Diese Geschichte entstand 2022 als Beitrag für die Adventskalender der Foren Büchereule und Büchertreff. Zur Entstehung gibt es eine kleine Anekdote: Ich brauchte einen einen Grund, warum Emilio über Weihnachten nicht nach Hause fahren kann. Nachdem ich zunächst an eine Grippe oder ein Magen-Darm-Virus gedacht hatte, das seine Eltern und Geschwister heimgesucht hat, kam ich schließlich auf die Idee, die Heimreise einem Bahnstreik zum Opfer fallen zu lassen. Treppenwitz der Geschichte: Zu der Zeit, als ich die Geschichte geschrieben habe, streikten die Lokführer der SNCF tatsächlich, was ich aber erst nach Fertigstellung der Geschichte gelesen habe.
Als sein Handy mit einem kurzen Ping-Ton eine eingehende Nachricht signalisierte, ahnte Emilio nichts Böses. Er hatte viele Freunde, die ihm gelegentlich über WhatsApp schrieben, erst recht in der letzten Zeit, wo sie sich nicht persönlich treffen konnten. Emilio hatte sich dafür entschieden, die erste Hälfte seines zehnten Schuljahres im Ausland zu verbringen, und nach einigem Überlegen war die Wahl auf Frankreich gefallen. Er hatte sich bei einer Organisation beworben, die Gastfamilien für Austauschschüler vermittelte und für ihn eine passende Familie in der Bretagne gefunden hatte. Seit Ende August lebte er bei den Aubertins, jetzt hatten gerade die Weihnachtsferien begonnen. Emilio war vor einer halben Stunde aus der Schule gekommen und hatte eben begonnen, seinen Rucksack zu packen für die Weihnachtstage, die er zu Hause verbringen wollte. Er würde am nächsten Morgen, einen Tag vor Heiligabend, mit dem Zug nach Hause fahren und zum Jahreswechsel zurückkehren. Viel brauchte er nicht einzupacken, denn er hatte nicht seinen gesamten Besitz mit nach Frankreich genommen.
Er nahm sein Handy vom Schreibtisch und sah, dass es keine WhatsApp war, sondern eine E-Mail. Von der Bahn? Was wollten die denn von ihm?
Emilio las den kurzen Text, der fast unterging zwischen Links auf Serviceportale und Apps, und unterdrückte einen Fluch. Streik!
Dass die Angestellten der französischen Staatsbahn gerade um höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen kämpften, hatte er mitbekommen, sich deswegen aber bisher keine großen Sorgen gemacht. Bis Paris würde er schon irgendwie kommen, und von dort aus würde er ohnehin den ICE nehmen, der vom Streik nicht betroffen war.
Das war jedenfalls der Plan, doch jetzt schrieb ihm die Bahn, dass sie für die nächsten drei Tage alle Zugverbindungen von und nach Frankreich gecancelt hatte. Die Verantwortlichen befürchteten, dass der Streik auf französischer Seite auch bei den ICE für große Verspätungen sorgen würde, die in der Folge auch in Deutschland Chaos verursachen würden.
Emilio ließ das Handy aufs Bett fallen und sich selbst daneben. Und jetzt? So gern er die Aubertins mochte, so gut er sich mit seinem Gastbruder Léo verstand und auch mit dessen Schwester Lina – über Weihnachten wollte er zu Hause sein. Er liebte einfach die ganze Stimmung der Weihnachtszeit, und bei den Aubertins war davon nichts zu spüren. Sie feierten kein Weihnachten, warum, das wusste Emilio nicht. Léo hatte ihm gesagt, dass seine Eltern nichts dafür übrig hatten, ihm war klar gewesen, dass sein Gast sich wundern musste, wenn überall die Vorbereitungen fürs Fest in vollem Gange waren, nur bei seinen Gasteltern nicht. Aber warum seine Eltern Weihnachten nicht mochten, hatte er Emilio nicht verraten, und Emilio hatte nicht nachgefragt, weil er glaubte, dass es ihm nicht zustand. Er war ja auch gekommen, um Land und Leute kennenzulernen, und dass er sich etwas anpasste, durfte man von ihm erwarten, das wusste er. Aber Weihnachten war eben auch ein besonderer Fall, deshalb hatte er sich um ein Zugticket nach Hause gekümmert, als sich herausgestellt hatte, dass die Aubertins nicht feierten. Immerhin nahmen seine Gastgeber ihm das nicht übel, und er spürte, dass sie meinten, was sie sagten. Auch wenn sie selbst das Fest nicht mochten, vergaßen sie nicht, dass es anderen etwas bedeutete.
