Eigentlich hatte die D-Jugend des SV Wacker den Klassenerhalt in der B-Liga schon geschafft. Und eigentlich sitzt Lena auch nur zufällig auf der Tribüne, als die Mannschaft sich doch noch einem Abstiegs-Endspiel stellen muss. Aber die Mannschaft kann jede Unterstützung gebrauchen, und da kann auch Lena nicht außen vor bleiben …
„Hey, Lena, hast du dich in der Tür geirrt? Das ist der 5er!“ Lasse versuchte, es flapsig klingen zu lassen, aber man hörte trotzdem, dass er sich wirklich wunderte. Okay, er hatte auch Grund dazu, denn normalerweise fuhr Lena tatsächlich nicht mit diesem Bus. Sie wohnte von der Schule aus gesehen fast genau in der entgegengesetzten Richtung und hatte auch keine Freunde im Westen der Stadt.
Das Schuljahr näherte sich dem Ende, und die Sechstklässler hatten schon nach der fünften Stunde frei, weil ihre Biolehrerin mit ihrer eigenen Klasse auf Klassenfahrt war. Sonst hätte Lasse wahrscheinlich gar nicht gemerkt, dass Lena in die „falsche“ Richtung fuhr, denn zum normalen Schulschluss waren die Busse vollgestopft bis zum Anschlag, trotz Einsatzwagen. Da musste man sich schon verdrehen, um den direkten Nachbarn ansehen zu können, geschweige denn, dass man den dritt-, viertnächsten Mitfahrer noch sah.
Falls Lasse erwartet hatte, dass Lena sich nun hektisch zum Ausstieg durchkämpfen würde, hatte er sich getäuscht. Sie war genau in dem Bus, den sie nehmen wollte, und Lasse würde sie auch in den nächsten beiden Tagen als Mitfahrerin erleben. Die Erklärung war einfach und auch kein Geheimnis, auch wenn sicherlich darüber getuschelt werden würde: Sie würde nicht zu Hause schlafen, sondern bei Samuel, der mit ihr und Lasse in die 6c ging.
Dahinter steckte keine Verabredung, die Lena aus freien Stücken getroffen hatte, aber sie beklagte sich nicht. Ihre Mutter musste dienstlich verreisen, sie war früh am Morgen nach Frankfurt gefahren und würde erst am Freitagabend wiederkommen. Sie hatte die Chance, innerhalb ihrer Firma eine neue Aufgabe zu übernehmen, die sie spannender fand als ihre bisherige Tätigkeit, obwohl ihr die auch gefiel, und die auch etwas besser bezahlt werden würde. Doch dafür musste sie eine Schulung mitmachen, und der Termin in Frankfurt war der einzige, der dafür infrage kam. Alle andere Angebote waren noch weiter weg, oder der Kurs fand erst wieder im Spätherbst statt.
Da die Dienstreise also zu diesem Zeitpunkt unvermeidlich war, wenn Lenas Mutter die neue Aufgabe übernehmen wollte, hatte sich natürlich die Frage gestellt, wo Lena in dieser Zeit bleiben sollte. Lenas Vater wohnte mit seiner neuen Frau zwei Autostunden entfernt, auch Großeltern und andere Verwandte, bei denen Lena vielleicht hätte unterkommen können, lebten nicht in der Nähe. Lena musste ja schließlich zur Schule, und sie wollte auch ihr Tischtennistraining am Donnerstag nicht verpassen. Wäre der Termin in die Ferien gefallen, dann wäre alles leichter gewesen, wahrscheinlich wäre Lena dann mitgefahren nach Frankfurt und hätte sich die Stadt angesehen, während ihre Mutter im Lehrgang saß.
Lena hatte vorgeschlagen, die beiden Nächte bei einer ihrer Freundinnen zu verbringen, aber sie hatte schon geahnt, dass das nichts werden würde. Sie hätte schon nicht die Nacht zum Tag gemacht, um dann am nächsten Morgen in der Schule durchzuhängen, und ihre Mutter wusste das auch. Doch es gab schlicht keine Freundin, wo sie mal eben drei Tage hätte bleiben können: Bei ihrer allerbesten Freundin, Henriette, zu Hause war schlicht kein Platz für einen Übernachtungsgast, und zu Daje oder Valentina wollte ihre Mutter sie nicht lassen. Die Eltern von Valentina, die seit drei Jahren Lenas Doppelpartnerin beim Tischtennis war, kannte sie nur flüchtig, sie hatte irgendwann mal mit Valentinas Mutter telefoniert, mehr nicht. Die Mutter von Daje kannte sie dagegen, seit Lena und Daje am Gymnasium in die gleiche Klasse gekommen waren, aber das Verhältnis war kompliziert. Während sie Daje mochte und sich immer freute, wenn sie zu Besuch kam, geriet sie mit der Mutter bei den Elternabenden in der Schule regelmäßig aneinander.
