Unruhig wälzte Inga sich in ihrem offenen Schlafsack herum. Mitternacht musste längst vorbei sein, und obwohl sie eigentlich hundemüde war, konnte sie einfach nicht schlafen. Schuld daran war die Hitze, der Tag war einer der heißesten des Jahres gewesen.
Fast 50 Pfadfinder, die jüngsten 7, die ältesten 18 Jahre alt, campierten auf einem einfachen Zeltplatz nahe der niederländischen Grenze. Das Gelände war für Selbstversorger gedacht und verfügte nur über die allernötigsten Einrichtungen: einen Flachbau mit Toiletten, Waschgelegenheit und Duschen, und eine Feuerstelle, die die Pfadfinder aber nicht benutzen durften, weil das Gras ringsum zu trocken war.
Inga war zwölf und gehörte damit zur Stufe der Jungpfadfinder, von fast allen Eingeweihten kurz Juffis genannt. Mit vier anderen Mädchen zwischen elf und dreizehn teilte sie sich ein Zelt für sechs Personen. Seit vier Tagen waren sie jetzt im Zeltlager, und anderthalb Wochen lagen noch vor ihnen.
Seufzend stemmte Inga sich hoch. Vielleicht half es ja, wenn sie ein bisschen frische Luft schnappte? So richtig kühl war es draußen zwar auch nicht, aber doch besser als im Zelt, in dem sich die Hitze staute. Das war der Nachteil der dicken Zeltbahnen: in der Sonne nahmen sie die Wärme auf und gaben sie nach innen ab, und nur wenig davon konnte wieder entweichen. Da nützte es auch nichts, nach dem Abendessen, wenn die schlimmste Hitze des Tages allmählich abklang, die Zelteingang zu öffnen und die Planen hochzubinden, die Hitze blieb.
Die Leiter wollten eigentlich um diese Zeit keines der jüngeren Kinder mehr draußen sehen, aber falls sie erwischt würde, würde Inga behaupten, dass sie aufs Klo musste. Das würde nicht mal komplett gelogen sein, auch wenn es längst nicht so pressierte, dass sie deswegen in der Nacht hätte aufstehen müssen.
Sie lauschte in die Dunkelheit – war eine von ihren Freundinnen auch noch wach? War draußen jemand unterwegs? Sah nicht so aus, langsame und tiefe Atemzüge verrieten ihr, dass die anderen Mädchen im Zelt schliefen, und auch von draußen war nichts zu hören.
Leise, um niemanden zu wecken, richtete Inga sich auf und tappte zum Zelteingang. Der Eingang war verschlossen; eigentlich war das unnötig, denn die Verschnürung war kein Hindernis für einen Eindringling, und mit Regen war auch nicht zu rechnen, aber die fünf Mädchen war alle schon so lange bei den Pfadfindern, dass es ihnen in Fleisch und Blut übergegangen war, nachts das Zelt zuzumachen. Inga nestelte die Schnüre aus den Ösen und schob den Kopf ins Freie. Irgendwer zu sehen? Nein? Gut!
Sie schlüpfte nach draußen, richtete sich auf und streckte sich. Die Nacht war warm, immer noch zu warm für Ingas Geschmack, aber besser als im Zelt war es allemal. Sie beschloss, erst mal zehn Minuten oder eine Viertelstunde draußen herumzuschlendern und dann aufs Klo zu gehen und sich eine Weile kaltes Wasser über die Arme laufen zu lassen, ehe sie sich wieder hinlegte und versuchte, zu schlafen.
Sie mochte etwa zwei oder drei Minuten über die freie Fläche zwischen den Zelten getrottet sein, als plötzlich ein Geräusch die nächtliche Stille störte. Es war nur ein Rascheln, aber es kam nicht von einem Tier, das durch die Büsche am Rand des Zeltplatzes stromerte. Nein, das Geräusch kam aus einem der Zelte, und es war auch nicht bloß jemand, der sich im Schlaf umdrehte.
Im nächsten Moment bewegte sich die Plane am Eingang des Zeltes, das links von Ingas eigenem stand. Dort hauste ein Teil der Juffi-Jungs, sie waren in der Stufe in der Überzahl und verteilten sich deshalb auf zwei Zelte. Kein Zweifel, da war jemand auf dem Weg nach draußen!
Inga hatte keine Chance, rechtzeitig zurück in ihr Zelt zu kommen. Ihr blieben allenfalls noch zwei oder drei Sekunden, bis derjenige die Wiese überblicken konnte, und sie hätte am Eingang des Jungenzeltes vorbei gemusst.