***
Emilio brauchte ein paar Minuten, um die Nachricht halbwegs zu verdauen. Was sollte er machen? Erst mal zu Hause anrufen, beschloss er, vielleicht hatten seine Eltern ja eine Idee. Und dann musste er auch seinen Gasteltern Bescheid sagen, die hatten ihn schließlich nicht eingeplant für die Feiertage. Hoffentlich gab es keine Schwierigkeiten, wenn er doch blieb!
Er überlegte kurz und wählte dann die Nummer seines Vaters. Der musste schon Feierabend haben, wenn nichts Ungewöhnliches passiert war, seine Mutter arbeitete dagegen wahrscheinlich noch.
Tatsächlich meldete sein Vater sich rasch, und seine Stimme klang leicht besorgt. Es war nicht die Zeit, zu der Emilio normalerweise zu Hause anrief, meist meldete er sich nach dem Abendessen, sodass sich zu Hause die gesamte Familie vor der Webcam versammeln konnte. „Ich kann nicht fahren“, berichtete Emilio. „Hier streiken sie, und die Bahn lässt deshalb jetzt auch den ICE ausfallen.“ Er las seinem Vater die E-Mail vor. „Die machen sich’s leicht!“, schloss er bitter. „Und ich stehe doof da.“ „Das ist wirklich Mist“, stimmte sein Vater ihm zu. „Auch wenn’s natürlich stimmt, wenn der ICE mit wer weiß wie viel Verspätung aus Frankreich kommt, dann müssen sie hier auch wieder eine Lücke finden. Das bringt ihnen mit etwas Pech eine Menge durcheinander.“ „Und jetzt?“, fragte Emilio. „Abholen könnt ihr mich nicht, oder?“
Sein Vater schüttelte den Kopf. Das konnte Emilio nicht sehen, aber er wusste es. „Schwierig“, sagte sein Vater. „Die Strecke hin und zurück, da sind wir einen Tag und eine Nacht unterwegs. Da müsste Mama mitkommen, damit wir uns ablösen können, und das heißt, wir müssten auch Cara und Eloi mitnehmen.“ Das waren Emilios Geschwister, Cara war zehn, Eloi sieben. Klar, die konnten nicht so lange allein zu Hause bleiben, zumal Emilio selbst schätzte, dass seine Eltern vor der Rückfahrt eine längere Pause brauchen würden, selbst wenn sie sich gegenseitig ablösten. Da hätten sie direkt losfahren müssen, um Heiligabend wieder zu Hause zu sein, und Emilio hatte schon befürchtet, dass das nicht funktionieren würde. Blieb noch das Flugzeug, aber daran verschwendete er keinen Gedanken. Mal ganz abgesehen von den Klimafolgen – er war noch nie geflogen, und seine Eltern würden sich nicht auf ein Experiment einlassen. Außerdem würde das auch verflixt teuer werden, so kurzfristig kosteten die Tickets bestimmt ein paar Hundert Euro.
Sein Vater atmete tief durch. „Ich werde nachher noch mal mit Mama sprechen“, kündigte er an. „Aber ich fürchte, du musst über Weihnachten in Frankreich bleiben. Vielleicht können wir das verschieben, dass du dafür über Silvester ein paar Tage kommst. Ich weiß, das ist nicht das Gleiche, aber…“ Er schien nicht zu wissen, was er Emilio Tröstendes sagen konnte, und letztlich gab es wohl auch wirklich nichts. Weihnachten würde dieses Jahr für Emilio ausfallen, daran gab es nicht zu rütteln.
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Mit den Aubertins gab es zum Glück keine Probleme wegen der unfreiwilligen Planänderung. Sie würden zu Hause sein, und sie hatten Emilios Bett auch nicht anderweitig verplant für die Zeit, die er eigentlich zu Hause hatte verbringen wollen.
Ein Tag blieb Emilio noch, um sich auf ein Weihnachten einzustellen, das keines war. Aber ein Vorteil war das nicht, im Gegenteil, er hatte viel zu viel Zeit, sich über die Eisenbahner zu ärgern, die ihm mit ihrem Streik das Fest versauten.
