Seit die Eltern sich getrennt haben, sieht Jan seinen Vater nur noch selten. Hauke ist Kapitän eines kleinen Frachters und immer unterwegs. Besuchen kann Jan ihn nur, wenn sein Schiff in einem Hafen in der Nähe liegt. Umso mehr freut er sich auf die Sommerferien, denn da darf er mitfahren auf der „Snippe Deern“: zwei Wochen Abenteuer, und dass er nicht weiß, wohin die Reise geht, macht die Sache erst richtig spannend. Doch das Wetter macht seine eigene Rechnung auf, und Jan bekommt mehr Abenteuer, als er sich je hätte vorstellen können. Zusammen mit Rieke, der Tochter von Haukes neuer Freundin, kämpft er im wahrsten Sinne des Wortes darum, sich über Wasser zu halten.
Autorenplauderei: Realität und dichterische Freiheit
Bei dieser Geschichte lag der Teufel im Detail, ich hatte einige Mühe, eine Möglichkeit zu finden, die Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass die Handlung sich so entwickeln konnte, wie ich sie sich entwickeln lassen wollte. Natürlich könnte ich mich als Autor auf die „dichterische Freiheit“ zurückziehen und sagen: Ist eben so, aber ich finde, wenn ich eine Geschichte in einer realen Welt spielen lasse, dann sollte ich mich auch an deren Gegebenheiten halten.
Auf in die Ferien!
Nervös schlenderte Jan auf dem einzigen Bahnsteig des Wattenscheider Bahnhofs auf und ab. Es war der erste Tag der zweiten Sommerferienwoche, und vor ihm lag eine Reise, auf die er sich riesig freute, obwohl er noch nicht einmal wusste, wohin überall sie ihn führen würde.
Jan war dreizehn und hatte gerade erfolgreich die siebte Klasse hinter sich gebracht. Wenn er sich selbst beschreiben sollte, dann fiel ihm meist nicht viel ein, weil er fand, dass an ihm nichts Besonderes war. Er war für sein Alter durchschnittlich groß, weder über-, noch untergewichtig, kein Kandidat für eine Modelkarriere, aber auch nicht hässlich, soweit er das selbst einschätzen konnte. Sein blondes Haar trug er recht kurz geschnitten, weil er das praktisch fand, und an seinem rechten Handgelenk oft ein Armband aus dunkelblauem Stoff. Wie viele Jungen interessierte er sich für Fußball, sowohl auf dem Platz, als auch an der Spielekonsole. Wege, die ihm zu Fuß zu weit waren, aber trotzdem nicht das Warten auf den Bus lohnten, legte er mit seinem Longboard zurück. Er hörte Rockmusik und manchmal Metal und hätte auch selbst gern E-Gitarre gelernt. Allerdings fehlte ihm ein Ort zum Üben, die Nachbarn hätten sich schön bedankt, wenn er in der Wohnung damit angefangen hätte. Sein Zimmer eigens zu dämmen, damit nichts nach draußen drang, oder irgendwo einen Proberaum zu mieten, wäre zu teuer gekommen.
Er hatte einen Halbbruder, Samuel, der nach den Sommerferien in die Schule kommen würde. Er verstand sich so gut mit Sammy, wie sich Brüder eben verstanden, sie gingen sich manchmal auf die Nerven, aber wenn es drauf ankam, war Jan für Sammy da. Auch mit seinem Stiefvater kam er gut aus.
Seinen leiblichen Vater konnte er dagegen nur selten treffen. Hauke Lorentzen war Kapitän eines Frachters und dementsprechend immer unterwegs. Meistens konnten sie deshalb nur telefonieren und videochatten. Umso mehr freute Jan sich, wenn Haukes Schiff in einem Hafen in der Nähe lag, und fuhr ihn dann besuchen, wenn es sich irgendwie machen ließ. Dafür nahm er auch mal eine knappe Stunde Zugfahrt in Kauf, und inzwischen kannte er so ziemlich alle Häfen und Liegeplätze im und rund um das Ruhrgebiet. Zuletzt hatte er sich im Mai in Dortmund mit seinem Vater getroffen, da war Hauke auf dem Dortmund-Ems-Kanal unterwegs gewesen.
Diesmal sollte es jedoch nicht bloß ein Besuch für ein paar Stunden werden, Jan würde mitgehen auf große Fahrt, oder was man eben so nannte. Eine Weltreise würde es nicht werden, die Snippe Deern – auf Hochdeutsch: Freches Mädchen – befuhr Flüsse, Kanäle und Küstengewässer, aber Jan würde bestimmt trotzdem viel zu sehen bekommen. Für zwei Wochen würde er seinen Vater begleiten, und wenn er dann immer noch Spaß daran hatte, dann würde er noch eine Woche dranhängen können.
