Diese Geschichte ist in der Welt meiner Buchreihe Freundschaft aus der Küche angesiedelt. Sie spielt zeitlich zwischen dem 3. Band und der Silvester-Kurzgeschichte, obwohl die früher entstanden ist.
Manchmal war Studienrat Pertel mit seiner 7c, deren Klassenlehrer er derzeit war, wirklich gestraft. Sicher, die meisten Jungen und Mädchen waren schon in Ordnung, die einen schüchtern, die anderen weniger, manche laut, andere eher still, hier welche, die sich leicht für den Unterricht begeistern ließen, dort ein paar, die sich gelinde gesagt zurückhielten. Das kannte er, er war seit 15 Jahren Lehrer und hatte hunderte Kinder und Jugendliche kommen und gehen sehen. Was es ihm mit seiner aktuellen Klasse manchmal schwer machte, war ein Konflikt, den ein Mädchen entzündet hatte, ohne etwas dafür zu können.
Pauline war im Frühjahr, also noch im letzten Schuljahr, aus Hamburg ins Ruhrgebiet gezogen. Ihre Mutter war alleinerziehend, das Geld, das der kleinen Familie zur Verfügung stand, nicht allzu üppig bemessen. Sie fühlte sich nicht arm, sie hatte alles, was sie brauchte, eben nur nicht in Massen und nicht von den teuersten Marken.
Für die kleine Clique um Klassensprecherin Anna, die es sich leisten konnte, sich über Geld und Statussymbole zu definieren, war Pauline damit ein perfektes Opfer. Doch Pauline ließ sich so leicht nicht unterkriegen, und sie hatte schnell Freunde gefunden in der Klasse. Sie war zupackend, handwerklich begabt, und sie konnte hervorragend kochen und backen. So hatte Anna eine Erfahrung machen müssen, die völlig neu für sie war: Sie bestimmte nicht, wer in der Klasse „in“ war, und, schlimmer noch, ihre eigene Beliebtheit nahm ab.
Als Reaktion darauf hatte sie – neben regelmäßigen Sticheleien – versucht, beim gemeinsamen Grillabend der Klasse ein Zeichen zu setzen. Pauline war seit den Sommerferien mit Robin zusammen, sie hatten sich zusammengetan, um für das Mitbringbufett zu backen, und Anna hatte alles daran gesetzt, um sie mit ihrem Gebäck zu blamieren. Was die beiden backen wollten, hatte sie von der Mitbringliste ablesen können, und sie hatte etwas Ähnliches bei einem teuren Partyservice bestellt. Weil sich ihre Hoffnung, die Klassenkameraden und -kameradinnen würden ihr gekauftes Gebäck bevorzugen, nicht erfüllt hatte, hatte sie schließlich sogar das von Pauline und Robin in den Müll geworfen. Wenigstens war sie erwischt worden, und Robin war es gelungen, die Stimmung, vor allem Paulines Stimmung, zu retten.
Für Anna hatte die Aktion eine Menge Ärger nach sich gezogen, und spätestens seitdem gab es nur noch wenige, die zu ihr hielten oder zumindest vermieden, sich gegen sie zu stellen. Man musste kein Hellseher sein, um vorauszusagen, dass sie zu Beginn des nächsten Schuljahres auch ihr Amt als Klassensprecherin verlieren würde; sollte Pauline sich zur Wahl stellen – vorschlagen würde sie bestimmt jemand – dann war es gut möglich, dass ausgerechnet sie Anna ablösen würde.
Der Grillabend lag inzwischen schon einige Wochen zurück. Mittlerweile war es Anfang Dezember, und zum Glück hatte Anna ihre Feindseligkeiten gegen Pauline in der letzten Zeit meistenteils auf abfällige Blicke beschränkt. Doch das war keine Einsicht, sondern Mangel an Gelegenheit, Pauline eins auszuwischen, ohne selbst Ärger zu bekommen.