Seiner Gastfamilie gegenüber versuchte er, sich nichts anmerken zu lassen. Die Aubertins konnten nichts für den Streik, der ihm die Heimfahrt über die Feiertage unmöglich machte, und er konnte nicht erwarten, dass sie seinetwegen jetzt doch feierten.
Zum Glück hatten sie Verständnis für seine Situation und taten das Beste, was sie tun konnten: Sie gingen nicht ständig darauf ein. Dass es ihnen leidtat, dass er nicht nach Hause fahren konnte, war nicht nur so dahergesagt, das wusste er, aber was hätte es geholfen, es ihm immer wieder aufs Neue zu versichern? Emilio war ihnen dankbar, dass sie nicht versuchten, ihn mit hektisch aus dem Boden gestampften Unternehmungen abzulenken oder gar seinetwegen doch irgendwas Weihnachtliches zu machen. Das hätte nicht funktioniert, denn wenn er wusste, dass sie sich nur für ihn bemühten, Weihnachtsstimmung aufkommen zu lassen, dann würde er sich nur zu allem Überfluss auch noch schuldig fühlen.
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An Heiligabend brach Emilio am frühen Nachmittag, als überall das Festessen auf den Herd gesetzt und der Weihnachtsbaum ein letztes Mal geradegerückt wurde, zu einem Spaziergang auf. Die Aubertins wohnte nicht weit weg von der Küste, und außerhalb der Stadt hatte er seine Ruhe. Das Wetter war garstig, kalt, aber nicht kalt genug, um statt des leichten Nieselregens Schneeflocken fallen zu lassen, und ein scharfer Wind pfiff über die Weiden. Doch Emilio war nicht aus Zucker, und irgendwie tat es gut, so die Elemente zu spüren.
Er lief gut zwei Stunden, nicht sehr schnell, aber es kam doch eine nicht gerade kleine Strecke zusammen. Kaum jemand begegnete ihm unterwegs, hier mal jemand mit einem Hund, dort ein Bauer, der natürlich auch an Weihnachten nach dem Vieh sehen musste, mehr nicht.
Als er sich wieder dem Haus der Aubertins näherte, war es fast schon dunkel. Viele Fenster waren festlich erleuchtet, mit Lichterketten und elektrischen Kerzen in den verschiedensten Formen. Dass bei den Aubertins nur die normalen Deckenlampen brannten, und die Schreibtischlampe in Léos Zimmer, fiel dazwischen gar nicht auf, wenn man nicht genau hinschaute.
Als er noch zwei Häuser entfernt war, sah Emilio eine schmale Gestalt in der Gasse vor dem Haus seiner Gastfamilie stehen. Nanu, wer war das? Die Person wirkte so, als würde sie auf jemanden warten – war sie eingeladen, aber zu früh dran und wollte die Gastgeber nicht stören?
Ein paar Augenblicke später erkannte er, wer es war. Er hatte gar nicht damit gerechnet, dass er die Person kennen könnte, denn er kannte nach vier Monaten bei den Aubertins zwar einige von den Nachbarn, aber nicht deren Freunde und Verwandte. Aber zu sehen, wer es war, machte die Sache erst richtig rätselhaft – was machte Lina hier draußen?
Lina entdeckte ihn und setzte sich in Bewegung, um ihm entgegenzugehen. Hatte sie auf ihn gewartet? Es schien fast so, aber Emilio hatte keine Idee, warum. Sie verstanden sich gut, sie war auch nur etwas über ein Jahr jünger als ihr Bruder und damit ein knappes Jahr jünger als Emilio, aber Emilio unternahm doch deutlich mehr mit Léo.
„Ich dachte schon, du kommst gar nicht mehr“, sagte sie zur Begrüßung, aber sie lächelte dabei. Sie sprach Französisch, Emilio antwortete auf Deutsch. „Hab ich was verpasst?“, fragte er. Lina schüttelte den Kopf. „Ich will auch noch ein bisschen raus“, erklärte sie. „Hast du Lust, noch mal mitzukommen?“ Emilio zuckte mit den Schultern. Er war nicht ganz sicher, was er davon halten sollte, allein mit ihr hatte er noch nie irgendwas unternommen, aber warum nicht? Sonst würde er doch nur in seinem Zimmer sitzen und rausstarren auf die Fenster der Nachbarn, die Weihnachten feierten.