Wie ihre Mutter dann auf die Idee gekommen war, dass sie so lange bei Samuel bleiben könnte, wusste Lena nicht. Aber ihre Mutter kannte Samuels Eltern schon lange und verstand sich gut mit ihnen. Bevor ihre Eltern sich getrennt hatten, hatte Lena gar nicht weit weg von Samuel gewohnt, sie waren auch im gleichen Kindergarten gewesen. Auch als Lena nach der Trennung der Eltern mit ihrer Mutter umgezogen war, war der Kontakt nie abgerissen. Lena kannte die Ecke der Stadt also besser, als Lasse ahnte, und sie war auch heute noch regelmäßig dort unterwegs. Das bekam Lasse nur nicht mit, weil sie nicht direkt von der Schule zum Tischtennis fuhr. Samuel war sogar im selben Sportverein, der eine ganze Reihe von Abteilungen hatte, darunter auch eine Fußball-Sparte.
So ganz sicher war Lena sich noch nicht, wie die drei Tage bei Samuel wohl werden würden. Sie würde das Zimmer von Samuels Schwester Anna bekommen, die studierte und deshalb meistens nur am Wochenende zu Hause war. Sie und Samuel würden sich also nicht ständig auf der Pelle hocken, und wenn sie wollte, konnte sie sich aus dem Familienleben ausklinken. Allerdings schätzte sie, dass es sich merkwürdig anfühlen würde, in einem fremden Bett zu schlafen, im Bett einer Person, die sie eher flüchtig kannte. Das war noch mal was anderes als in einem Hotelzimmer, die Betten dort waren dafür gedacht, dass die Benutzer regelmäßig wechselten. Ob Anna den Gedanken wohl auch merkwürdig fand, dass jemand anderes in ihrem Bett schlief?
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Für den Nachmittag hatte Lena sich nichts vorgenommen, weil sie nicht gewusst hatte, ob es okay sein würde, wenn sie ihrer eigenen Wege ging. Vielleicht hatte Samuel ja auch den Auftrag bekommen, sich um sie zu kümmern, dann hätte sie ihn in Verlegenheit gebracht, wenn sie schon was anderes vorhatte.
Doch Samuels Eltern redeten Samuel und Lena nicht rein, sie konnten etwas zusammen machen, wenn sie Lust hatten, es wurde aber nicht von ihnen erwartet. Samuels Eltern erwarteten lediglich, dass Samuel sich Lena gegenüber nicht feindselig zeigte, aber das stand sowieso nicht zu befürchten. Sie verstanden sich gut, auch wenn sie normalerweise nicht so viel miteinander zu tun hatten, und Samuel musste wegen Lena auf nichts verzichten.
Am Nachmittag hatte er ein Fußballspiel, und als er sich auf den Weg zum Sportplatz machte, schloss Lena sich an. Ansonsten hätte sie gelesen, ein Buch hatte sie sich extra eingepackt, aber Samuel hatte sie gefragt, ob sie mitkommen wollte, und sie hatte nichts dagegen, sich das Spiel anzusehen. Ihr Fußballverstand hielt sich in Grenzen, aber um Samuel und seine Mannschaft ein bisschen anzufeuern, würde es reichen. Samuel freute sich, denn das Spiel war wichtig, sogar das wichtigste der gesamten Saison. Eine Niederlage würde den Abstieg in die C-Liga bedeuten, die unterste Liga in der Altersstufe. Eigentlich, hatte Samuel Lena erklärt, hatten sie den Klassenerhalt schon geschafft, zwar nur als Viertletzter und damit direkt vor den drei Abstiegsplätzen, aber mit genug Vorsprung, dass sie nie wirklich ernsthaft gefährdet gewesen waren. Dass sie trotzdem noch mal um den Klassenerhalt kämpfen mussten, verdankten sie dem Schwächeln der „Großen“ im Jugendfußball der Stadt. Gleich zwei von denen waren aus der D-Jugend-Bezirksliga abgestiegen, während aber nur eine Mannschaft aus der A-Liga aufsteigen durfte. Damit die A-Liga ihre vorgesehene Größe trotzdem behalten konnte, gab es einen zusätzlichen Absteiger, und das setzte sich nach unten fort. In der B-Liga gab es zwei Gruppen, und im direkten Duell der Viertletzten würde sich entscheiden, wer dafür büßen musste, dass andere das Klassenziel nicht erreicht hatten.