Hastig wollte sie hinter dem nächsten Zelt in Deckung gehen, dem der 14- bis 16-jährigen Mädchen, deren Stufe sich Pfadfinder oder kurz Pfadis nannte. Sie huschte über die Wiese, erreichte das Zelt und warf einen Blick zurück, ob sie nicht schon entdeckt worden war. Das war ein Fehler, denn dabei sah sie für einen Moment nicht, wohin sie lief. Ihre Schienbeine stießen gegen ein Hindernis, und noch ehe sie begriff, dass es eines der Seile war, mit denen das Zelt abgespannt war, schlug sie der Länge nach ins Gras.
Es tat nicht sonderlich weh, das Gras federte den Aufprall ab, aber leise ging der Unfall nicht vor sich. Das konnte der Junge, der da gerade aus dem Zelt kam, in der Stille der Nacht gar nicht überhört haben, und jetzt stellte sich nur noch die Frage, ob er erst mal selbst nachsah, oder ob er gleich die Leiter weckte.
Während sie sich herumwälzte und aufsetzte, hörte sie Schritte, die näherkamen. Der Strahl einer starken Taschenlampe fiel in die Lücke zwischen den Zelten und blendete sie. „Inga?“, hörte sie eine Stimme halblaut und verwundert fragen. „Was machst du da?“
„Grashalme geraderücken, das siehst du doch!“, gab Inga zurück und wusste selbst nicht, woher sie die Schlagfertigkeit nahm. „Nimm die Funzel runter, du blendest mich!“ „Oh, sorry“, kam es zurück, und der Lichtkegel wurde nach unten gerichtet, sodass nur noch ihre Füße angestrahlt wurden.
Trotzdem dauerte es noch, bis Inga erkennen konnte, mit wem sie es zu tun hatte, denn natürlich wirkte die Blendung durch die Taschenlampe nach. Nur langsam schälten sich die Konturen deutlich genug aus der Dunkelheit, um zu erkennen, wer sie in die Flucht geschlagen hatte, ohne es zu wissen. „Noah?“, vergewisserte sie sich. „Jep“, kam es trocken zurück. Noah war etwas älter als Inga, nämlich kurz vor dem Sommerlager 13 geworden und mindestens genauso lange bei den Pfadfindern wie sie.
Er streckte ihr die Hand hin, um ihr aufzuhelfen. „Kannst du auch nicht schlafen?“, fragte er. Inga ließ sich hochziehen und nickte. Die Ausrede, die sie sich zurechtgelegt hatte, konnte sie vergessen, es lag doch auf der Hand, dass sie sich hatte verstecken wollen, und da hätte sie keinen Grund zu gehabt, wenn sie wirklich nur auf dem Weg zum Klo gewesen wäre. „Ich dachte, wenn ich ein bisschen frische Luft schnappe, geht’s vielleicht besser.“ „Kaum“, meinte Noah. „Sobald du wieder ins Zelt kriechst, trifft’s dich gleich wieder wie ein Schlag.“ „Aber was soll man machen?“, seufzte Inga. „Raus kriegst du die Hitze ja nicht.“
Noah grinste. „Stimmt“, meinte er trocken. „Aber du musst ja nicht wieder rein.“ „Soll ich draußen schlafen?“, wunderte Inga sich. „Klar“, bestätigte Noah. „Was meinst du denn, was ich vorhabe?“ „Echt jetzt?“, meinte Inga. „Das ist doch…“ „Wieso?“, antwortete Noah mit der Gegenfrage. „Ich will ja nicht kilometerweit in den Wald rein. Regnen wird’s heute Nacht bestimmt nicht, wilde Tiere trauen sich nicht so nah ans Lager, und wenn uns einer überfallen will, um uns unser Taschengeld abzunehmen, dann sind wir im Zelt auch nicht sicherer.“ „Stimmt“, musste Inga zugeben. „Eher übersieht er uns, wenn wir draußen schlafen.“
Sie hatte auch schon überlegt, aber um der Wahrheit die Ehre zu geben, sie hatte sich nicht getraut. Der Gedanke, allein am Rand des Zeltplatzes zu liegen, ohne ein schützendes Zelt über sich, war ihr dann doch zu unheimlich gewesen. Außerdem vermutete sie, dass die Leiter es auch nicht gutgeheißen hätten, und wollte keinen Ärger. Aber wenn Noah mitmachte, mit ihm zusammen traute sie sich.
