht, sie zu benutzen, weil sie noch nicht durchschaut hatte, wie das mit der Internetnutzung an Bord war. Die Verbindung zum Mobilfunknetz an Land würde bald verloren gehen, das war ihr klar, und die Tarife für das schiffseigene W-LAN waren gesalzen. Es gab verschiedene Abstufungen, hatte sie gelesen, Pakete nur für E-Mail und WhatsApp, und wohl auch ein Komplettpaket. Das kostete allerdings am Tag fast so viel, wie sie im Monat an Taschengeld bekam, und sie wollte Tante Sonja nicht darum bitten, ihr das zu bezahlen. Also würde sie nur während der Landgänge ins Internet gehen, in Dänemark und Norwegen konnte sie ihr übliches Datenpaket nutzen, da hatte sie extra bei ihrem Anbieter nachgefragt. Ihren Freundinnen hatte sie Bescheid gesagt, dass sie genau deshalb eventuell nicht direkt auf Nachrichten reagieren, sich aber auf jeden Fall zwischendurch melden würde. Für ihren ersten Rundgang auf dem Schiff musste eine Skizze im PDF-Format reichen, die sie sich zu Hause schon aufs Handy geladen hatte.