Angst? Den Vorwurf können Maya und Serena nicht auf sich sitzen lassen. Natürlich trauen sie sich zum Hexenhof, dem alten Bauernhof am Ortsrand, der selbst bei strahlendem Sonnenschein düster wirkt. Ein altes Haus und eine alte Frau, die nicht mehr gut laufen kann und deshalb kaum noch rausgeht – was soll schon passieren? Das denkt zumindest Malina, die auf ihre Schwester und deren Freundin aufpassen soll, wenn sie an Halloween verkleidet durch die Siedlung ziehen. Aber die Stille trügt, und Malina merkt zu spät, was alles passieren kann, wenn jemand mit genug Fantasie die Finger im Spiel hat.
16:48 Uhr:
Ich hätte nicht gedacht, dass ich noch mal durch unsere Siedlung ziehen und „Trick or Treat!“ rufen würde. Früher hab ich mich immer schon wochenlang darauf gefreut: die ganze Stimmung, wild kostümiert durch die Gegend laufen, bei Dunkelheit noch dazu, und natürlich Berge von Süßigkeiten. Doch jetzt, mit vierzehn, reizt mich das schon lange nicht mehr, und meine Freundinnen haben auch kein Lust mehr darauf.
Aber meiner Schwester zuliebe putze ich mich doch noch mal gruselig raus, mit schwarzen Klamotten und weißer Schminke im Gesicht. Allein mit ihrer besten Freundin darf Maya nicht gehen, Mama hat Angst, dass sie dann überfallen werden. Letztes Jahr hat’s das wohl gegeben, da sollen zwei ältere Jungs den Kleinen die Süßigkeiten geklaut haben. Ich bin mir nicht mal sicher, ob’s denen wirklich um die Süßigkeiten ging, oder um den Kick, die Kleinen einzuschüchtern. Einen Sprung an der Schüssel haben sie für mich so oder so.
Während ich mich fertigmache, werden Maya und ihre Freundin Serena nebenan von Mama geschminkt. Wie ich Mama kenne, lässt sie sich da richtig was einfallen, sie kann das echt gut. So gut kriege ich das bestimmt nicht hin, aber wenn zwei echte Gruselwesen von einem normalen Menschen begleitet werden, sähe das auch blöd aus. Zum Glück reichen ein paar Handgriffe schon, dass ich mir selbst nicht mehr ähnlich sehe, Leichenweiß als Grundton, die Lippen und Augenhöhlen schwarz wie Kohle. Den Rest erledigt die Dunkelheit, sie lässt auch meine braunen Haare schwarz wirken, passend zu den Augen.
17:12 Uhr:
Maya und Serena sind fertig geschminkt, es kann also losgehen. Wie erwartet hat Mama ganze Arbeit geleistet, ich schätze, der eine oder andere Nachbar wird nachfragen müssen, wer unter der Maske steckt. Mayas Gesicht wirkt wie aus Glas, das gerade zersplittert, selbst im hellen Flurlicht sieht es schon ziemlich echt aus. Aus Serena ist eine Spinne geworden, Mama hat ihr eine feine Haarstruktur ins Gesicht geschminkt, den Mund zu einem grässlichen Maul umgestaltet und zusätzliche Augen auf beide Wangen geklebt. Wow! Die beiden sind echt happy damit, und ich mache auch erst mal ein paar Fotos.
Wir wohnen in einer Siedlung am Stadtrand. Sie ist noch ziemlich neu, wir sind eingezogen, als ich in den Kindergarten gekommen bin, und da waren sie noch dabei, die letzten Wege zu pflastern. Fast 50 Einfamilienhäuser in mehreren Reihen, jedes mit einem kleinen Garten, die Straßen dazwischen sind als Spielstraßen ausgewiesen. Man kennt sich, und an den meisten Türen werden Maya und Serena eine Kleinigkeit bekommen. Natürlich gibt’s bei so vielen Leuten auch ein paar, mit denen man nicht so gut zurechtkommt, aber da muss man dann ja nicht klingeln.
Nachdem Papa, er ist gerade erst wieder von der Arbeit zu Hause, Mayas und Serenas Kostümierung auch noch bewundert hat, ziehen wir los. Bei den Nachbarn zur Rechten angefangen, klingeln Maya und Serena, sagen ihr Sprüchlein auf und sacken mehr oder weniger große Gaben ein. Ich halte mich im Hintergrund, ich soll ja nur da sein für den Fall, dass jemand versucht, sie auszurauben. Ich glaube aber nicht, dass da was passiert, schätze, das war eine einmalige Sache letztes Jahr.
19:34 Uhr:
Maya und Serena haben schon ordentlich Beute gemacht. Selbst wenn viele nur eine einzelne Tafel Schokolade geben oder etwas in der Art – an jeder Haustür ein bisschen, das läppert sich zusammen. Hoffentlich denkt Mama dran, die Sachen sofort in Verwahrung zu nehmen! Falls nicht, sind Bauchschmerzen vorprogrammiert, und ich darf morgen noch vor dem Frühstück zur Apotheke tappen. Serena wird nachher bei uns schlafen, möchte nicht wissen, was sie und Maya für eine Fressorgie unter der Bettdecke veranstalten, wenn wir nicht aufpassen.
Aber bis es so weit ist, wird es sowieso noch eine Weile dauern. Die beiden haben immer noch Lust, und ausnahmsweise hat Mama erlaubt, dass sie bis neun Uhr draußen bleiben dürfen. Wir werden gleich mal einen kurzen Abstecher nach Hause machen, Maya muss mal, und wir brauchen auch nicht alles, was sie bis jetzt bekommen haben, die ganze Zeit mitzuschleppen. Aber dann geht’s weiter, ein paar Häuser in der Siedlung haben wir noch nicht abgeklappert, und ein paar angrenzende Straßen dürfen wir auch noch mitnehmen, wenn noch Zeit ist und Maya und Serena nicht vorher die Lust verlieren. Danach sieht’s im Moment aber nicht aus, die haben immer noch Spaß. Ich glaube auch nicht, dass das nur die Süßigkeiten sind, auch wenn sie sich darüber natürlich freuen. Sie sind neun, beide gerade erst geworden, da dürfen sie normalerweise nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr alleine draußen rumlaufen, und dann noch kostümiert und alles…
Für mich ist das bis jetzt mehr oder weniger ein ausgedehnter Abendspaziergang. Maya und Serena merken kaum, dass ich dabei bin, und großartig um sie zu kümmern brauche ich mich nicht. Sie laufen von Haus zu Haus, klingeln und sagen ihr kleines Sprüchlein auf, das sie selbst gedichtet haben; „Süßes oder Saures!“ findet Mama nicht gut, deshalb mussten sie sich etwas anderes überlegen. Scheint gut anzukommen bei den Leuten, die meisten lächeln, und böse über die Störung ist keiner. Liegt vielleicht auch daran, dass die beiden nicht betteln oder sogar pampig werden, wenn sie mal nichts bekommen. Dass sie den Nachbarn nicht wirklich Saures geben, wenn’s nichts Süßes gibt, versteht sich von selbst.