Das Freibad war so voll, wie man es an einem hochsommerlichen Samstag erwarten durfte: rappelsturzvoll. Auf der Liegewiese war nirgends mehr ein Fleckchen frei, auf dem man sein Badetuch hätte ausbreiten können, und die Schwimmbecken waren völlig überfüllt. Die Bademeister hatten Mühe, den Bereich vor den Rutschen freizuhalten, den Sprungturm hatten sie schon gesperrt, damit es keine Unfälle gab. Gut gefüllt war sicherlich auch die Kasse des Kiosks, der Eis, Süßigkeiten, kleine Speisen und Getränke verkaufte.
Frühaufsteher waren klar im Vorteil, vor allem die, die morgens schon an mittags gedacht hatten. Die Cousinen und besten Freundinnen Anette und Felicitas waren mit die Ersten gewesen und konnten sich jetzt darüber freuen, beim Picknick nicht der sengenden Sonne ausgesetzt zu sein. Sie hatten sich den Platz für ihre Badetücher noch aussuchen können und eine Stelle gewählt, die von einem Baum und der Hecke beschattet wurde, die die Liegewiese begrenzte.
Nach dem Essen und einer angemessenen Wartezeit – man sollte ja nicht mit vollem Magen direkt wieder schwimmen gehen – zog es die Mädchen wieder zurück ins Wasser. Eine Weile alberten sie mit einer Klassenkameradin herum, bis die sich verabschiedete, um sich ein paar Jungen aus der Siebten anzuschließen, die im Nichtschwimmerbecken ein Wasserballspiel begannen. „Kommt doch auch mit!“, sagte sie. „Wird bestimmt lustig.“ Anette und Felicitas, die eine ziemlich konkrete Idee hatten, mit welchem Jungen ihre Kameradin gerne in einer Mannschaft sein wollte, lehnten dankend ab. Das würde ohnehin nichts werden, das Becken war viel zu voll. Wenn die Jungs nicht von allein die Lust verloren, weil ihnen ständig andere Badegäste in Zuspiele und Torwürfe gerieten, würde vermutlich beizeiten das Personal die Partie abpfeifen.
Eher zufällig streifte Anettes Blick die Liegewiese. Plötzlich stutzte sie und kniff die Augen zusammen. „He, die klaut!“, entfuhr es ihr. „Komm!“ Dabei stützte sie schon die Hände auf den Beckenrand und stemmte sich aus dem Wasser. Ihre nackten Füße klatschten vernehmlich auf die Steinfliesen, und hinter sich hörte sie ihre Cousine, die ihr dichtauf folgte.
Doch die dicht an dicht liegenden Badetücher machten ein schnelles Fortkommen auf der Wiese unmöglich. Anette und Felicitas mussten im Zickzack laufen und ständig aufpassen, dass sie niemanden umrannten. Einmal stolperte Anette, ihre Cousine konnte sie gerade noch auffangen.
Als sie ihren Platz erreichten, war von der Diebin nichts mehr zu sehen. Aber getäuscht hatte Anette sich nicht, ihr Rucksack, den sie ganz sicher zugemacht hatte, war jetzt offen, und Felicitas‘ war umgekippt. „Meine Sonnenbrille ist weg!“, stellte Felicitas ein paar Sekunden später fest.
Damit hielt sich der Verlust insgesamt noch in Grenzen. Ihre Portemonnaies und auch die Handys hatten sie zum Glück eingeschlossen, den Schlüssel fürs Schließfach trug Anette ums Fußgelenk. Die Sonnenbrille war auch nicht besonders wertvoll, kein Designermodell, das man auf Ebay in einen satten Geldbetrag ummünzen konnte.
Trotzdem ärgerte Felicitas sich. „Weit kann sie noch nicht sein!“, meinte sie. „Komm, wir schauen, ob wir sie finden!“ „Wenn sie schlau ist, hat sie sich vom Acker gemacht“, gab Anette zu bedenken. „Obwohl … Wahrscheinlich hat sie keine Ahnung, dass wir sie gesehen haben.“ Selbst wenn jemand beobachtet hatte, wie sie die Sonnenbrille aus dem Rucksack genommen hatte, war das für sich nicht unbedingt eine Gefahr für die Diebin gewesen. Sie hatte einen Moment abgepasst, in dem auch die Handtücher in der Nachbarschaft verwaist gewesen waren, und eventuelle Augenzeugen weiter weg hatten wahrscheinlich nicht mitbekommen, wem die Sachen wirklich gehörten. Im Notfall hätte sie behauptet, eine Freundin zu sein, sie war auch ungefähr in Anettes und Felicitas‘ Alter, sodass die Behauptung durchaus glaubwürdig gewesen wäre.