Für die zweite Adventswoche hatte Herr Pertel, dem es wichtig war, die Klassengemeinschaft zu fördern, einen gemeinsamen Bummel über den Weihnachtsmarkt organisiert. Dem verschlossen sich selbst die nicht, die nicht Weihnachten feierten oder speziell mit Weihnachtsmarkt nichts am Hut hatten: Immerhin fiel dafür die Doppelstunde Englisch am Mittag aus.
Auch Pauline gefiel die Idee, auch wenn es sich für sie nicht so weihnachtlich anfühlte. Dafür konnte aber weder der Weihnachtsmarkt etwas noch Herr Pertel. Ein Teil der Lichter war noch aus, und die, die brannten, kamen im Licht eines wolkenverhangenen Tages längst nicht so gut zur Geltung wie nach Einbruch der Dunkelheit. Vielleicht enthüllte das Tageslicht auch einfach zu viel, was die Stimmung störte, wie Stromverteiler und Müllsäcke zwischen den Hütten, die bei Nacht nicht auffielen.
Von irgendwoher hatte Herr Pertel ein kleines Budget aufgetan, das reichte für einen Kakao für jeden und einen kleinen Snack an einem Stand, der Flammkuchen in etlichen Variationen verkaufte. Zumindest hoffte Pauline, dass ihr Klassenlehrer das nicht aus eigener Tasche bezahlen musste, denn sie überschlug die Kosten und kam auf einen Betrag von knapp unter 200 Euro.
Wer mehr essen oder trinken wollte, musste das selbst bezahlen. Viele verzichteten und begnügten sich mit Kakao und Flammkuchen, denn sie sahen ja die Preise an den Ständen, und taschengeldfreundlich war irgendwie anders. Michele, der eigentlich immer Hunger hatte, holte sich noch eine Portion Pommes, und Philippa und Enya teilten sich noch ein Stück Flammkuchen. Möglicherweise hatten sie dafür etwas Geld von ihren Eltern mitbekommen.
Auch Annas Eltern hatten den Weihnachtsmarktbesuch ihrer einzigen Tochter vielleicht bezuschusst, obwohl Anna auch so üppig genug Taschengeld bekam, um sich nicht einschränken zu müssen. „Gehen wir da rüber?“, schlug sie ihren Anhängerinnen Maike und Estefania vor und deutete auf einen Stand, der Naschkram verkaufte: Paradiesäpfel, gebrannte Mandeln, Popcorn und verschiedene Sorten mit Schokolade überzogenes Obst. Sie sprach so laut, dass die Umstehenden gar nicht umhinkamen, mitzuhören, und das war offensichtlich Absicht. „Die sind zwar teuer, aber dafür schmeckt das Zeug auch. Kommt, bevor der Pertel sagt, wir dürfen nicht, weil welche sich das nicht leisten können!“ Den Blick, der dabei Pauline traf, hätte es gar nicht mehr gebraucht, auch so wussten alle, wem die Anspielung galt.
Pauline kannte Annas Gehässigkeit inzwischen zur Genüge, trotzdem konnte sie nicht verhindern, dass es ihr doch ab und an einen Stich gab. Aber sie hatte sich Mechanismen antrainiert, sich nichts anmerken zu lassen, und auch diesmal sahen nur ihre besten Freunde ihre Verärgerung.
Robin und Marlene, die sie am allerbesten kannten, hielten sich mit einer Reaktion zurück. Sie wussten, dass Pauline am liebsten gar nicht auf die Provokationen einging und damit wohl auch recht hatte. Jede Reaktion würde Anna das Gefühl geben, etwas bewirkt zu haben, und je heftiger die Reaktion, desto größer Annas Befriedigung.
Auf der anderen Seite konnte man Anna aber auch nicht alles durchgehen lassen, denn das wiederum hätte sie als Bestätigung genommen, dass sie sich alles erlauben konnte. Eine klassische Zwickmühle, aus der man nur mit einer gehörigen Portion Kreativität wieder rauskam.
