Marie hätte sich denken können, dass der Neue in der Klasse sie, die beste Schwimmerin, nicht ganz freiwillig zum Wettkampf herausfordert. Natürlich steckt Lukas dahinter, der Supersportler, dessen Thron wackelt, seit Sven in die Klasse gekommen ist, aber das Spiel will Marie nicht mitmachen. Sie sorgt dafür, dass aus der erhofften Blamage ein Glücksfall für Sven wird, doch dabei wird sie tiefer in den Strudel der Ereignisse gerissen, als sie sich vorstellen konnte.
Der Sommer musste der heißeste seit Menschengedenken sein. Kein Wunder also, dass sich Maries Klasse jeden Tag fast vollzählig im Freibad traf. Heute war zum ersten Mal auch Sven dabei, der Neue, der erst zu Beginn des Schuljahrs, also vor einer Woche, zugezogen war. Soweit Marie wusste, kam er irgendwo aus Ostdeutschland, Magdeburg oder so, und hatte umziehen müssen, weil seine Mutter und sein Stiefvater hier in der Stadt ein kleines Geschäft übernommen hatten. Marie wusste nicht, wer ihn mit ins Freibad gebracht hatte, wohl einer aus der Clique um Bastian.
Sie wusste noch nicht so genau, was sie von Sven halten sollte. Eigentlich machte er einen netten Eindruck, aber er schien ein großes Ego zu haben. Dass er sportlich war, stand außer Frage, er lief fast so schnell wie Christoph, der der unbestrittene Champion der Klasse in dieser Disziplin war, und schlug im Armdrücken alle bis auf Lukas. Sein Können im Fußball hatte er dagegen mangels Gelegenheit noch nicht unter Beweis stellen können, obwohl er in seiner alten Heimat in seiner Altersstufe in der Landesliga gespielt haben wollte.
Während Marie mit ihren Freundinnen Wasserball spielte, machten die Jungs sich für einen Wettbewerb über die fünfzig Meter bereit. Genauer gesagt hatte Lukas Sven herausgefordert, was auch immer er damit beweisen wollte. Die beiden bestiegen nebeneinanderliegende Startblöcke am Rand des Schwimmerbeckens, und auf der anderen Seite baute sich Finn als Wettkampfrichter auf. Marie sah Sven und Lukas ins Wasser hechten, konnte aber den Verlauf des Wettkampfs nicht verfolgen, weil der Beckenrand im Weg war. Den Mienen nach, die sie zeigten, als sie aus dem Becken kletterten, musste aber Sven die Nase vorn gehabt haben. Während sein Kontrahent ein verdrießliches Gesicht zur Schau stellte, sah er triumphierend zu den Klassenkameraden, die am Beckenrand mitgelaufen waren und ihm jetzt Beifall klatschten.
Marie nahm es zur Kenntnis und konzentrierte sich wieder auf das Wasserballspiel. Gekonnt fing sie ein Zuspiel von Vera auf, täuschte kurz an und erzielte sicher das Tor für ihre Mannschaft, als Miriam in die falsche Richtung hechtete. Den Wettkampf der Jungs hatte sie schon wieder vergessen.
Dann standen plötzlich Finn und Markus am Rand des Nichtschwimmerbeckens, riefen ihren Namen und winkten ihr, näher zu kommen. „Moment!“ rief sie ihren Freundinnen zu. „Mal sehen, was die wollen!“ „Mitspielen!“ mutmaßte Vera, aber da schwamm Marie schon mit kräftigen Zügen zu den beiden Jungs hinüber. „Machst du ein Rennen?“ fragte Finn. „Gegen Sven?“ Marie zuckte mit den Schultern. „Warum nicht?“ meinte sie und stemmte sich mit beiden Armen am Beckenrand hoch.
Sie folgte Finn und Markus zu den Startblöcken, wo alle anderen Jungs aus der Klasse auf sie warteten. Sven musterte sie abschätzend und schien nicht zu befürchten, dass er gegen sie verlieren könnte, nachdem er gerade sogar Lukas geschlagen hatte, den stärksten Jungen der Klasse und besten Sportler neben Christoph, der sich aber aus Schwimmen nichts machte. Marie dagegen machte sich darüber keine Gedanken. Sie wusste, was sie konnte, und wenn er noch besser war, dann war es eben so. Die Welt würde davon nicht untergehen. Sie nickte Sven zu, stieg auf den Startblock und wartete geduldig ab, bis Finn wieder seinen Posten als Wettkampfrichter und Starter eingenommen hatte. Finn breitete die Arme aus, und Marie ging in die Hockstellung. Den Blick hielt sie auf Finn gerichtet, denn ganz abgesehen davon, dass es ringsherum ohnehin viel zu laut war, um zu hören, wie er die Hände zusammenklatschte, wusste sie, dass sie schon beim Start ein paar Hundertstel verlieren würde, wenn sie auf das Geräusch wartete. Sie konnte es sogar ausrechnen: Das Licht legte dreihunderttausend Kilometer in der Sekunde zurück, der Schall dagegen nur schlappe dreihundert, eine Sechstel-Sekunde würde sie also verschenken.
Sie hechtete ins Wasser, kam gut weg und nutzte den Schwung des Absprungs. Sven war nicht schlecht, das musste der Neid ihm lassen, aber das änderte nichts daran, dass sie mit jedem ihrer kräftigen, gleichmäßigen Schwimmzüge ein paar Zentimeter Vorsprung herausschwamm. Beine und Arme arbeiteten im Takt, Ein- und Ausatmen waren den Bewegungen angepasst. Nicht zur falschen Zeit atmen! Wenn sie dabei Wasser schluckte, würde sie das leicht eine Sekunde kosten. Den Takt halten!