Also streiften die beiden Mädchen los, ihrerseits bemüht, nicht so auszusehen, als würden sie jemanden suchen. In der Nähe des Ausgangs trennten sie sich, Anette postierte sich so, dass ihr nicht entgehen würde, wenn die Diebin das Freibad verließ, Felicitas ging weiter und näherte sich den Tischen vor dem Kiosk. Dabei kam sie auch an dem halb offenen Bau vorbei, der Umkleiden und Schließfächer schützte.
„Bingo!“, dachte sie, als sie einen Blick in den Gang zwischen den Schränken warf. Dort stand das Mädchen, das ihre Sonnenbrille gestohlen hatte, und räumte etwas in einen der Spinde. Die gestohlene Brille? Andere Beute, die sie in der Zwischenzeit gemacht hatte? Oder und?
Felicitas machte einen Schritt nach hinten, schaute zurück und winkte Anette, zu ihr zu kommen. Weil sie nicht rief und durch den einen Schritt zurück für die Diebin wieder im toten Winkel war, blieb das unbemerkt, und ein paar Augenblicke später war es für das Mädchen am Spind zu spät.
Ein Irrtum war ausgeschlossen, beide hatten sich das Äußere des Mädchens genau eingeprägt: blondes Haar, ein dunkler Badeanzug mit Verzierungen in einem Rot, das dem der Oberschenkel glich, am Handgelenk ein Armband aus dunklen Holzperlen und ein geflochtenes Freundschaftsarmband.
„Dein Beuteversteck, was?“, sprach Felicitas das Mädchen an. „Gib mir meine Sonnenbrille zurück!“ Die Diebin zuckte zusammen. „Ich weiß nicht, was du meinst“, behauptete sie trotzdem, aber Felicitas sah ihr an, dass sie sich höllisch unwohl fühlte. Dazu hatte sie allen Grund, vor allem, falls sie noch mehr gestohlen hatte als die billige Sonnenbrille. Felicitas ging sogar davon aus, dass die Sonnenbrille nur ein Trostpreis war, dass die Diebin es eigentlich auf Geld oder ein Handy abgesehen gehabt hatte. Man würde sehen, ob sie anderswo mehr Glück gehabt hatte.
Anette sah, dass eine Bademeisterin wenige Meter entfernt am Beckenrand entlanglief, hielt sie an und schilderte ihr die Situation. Die Diebin versuchte den Moment zu nutzen, um Felicitas wegzurempeln und abzuhauen, aber Felicitas war auf der Hut. Sie schubste die Diebin zurück, und ehe die sich überlegen konnte, ob sie einen zweiten Anlauf wagen sollte, war Anette mit der Bademeisterin da.
„Gut, dass Sie kommen!“, versuchte die Diebin die Rollen umzudrehen. „Die beiden wollen mich ausrauben!“ Das war schon deshalb unglaubwürdig, weil die Bademeisterin ja eben nicht zufällig gekommen war, oder weil sie etwas gehört hatte, sondern weil Anette sie geholt hatte.
Das war offenbar auch der Bademeisterin bewusst. Vermutlich musste sie öfters Streit schlichten und war daran gewöhnt, dass die Beteiligten unterschiedliche und einander ausschließende Ansichten hatten. Sie bat das Mädchen, sich zu beruhigen, und fragte es nach seinem Namen; die Diebin hieß Nelly.
Anschließend trugen Anette und Felicitas noch einmal ihre Beobachtungen vor. „Stimmt doch alles nicht!“, rief Nelly. „Ich war den ganzen Morgen im Wasser, ich bin eben erst raus, um was zu essen.“ „Das heißt noch lange nicht, dass du nicht an unsere Sachen gegangen sein kannst“, versetzte Felicitas. „Außerdem warst du nicht die ganze Zeit im Wasser, das steht fest, und wenn du da schon lügst …“
Die Bademeisterin machte eine beschwichtigende Geste. „Der Badeanzug trocknet bei dem Wetter schnell“, gab sie zu bedenken. „Das meine ich nicht“, beharrte Felicitas.
Weißt Du, warum Felicitas so sicher ist, dass Nelly lügt?
Auflösung