Hauke würde ihn in Duisburg an Bord nehmen und mit ihm den Rhein hinunterfahren. In Nijmegen würden sie übernachten, dann sollte es am nächsten Tag weitergehen nach Rotterdam, um dort die Ladung zu löschen. Was nach Rotterdam kommen würde, wusste Jan nicht – vielleicht ging es auf dem Rhein zurück, auf die Maas, die Küste entlang nach Norddeutschland oder in die andere Richtung nach Belgien… Er würde sich überraschen lassen.
***
Eine Lautsprecherstimme kündigte den Regionalexpress an, und die letzten Worte gingen schon im Lärm des einfahrenden Zuges unter. Jan musste sich sputen, denn er hatte sein Fahrrad dabei und konnte damit nicht einfach irgendwo einsteigen. Er hatte versucht, abzuschätzen, wo die Spitze des Zuges mit dem Fahrradabteil zu stehen kommen würde, aber um einige Meter hatte er sich vertan. Für einen Wagenstandanzeiger, der für jeden Zug exakt die Position der einzelnen Wagen auflistete, war der Bahnhof zu klein, und die winzige Anzeige auf dem digitalen Zugzielanzeiger verriet lediglich, dass das Fahrradabteil vorne und die 1. Klasse hinten war.
Das Fahrrad mit auf die Reise zu nehmen, war ein Rat seines Vaters gewesen. Die Häfen lagen in der Regel nicht mitten im Stadtzentrum, zu Fuß würde Jan also lange unterwegs sein, wenn er einkaufen oder sich etwas anschauen wollte. Auch Hauke fuhr viel Fahrrad; für längere Strecken hatte er ein Auto an Bord, aber das mit dem Kran ab- und später wieder aufzuladen und an Deck zu verzurren, kostete natürlich Zeit. Ein Fahrrad dagegen konnte man einfach über die Reling hieven, und ein Spanngurt genügte, um zu verhindern, dass es bei Wellengang über Bord ging. Jan hatte auch überlegt, sein Longboard mitzunehmen, aber sein Vater hatte gemeint, mit dem Fahrrad würde er besser bedient sein.
Er lehnte das Rad an, machte es mit einem der Gurte fest, die dafür an der Wand angebracht waren, und setzte sich neben dem Vorderrad auf einen der Klappsitze. Sehr bequem fand er das nicht, vor allem, weil die Lehne auf halber Höhe des Rückens endete, aber für die zwanzig Minuten Fahrt bis nach Duisburg würde er es schon aushalten. Immerhin war er mit der Abfahrt am frühen Vormittag den Berufspendlern aus dem Weg gegangen, sonst hätte er wahrscheinlich stehen müssen. Um sich die Zeit zu vertreiben, holte er sein Handy aus der Tasche, schrieb kurz an seine Mutter, dass er im Zug saß, und startete dann ein Kartenspiel.
Zwei Runden schaffte er, die dritte brach er ab, als der Zugbegleiter Duisburg Hauptbahnhof als nächsten Halt ankündigte. Den Rest der Strecke würde er mit dem Rad fahren, in knapp einer halben Stunde würde er dann bei der Snippe Deern sein. Er hätte auch noch mal eine Etappe mit einer Regionalbahn fahren können, aber viel gebracht hätte ihm das nicht. Die Wartezeit beim Umstieg, die Fahrtzeit der Bahn und die Strecke, die er am Schluss trotzdem noch hätte radeln müssen, zusammengerechnet, hätte er nur ein paar Minuten gespart. Daher hatte er die Regionalbahn von Anfang an nur als Back-up eingeplant für den Fall, dass es regnete.
Willkommen an Bord!
Die Snippe Deern lag nicht im eigentlichen Hafen, sondern abseits davon an einem Kai, an dem sonst so gut wie nie Schiffe anlegten. Da Jans Vater nur für kurze Zeit in Duisburg festmachte, um Jan an Bord zu nehmen, war das die einfachste Lösung, Hauke sparte sich so die Formalitäten und die Liegegebühren.
Jan hatte sich den Weg sicherheitshalber ins Handy gespeichert, um sich notfalls lotsen zu lassen. Aber er war nicht zum ersten Mal in Duisburg, und der Liegeplatz der Snippe Deern lag unweit des Schifffahrtmuseums, das gut ausgeschildert war. Um viertel vor elf sah Jan den Rhein vor sich, und zwei Minuten später entdeckte er das Schiff seines Vaters.
Das Schiff sah so aus wie die meisten Frachter, die man auf dem Rhein beobachten konnte: ein langgestreckter Rumpf, bis auf einen weißen Streifen am oberen Rand schwarz lackiert, und ein einziges Deck, das fast komplett aus den Luken der Laderäume bestand. Die Decksaufbauten waren am Heck und weiß lackiert. Um auch an der Küste fahren zu dürfen, musste die Snippe Deern zusätzliche Anforderungen erfüllen, was Stabilität und Ausrüstung betraf, aber die Unterschiede sah nur ein Kenner.