„Na, gut sind so Schokobananen schon“, sagte Friederike, und dass sie ihrerseits so laut sprach, dass Anna, Maike und Estefania es hören mussten, war ebenso wenig ein Versehen wie bei Anna Augenblicke zuvor. „Aber die Preise hier sind heftig. Sag mal, Pauline, braucht man da irgendwelche besonderen Geräte für, oder kann man das auch einfach zu Hause machen?“ „Wenn ein Topf für dich ein besonderes Gerät ist, dann brauchst du eins“, antwortete die schmunzelnd. Sie ahnte, worauf ihre Klassenkameradin hinauswollte, und hatte nichts dagegen. „Sonst nicht. Ja klar kann man das selbst machen, ist auch gar nicht so schwer.“ „Du weißt, wie’s geht?“, hakte Friederike nach, obwohl sie sich die Antwort denken konnte. „Dann heute Abend Weihnachtsmarkt bei mir auf der Terrasse, okay?“, schlug sie vor, als Pauline nickte. „Wir machen uns Schokofrüchte und Kakao, ein bisschen Weihnachtsmusik, und dann machen wir’s uns gemütlich.“
„Armselig!“, ließ Anna sich vernehmen, ein Höchstmaß an Verachtung in der Stimme. „Wie kann man nur so neidisch sein?“ „Frag dein Spiegelbild!“, versetzte Marlene. Damit traf sie vermutlich den Nagel auf den Kopf, denn die Gemeinschaft, die Stimmung, die dieser private Weihnachtsmarkt versprach, würde Anna sich für noch so viel Geld nicht kaufen können.
Als Antwort auf die Provokation genügte das, Anna wusste jetzt, dass sie ihre Mitschülerinnen und Robin, der selbstverständlich dabei sein würde, auf eine richtig gute Idee gebracht hatte. Das war das Gegenteil von dem, was sie sich vorgestellt hatte, und würde ihr nicht nur die Schokofrüchte vom Stand schräg gegenüber vergällen. Wahrscheinlich würde sie sich den ganzen Nachmittag über schwarzärgern, wenn sie daran dachte, dass Pauline und die anderen zur gleichen Zeit bei Friederike richtig viel Spaß hatten.
Den Rest verabredeten Pauline, Robin, Friederike und Marlene leise. Sie passten nicht besonders auf, dass wirklich niemand mithörte, provozierten es aber auch nicht. Friederike schickte ihren Eltern eine Nachricht, dass ihre Freunde kommen würden, und fragte nach, ob sie für eine Weile die Küche blockieren durften.
Von ihren Eltern aus war das kein Problem. Damit stand die Verabredung, um vier würden sie sich bei Friederike treffen. So hatte jeder noch Zeit für die Hausaufgaben, und Friederike kündigte an, dass sie ein paar Sachen raussuchen würde, mit denen die sie Terrasse dekorieren konnten.
„Was brauchen wir denn alles für die Schokofrüchte?“, wollte sie dann wissen. „Früchte“, antwortete Pauline trocken. Viel mehr war es auch tatsächlich nicht, Kuvertüre und etwas zum Aufspießen kamen noch dazu. Da Marlene Spieße aus Blech von zu Hause würde mitbringen können, brauchten sie dafür nicht eigens etwas zu kaufen, und auch die übrigen Zutaten gingen nicht von ihrem Taschengeld ab. Kuvertüre hatte Pauline noch genug zu Hause in der Kiste mit den Backzutaten, und verschiedenes Obst konnten sie, Robin und Friederike beisteuern. Aber selbst wenn sie alles hätten kaufen müssen, hätten sie dafür kaum mehr bezahlt als Anna eben für ihre Schoko-Erdbeeren; die hatte einen Fünf-Euro-Schein hingelegt und kein Rückgeld bekommen. Natürlich bezahlte sie die Arbeit mit, die Standmiete, und Erdbeeren waren im Winter teurer, völlig ungerechtfertigt war der Preis vielleicht nicht. Aber damit konnte man so oder so umgehen, es war ein Unterschied, sich etwas zu gönnen und für sich zu entscheiden, dass es einem den Preis wert war, oder zu kaufen, um herauszukehren, dass man es sich leisten konnte.