„Prima!“, freute Lina sich. „Musst du vorher noch mal rein?“ Emilio schüttelte den Kopf. „Wir können“, sagte er.
„Erzähl doch mal ein bisschen!“, forderte Lina ihn auf, als sie sich ein Stück von ihrem Elternhaus entfernt hatten. „Wie ist das, wenn ihr zu Hause Weihnachten feiert?“
Emilio zuckte zusammen, so sehr überraschte ihn die Frage. „Du musst nicht, wenn du nicht willst“, sagte Lina, als er nicht direkt antwortete. „Ich meine, das ist für dich ja auch blöd alles gerade.“ „Da könnte ihr ja nichts für“, beruhigte Emilio sie. „Wundert mich nur, dass du fragst. Interessiert dich das wirklich?“ Er würde ihr gern erzählen, was bei ihm zu Hause an den Weihnachtsfeiertagen los war, aber nur, wenn sie es wirklich hören wollte. Dass sie aus Höflichkeit zuhörte und sich dabei zu Tode langweilte, wollte er auf keinen Fall.
Aber Lina meinte es ernst, und so erzählte er von den Traditionen seiner Familie zu Weihnachten. „Das stelle ich mir schön vor“, sagte Lina, als er erzählte, wie sich am ersten Weihnachtstag immer die ganze Familie traf, mit Großeltern, Onkeln und Tanten, Cousins und Cousinen. „Auch wenn es manchmal nicht so einfach ist.“ Emilio hatte ihr nicht verschwiegen, dass es gelegentlich auch zu kontroversen Diskussionen kam, wenn die Familie an Weihnachten zusammenkam. Aber das gab es in vielen Familien, und Lina kannte das auch von Geburtstagen und anderen Familienfeiern. Entscheidend war, wie man dann damit umging, und wirklich ausgeartet war es in Emilios Verwandtschaft noch nie.
***
Emilio achtete kaum darauf, wohin sie gingen, er war davon ausgegangen, dass Lina einfach nur durch den Ort und die Umgebung schlendern wollte. Doch nach und nach bekam er das Gefühl, dass Lina ein klares Ziel hatte, vielleicht, weil sie an keiner Kreuzung, keiner Abzweigung auch nur einen Augenblick überlegte, in welche Richtung sie sich wenden sollte. Oder hatte sie eine feste Route, auf der sie regelmäßig spazieren ging? Auch wenn er schon vier Monate bei den Aubertins lebte, war er sich nicht sicher, ob er das auf jeden Fall hätte mitbekommen müssen.
Irgendwann bog Lina ab auf einen schmalen Pfad, der direkt zur Küste führte. Die bestand an dieser Stelle – eigentlich überall in der Gegend – aus einem steilen Kliff mit einem Streifen Kiesstrand davor. Der Pfad schlängelte sich durch eine Scharte nach unten, im Licht der Taschenlampe, die Lina anknipste, erkannte Emilio hier und da Stufen, die in den Stein gehauen worden waren. „Ist das nicht gefährlich?“, fragte er unsicher. „Bei Dunkelheit da runter?“ Das Kliff war kein Wolkenkratzer, zehn Meter hoch, schätzte Emilio, aber das reichte, um sich bei einem Absturz den Hals zu brechen. „Nicht, wenn man sich auskennt und aufpasst“, beruhigte Lina ihn. „Vertrau mir!“
Was blieb Emilio auch anderes übrig? Er hätte sich höchstens umdrehen und zurückgehen können, aber das wollte er natürlich nicht. Außerdem waren sie jetzt schon fast zur Hälfte unten, und wenn der Weg so blieb wie im oberen Teil, dann brauchte man sich wohl wirklich keine Sorgen zu machen. Wie Lina gesagt hatte: gucken und aufpassen, wohin man den Fuß setzte.
Wenig später waren sie unten, und Lina wandte sich zielsicher nach links. Im Schatten des Kliffs war es noch dunkler als oben, aber Lina schien jeden Stein zu kennen. Emilio sah, dass sie manchem Felsen, der aus dem Kies herausragte, schon auswich, bevor der Schein der Taschenlampe ihn erreichte.