Der Frachter war ein paar Jahre älter als Jan, aber gut gepflegt und technisch auf dem neusten Stand. Darauf legte Hauke Wert, schließlich hing von dem Schiff seine gesamte Arbeit und damit sein Lebensunterhalt ab. Außerdem war Hauke, was das betraf, ein Schiffer der alten Schule und fühlte sich seinem Schiff viel zu sehr verbunden, um es herunterkommen zu lassen. Er schaute immer, dass alles in Ordnung war, reparierte so bald wie möglich, wenn etwas kaputtging, und tauschte veraltete Technik aus.
Der Kapitän nutzte den kurzen Zwischenstopp, um die Zeitung zu lesen. Dafür hatte er sich einen Stuhl auf das kleine Deck gestellt, das vom Dach des Deckshauses gebildet wurde. Das Deckshaus überragte das Hauptdeck kaum um Manneshöhe, Jan wusste, dass der Boden drinnen etwas ins Hauptdeck eingelassen war, sonst hätte man in der Kajüte gar nicht stehen können. An drei Seiten begrenzte eine Reling das Deck, das Hauke spaßeshalber „Sonnendeck“ getauft hatte, bugwärts endete es an der Rückwand der Brücke. Die überragte das Deckshaus deutlich, konnte allerdings abgesenkt werden, bis das Dach mit der Oberkante der Reling dahinter abschloss; andernfalls wäre die Snippe Deern je nach Wasserstand und Ladung unter der einen oder anderen Brücke nicht durchgekommen.
Jan beschleunigte noch mal für die letzten Meter und bremste dann auf Höhe des Deckshauses. „Hallo, Papa!“, rief er und winkte, während er aus dem Sattel stieg. Sein Vater hatte ihn schon bemerkt und winkte zurück. „Hallo, Jan!“, antwortete er. „Glatt durchgekommen?“
„Glatt durchgekommen“, bestätigte Jan. „Wir können also gleich ablegen.“ „Gemach, gemach!“, bremste ihn sein Vater schmunzelnd, während er sich erst den Rucksack mit Jans Reisegepäck und dann das Fahrrad anreichen ließ. „So eilig haben wir’s nicht.“ „Nicht?“, wunderte sich Jan. „Du willst doch noch bis Nijmegen heute, oder?“ „Das hat sich nicht geändert“, bestätigte Hauke trocken. „Und das schaffen wir auch noch. Ist ja nicht so, dass die da zum Ladenschluss den Fluss verbarrikadieren würden.“
Jan kletterte an Bord und umarmte seinen Vater. Dann zurrte er sein Fahrrad an der Rückseite des Deckshauses fest und brachte seinen Rucksack in die Kammer, in der er schlafen würde.
Die Schlafräume lagen unter dem Deckshaus und waren relativ niedrig. Es gab zwei Einzelkabinen und zusätzlich einen engen Schlauch mit einer Koje auf jeder Seite, vor denen nur ein Vorhang für etwas Privatsphäre sorgte. Die Bauwerft hatte diese Schlafplätze für zwei Leichtmatrosen vorgesehen, sie wurden aber selten gebraucht, weil die Stammbesatzung der Snippe Deern neben Jans Vater nur noch aus einem Matrosen bestand. Jan kannte ihn von seinen Besuchen, Axel war ein gemütlicher Typ, konnte aber zupacken, und vor allem konnte man sich jederzeit voll auf ihn verlassen.
Jetzt hatte Jan ihn allerdings noch nicht gesehen, und das überraschte ihn. Er glaubte nicht, dass Axel einen frühen Mittagsschlaf hielt, und eine Ladung Bauholz musste man auch nicht ständig inspizieren. „Warten wir noch auf Axel?“, erkundigte er sich zurück an Deck. Sein Vater schüttelte den Kopf. „Axel hat Urlaub“, erklärte er. „Seine Schwester heiratet, und er meint, das würde wohl nicht allzu oft vorkommen, deshalb wollte er das nicht verpassen.“ Jan grinste, solche Sprüche passten zu Axel. „Wir nehmen ihn in Rotterdam wieder an Bord“, fuhr Hauke fort. „Du glaubst gar nicht, was das für ein Aufstand war, die Genehmigung zu kriegen, bis dahin ohne zweiten Mann zu fahren! Ich hoffe, dass wir bis Rotterdam nicht kontrolliert werden, sonst gibt’s bestimmt eine endlose Telefoniererei, ob das denn so wirklich seine Richtigkeit hat.“
Jan nickte, das war alles nachvollziehbar. Allerdings blieb dann immer noch die Frage, warum sein Vater nicht sofort ablegen wollte, er hatte ja schließlich nur in Duisburg festgemacht, um ihn an Bord zu nehmen. „Wart’s nur ab!“, forderte sein Vater ihn auf. Es machte ihm unübersehbar Spaß, Jan ein bisschen zappeln zu lassen. „Du wirst es ja erleben, gedulde dich einfach noch zehn Minuten!“