Aber das war jetzt Annas Problem, Pauline hatte den Vorfall schon abgehakt und freute sich auf das adventliche Treffen bei Friederike, das sich daraus ergeben hatte. Auch wenn Friederike die Idee im ersten Moment nur als Antwort auf Annas Gehässigkeit aufgebracht hatte, würde das sicherlich keine Rolle mehr spielen, wenn sie später zusammensaßen.
Pauline war die Erste, die bei Friederike eintraf, das ergab sich aus den unterschiedlichen Fahrtzeiten der Busse. Friederike war noch dabei, Decken und Kissen zusammenzusuchen, damit sie sich auf der Terrasse gemütlich einkuscheln konnten. Pauline half ihr, und sie hatten auch schon eine Lichterkette angebracht, als schließlich auch Robin und Marlene eintrafen.
„Ihr seid ja schon richtig weit!“, stellte Marlene fest. „Ich hoffe, ihr habt uns auch noch was zu tun übrig gelassen!“ „Du kannst dich gleich in der Küche nützlich machen“, frotzelte Pauline. „Da gibt’s für alle genug zu tun.“ „Okay“, antwortete Marlene. „Du weißt, wie’s geht, wir folgen dir.“
Pauline ging davon aus, dass Marlene und die anderen das durchaus auch ohne sie hinbekommen hätten. Es war ja auch wirklich nicht schwer, die Kuvertüre musste erwärmt werden, und sobald sie schmolz, konnte man das Obst hineintunken oder mit der flüssigen Kuvertüre bestreichen. Friederike machte Wasser heiß, schüttete es in eine große Auflaufform und ließ drei Metallschüsseln darin schwimmen, eine für jede Sorte Kuvertüre, die Pauline mitgebracht hatte. Marlene kam die Aufgabe zu, die Kuvertüre mit dem Messer zu stückeln, damit sie schneller schmolz, und sie während des Erwärmens zu rühren. Robin und Friederike schälten Mandarinen und Bananen und bereiteten mundgerechte Stücke vor. „Wir haben noch Pfirsiche“, fiel Friederike ein. „Zwar aus der Dose, aber … Gehen die auch? Und Äpfel?“ Pauline zuckte mit den Schultern. „Noch nie gehört als Schokofrüchte“, gab sie ehrlich zu. „Aber sollte. Probieren wir’s aus!“
Also holte Friederike das Obst, gab es Robin zum Schnippeln und schwatzte ihrer Mutter noch einen weiteren Block Kuvertüre ab. Dass ihre Eltern anschließend auch etwas von den Schokofrüchten bekamen, verstand sich von selbst, auch Pauline packte zwei bunte Spieße für ihre Mutter ein und Robin für seine Eltern; nur Marlene meinte, dass ihre Eltern darauf nicht so scharf wären.
Mit einem hoch vollgestapelten Teller setzte sich das Quartett nach draußen. Es war bereits dunkel, obwohl es noch weit vor fünf Uhr war; lange war es ja nicht mehr hin bis zum kürzesten Tag des Jahres. Es war kühl, und ab und zu nieselte es, aber mit heißem Kakao und gut in Kissen und Decken eingepackt, war es urgemütlich. Marlene ließ auf dem Handy leise Weihnachtsmusik laufen, die vier erzählten Anekdoten und Weihnachtsgeschichten und stellten einander Rätselfragen. An Anna, die das Ganze mit ihrem Verhalten auf dem Weihnachtsmarkt angestoßen hatte, verschwendeten sie keine Gedanken. Dafür ging Pauline durch den Kopf, dass die kleine Runde genau das war, was Weihnachten im Kern ausmachte: das sorgenfreie Zusammensein mit Menschen, die einem lieb waren.