Wenn er zur Seite schaute, konnte er weit draußen vereinzelte Lichter erkennen, Schiffe, die in sicherem Abstand die Küste entlangfuhren. Wie sich wohl die Seeleute fühlten, die jetzt an Weihnachten auf ihren Schiffen Dienst tun mussten? Sicher, sie waren es gewohnt, lange von ihren Familien weg zu sein, aber an Weihnachten war es bestimmt auch für sie nicht so leicht.
Unvermittelt fiel der Lichtstrahl der Taschenlampe auf eine weiß lackierte Wand. Im ersten Moment wusste Emilio nichts damit anzufangen, ein Haus hier unten, das konnte er sich nicht vorstellen. Dann wurde ihm klar: Es musste ein Boot sein. Lina ließ den Lichtkegel etwas wandern, jetzt war auch die Reling zu sehen, und links von ihnen der Bug. Ein Fischerboot, vermutete Emilio, nicht sehr groß und vermutlich auch nicht das neueste Modell, soweit er das als Laie beurteilen konnte, aber es sah auch nicht so aus, als würde es im nächsten Moment auseinanderfallen. Zehn oder zwölf Meter mochte es lang sein, viel kleiner als die modernen schwimmenden Fischfabriken.
„Da wären wir!“, sagte Lina. „Hier stört uns niemand.“ Sie sprang an der Bordwand hoch und griff zwischen den Stangen der Reling durch. Als ihre Füße wieder auf den Kies trafen, hatte sie das Ende einer Strickleiter in der Hand. Die Leiter rollte sich von allein aus, und Lina machte einen Schritt zur Seite. „Nach dir!“, sagte sie lächelnd. „Es ist sicher“, fügte sie hinzu, als er kurz zögerte.
Immer noch unsicher, griff Emilio nach der Leiter. Es war gar nicht so leicht, nach oben zu kommen, weil die Leiter so wackelte. Das obere Ende war zwar festgemacht, und Lina hatte kurz daran geruckt, um sich zu vergewissern, dass sie hielt, aber davon ab gaben die Seile in alle Richtungen nach. Lina schien das nicht das Geringste auszumachen, sie enterte das Boot, als hätte sie zeit ihres Lebens nie etwas anderes gemacht. Wahrscheinlich war sie tatsächlich ziemlich oft hier, ohne dass er bislang etwas von ihren Ausflügen mitbekommen hätte.
„Mein geheimer Platz“, erklärte sie, als sie neben ihm an Deck des kleinen Kutters stand. „Hierher komme ich immer, wenn ich mal wirklich meine Ruhe haben will.“ „Darfst du das?“, fragte Emilio. „Ich meine, das Boot muss doch irgendjemandem gehören, oder?“ „Na ja, so halb“, antwortete Lina. „Der Fischer, dem es gehörte, ist vor drei Jahren gestorben. Er hatte sich aber schon Jahre vorher zur Ruhe gesetzt. Zum Schluss hat es sich auch nicht mehr gelohnt, mit dem kleinen Boot kannst du nicht bestehen gegen die großen Schiffe, die viel weiter rausfahren können. Deshalb hat sich auch niemand gefunden, der es kaufen wollte. Ich war früher oft am Hafen, ich wäre gerne mal mit rausgefahren, aber als ich endlich alt genug war, dass Maman und Papa es erlaubt hätten, da hatte Monsieur Moreau schon aufgehört. Ich bin dann immer wieder hergekommen, weil ich es so schade finde, dass das Boot hier liegt und niemand es mehr haben will. Madame Moreau findet es gut, sie meint, solange ich herkomme, hat die Mademoiselle Marie noch eine Aufgabe. Sie hat mir sogar den Schlüssel zur Kajüte gegeben.“
Das klang traurig, aber es war auch irgendwie tröstlich, dass Lina dem Boot noch einen Nutzen gab. Er hatte das Gefühl, sie würde das Boot nicht aufgeben, auch wenn es irgendwann anfing, zu verfallen.
Lina führte ihn zum Deckhaus und schloss die Tür auf. Der Schlüssel kratzte nicht im Schloss, offensichtlich gönnte sie dem Schloss von Zeit zu Zeit einen Tropfen Öl. „Vorsicht, Kopf!“, warnte sie ihn, weil die Tür ziemlich niedrig war. „Halt mal bitte!“ Sie drückte ihm die Taschenlampe in die Hand, und während er ihr leuchtete, entzündete sie eine Petroleumlampe, die an einem Haken von der Decke hing. Es gab auch elektrisches Licht, aber das funktionierte wahrscheinlich nicht mehr. Emilio kannte sich nicht besonders gut aus mit Schiffstechnik, aber er vermutete, dass die Elektrizität an Bord von einem Generator kam, der vom Schiffsmotor angetrieben wurde, und wenn es Batterien gab, dann hatten sie schon lange ihre Ladung verloren.
Er traute Lina zu, dass sie es genauer wusste, wurde aber abgelenkt, ehe er fragen konnte. Das Licht der Petroleumlampe holte etwas aus der Dunkelheit, mit dem er im Leben nicht gerechnet hätte: eine weihnachtlich geschmückte Brücke. Das Frontfenster, das sich über die ganze Breite des Deckhauses erstreckte, war mit Tannengrün eingerahmt, über der Tür hing eine Lichterkette, die einen eigenen Akku haben musste, und auf dem Instrumentenpult stand sogar eine kleine Krippe.
„Wow!“, entfuhr es Emilio. „Das geheime Weihnachts-Hauptquartier!“ Lina wurde rot. „Du bist der Erste, der davon erfährt“, erklärte sie. „Wovon?“, fragte Emilio, der sich nicht ganz sicher war, ob er den Zusammenhang richtig verstanden hatte, obwohl er sich wohl inzwischen in den Lebenslauf schreiben durfte, dass er fließend Französisch sprach. „Davon, dass du hier ein kleines Versteck hast?“
Doch Linas Geheimnis war viel größer: Sie feierte heimlich Weihnachten. Sie fand Weihnachten schön, und weil ihre Eltern alles von sich wiesen, was mit dem Fest zu tun hatte, feierte sie für sich an ihrem ganz privaten Rückzugsort. Davon wusste niemand etwas, nicht die Eltern, nicht der große Bruder, nicht mal ihre beste Freundin, mit der sie sonst über alles reden konnte.
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Jetzt überlegte Emilio doch, ob er Lina fragen sollte, warum ihre Eltern so überhaupt nichts mit Weihnachten zu tun haben wollten. Aber würde er ihr damit nicht zu nahe treten? Doch seine Schweigsamkeit reichte Lina, sie schien ganz genau zu wissen, was ihn bewegte. „Für dich ist es schwer zu verstehen, was Maman und Papa gegen Weihnachten haben, oder?“, stellte sie sehr treffend fest. Emilio nickte. „Ich meine, es kann ja sein, dass jemand keine Lust darauf hat, aber…“ Er verstummte, er wollte keine Mutmaßungen äußern, die Lina vielleicht verletzten.
„Ich glaube, sie haben Angst“, versuchte Lina zu erklären. „Weil sie…“ „Du musst mir das nicht erzählen“, warf Emilio ein. „Wenn du nicht willst, dann ist es völlig okay, wenn du nichts sagst.“ „Doch, du darfst es wissen“, versicherte Lina. „Aber erzähle ihnen nicht, dass ich es dir erzählt habe, ja?“
Emilio versprach es, und Lina begann zu erzählen. Früher, als Léo und sie noch nicht geboren gewesen waren, da war wohl alles anders gewesen, und ihre Eltern hatten Weihnachten gefeiert wie viele andere auch. Doch ein Autounfall hatte alles verändert, auf der Rückfahrt von einer Weihnachtsfeier mit Freunden. Linas Vater, der am Steuer gesessen hatte, hatte keine Schuld getroffen, er war vollkommen nüchtern gewesen und vorsichtig gefahren. Ein Raser – die Polizei hatte später ausgerechnet, dass er fast doppelt so schnell gefahren war wie erlaubt – hatte sie geschnitten und den Wagen beim Einscheren touchiert. Linas Vater hatte keine Chance gehabt, den schleudernden Wagen auf der Straße zu halten, das Auto war in den Acker gerutscht und hatte sich überschlagen. Obwohl Linas Eltern überlebt und sich körperlich vollständig erholt hatten, hatte der Raser, der selbst nur ein paar Kratzer abbekommen hatte, ein Menschenleben auf dem Gewissen: Léos und Linas Bruder, der gestorben war, ohne zuvor das Licht der Welt zu sehen. „Das haben sie nie richtig überwunden“, schloss Lina. „Vielleicht kann man das auch gar nicht, zumindest nicht ganz. Und deshalb wollen sie kein Weihnachten mehr feiern, weil Weihnachten für sie immer mit diesem Unfall verbunden ist.“
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Lina war stark, denn sie schaffte es trotz des traurigen Hintergrunds, echte Weihnachtsstimmung aufkommen zu lassen. In einem Rucksack, den Emilio gar nicht richtig wahrgenommen hatte unterwegs, hatte sie eine große Tüte Weihnachtsplätzchen mitgebracht, und eine Thermosflasche voll heißem Tee. Tassen fanden sich an Bord, und aus einer Koje holte Lina eine dünne Matratze und Decken. Emilio ging durch den Kopf, dass das kleine Schiff fast ein zweites Zuhause für sie war, sie hielt die Einrichtung offenbar in Schuss.
Es war wohl das merkwürdigste Weihnachten, das er je erlebt hatte, an diesem Ort, mit Lina neben sich, ein bisschen aus der Welt gefallen irgendwie. Und so sehr er sich über den Streik geärgert hatte, der ihn zwang, über Weihnachten in Frankreich zu bleiben, so sehr gefiel es ihm, zusammen mit Lina auf der Matratze zu liegen, gut zugedeckt gegen die Kälte, Plätzchen zu essen, Tee zu trinken und auf YouTube nach Weihnachtsliedern zu stöbern. Er suchte und fand einige deutsche Lieder, die er Lina vorspielen konnte, Lina suchte französische heraus, und manche gab es ja auch in mehreren Sprachen. So sangen sie „Stille Nacht, heilige Nacht“, und „Douce nuit, sainte nuit“, „Nun freut euch, ihr Christen“, „Come all you Faithfull“ und „Peuple fidèle“, und Lina probierte genauso, die deutschen Texte zu singen, wie Emilio sich an den französischen versuchte.
Emilio hatte gerade eine schöne Version von „Hark! The Herold Angels Sing“ gefunden, als sein Handy klingelte. Die Verbindung war nicht allzu toll, er war zu weit draußen und noch dazu umgeben von Stahl, aber als er aufstand und an die Tür ging, funktionierte es einigermaßen.
Am anderen Ende war seine ganze Familie, sie wollte ihm trotz allem frohe Weihnachten wünschen und nachfragen, wie es ihm ging, so ganz ohne alles Weihnachtliche. „Wo steckst du?“, erkundigte sich sein Vater. „Nicht bei den Aubertins zu Hause, oder?“ „Nein“, antwortete Emilio. In zwei Sätzen beschrieb er die Überraschung, die Lina ihm bereitet hatte, und schwenkte das Handy, sodass die Kamera die geschmückte Brücke einfangen konnte. Er wusste, dass das okay war, und Lina konnte sicher sein, dass seine Eltern ihren nichts erzählen würden.
„Dann ist es ja doch nicht so schlecht, dass du nicht kommen konntest“, stellte sein Vater fest. „Nicht, dass wir dich nicht gerne hier haben würden, aber wie es aussieht, habt ihr beiden ja doch schöne Weihnachten, und für Lina bist du ein Geschenk, wenn sie zum ersten Mal jemanden hat, der mit ihr Weihnachten feiert.“
Emilio wurde rot, aber irgendwie hatte sein Vater ja recht. Ja, seine Weihnachten waren völlig anders, als er es von zu Hause kannte, anders, als er sie sich je hätte vorstellen können, aber sie waren trotzdem wirklich schön. Er war Lina dankbar dafür, dass sie ihr Geheimnis mit ihm teilte, und es war nicht zu übersehen, wie glücklich sie war, Weihnachten mit ihm zusammen feiern zu können. Diese Freude würde Folgen haben, davon war er überzeugt, denn die Stimmung, die sie hier in sich aufsog, würde ausstrahlen, wenn sie später am Abend nach Hause gingen. Linas Eltern würden spüren, dass sich etwas verändert hatte, und Emilio hatte plötzlich das sichere Gefühl, dass der Funke der Weihnachtsfreude überspringen würde.