Während er vor dem Eingang wartete, holte sie ihren Schlafsack und die Isomatte aus dem Zelt. „Hast du schon eine Idee, wo?“, fragte sie, als sie mit den Sachen zu ihm zurückkehrte. Noah deutete mit dem Kopf an ihr vorbei. „Wir müssen ja nicht weit gehen“, stellte er sehr richtig fest. „Gleich hinter den Zelten, bei den Büschen?“
Inga war einverstanden. Die Zelte waren so aufgebaut, dass dazwischen eine möglichst große Freifläche blieb, aber mit etwas Abstand zu den Büschen, die den Zeltplatz begrenzten, damit man beim Einschlagen der Heringe nicht in die Sträucher kriechen musste. Dazwischen war genug Platz, um zwei Isomatten und zwei Schlafsäcke auszurollen. Die Zelte bildeten gleichzeitig einen Blickschutz, sodass nicht jeder, der aufs Klo musste, sie direkt sehen würde.
„Ist irgendwie ein komisches Gefühl“, flüsterte Inga, nachdem sie in ihren Schlafsack gekrochen war. Den Reißverschluss ließ sie weitestgehend offen, denn auch draußen war es warm. „Ich hab noch nie draußen geschlafen. Du schon mal?“ Noah schüttelte den Kopf. „Auch noch nicht“, gab er zu. „Aber ist doch eine coole Sache, und besser, als wenn wir im Zelt liegen, nicht schlafen können wegen der Hitze und dann morgen voll kaputt sind.“
Für ein paar Momente schaute Inga noch hoch zu den Sternen. Wie merkwürdig es war, sie über sich zu sehen! Ein richtiges kleines Abenteuer, dachte sie noch, dann schlief sie ein.
***
Ein grelles Licht riss Inga aus dem Schlaf. Zuerst dachte sie, es wäre Morgen und die Sonne würde ihr ins Gesicht scheinen. Dann hörte sie ein lautes Kichern. „Hättest du das gedacht?“, fragte eine Mädchenstimme. „Die beiden?“ Wieder Kichern. „Nee“, sagte eine andere Stimme.
Inga setzte sich auf und hielt sich den Arm schützend vors Gesicht. „Boah, nimm doch mal die Funzel weg!“, sagte sie, scharf, aber leise genug, um die Schlafenden in den Zelten nicht zu wecken. „Außerdem läuft hier nicht der Film, an den du denkst.“ „Ist klar“, gab die erste Stimme zurück, und jetzt erkannte Inga sie auch. Nina, die hatte ihr gerade noch gefehlt! Die andere war dann mit Sicherheit Jule, die beiden waren unzertrennliche Freundinnen. Beide waren 14 und gehörten damit schon zu den Pfadis, wie die Stufe über den Juffis genannt wurde, aber manchmal benahmen sie sich kindischer als die Allerjüngsten, die Wölflinge. Ihre gemeinsame Leidenschaft waren Promi-News, die sie durchhecheln konnten, und Romanzen, aber nicht selbst erlebte, sondern die von anderen, die manchmal auch nur in ihrer Fantasie existierten.
Das war genau das, was Inga jetzt unbedingt brauchte – spätestens beim Frühstück würde also das ganze Lager „wissen“, dass sie mit Noah zusammen war. Sie wusste aus Erfahrung, wie das laufen würde, Nina und Jule würden es schon beim Waschen mit den anderen Pfadi-Mädchen besprechen, und mit allen, die zufällig zur gleichen Zeit im Waschraum waren, und dann würde das Gerücht nicht mehr aufzuhalten sein. Da würde auch kein Demento helfen, Inga hätte Nina und Jule schon auf der Stelle ermorden und im Wald vergraben müssen, um zu verhindern, dass die ein Gerücht über Noah und sie in die Welt setzten, aber dann würden die Gruppenleiter rotieren.
Noah hatte den Auftritt der beiden Mädchen bisher verschlafen, aber als Nina und Jule weggingen und Jule dabei mit ihren dünnen Schlappen gegen einen Hering trat, weckte ihn ihr Schmerzensschrei. „Was ist los?“, wollte er wissen, als er sah, dass Inga aufrecht im Schlafsack saß. „Wir sind aufgeflogen“, erklärte Inga ihm. „Thomas und Yasi?“, vergewisserte sich Noah. Das waren die beiden Leiter, die für die Juffis zuständig waren. Inga schüttelte den Kopf. „Schlimmer“, sagte sie. „Nina und Jule.“ „Tja“, meinte Noah, „da kann man wohl nichts machen.“ Er zuckte mit den Schultern. „Na ja, was soll’s! Ich schätze, die meisten wissen, dass man die beiden nicht ernst nehmen darf, und Hauptsache, wir wissen, was wirklich läuft.“ Er ließ sich zurücksinken, und Inga hatte den Eindruck, dass er lächelte. „Ob was läuft, das können wir uns ja noch überlegen“, sagte er noch, ehe er die Augen wieder zumachte. Inga spürte, dass sie leicht rot wurde, aber dann sagte sie sich, dass es keinen Grund zur Aufregung gab. Für die anderen würde es eh ausgemachte Sache sein, und Noah hatte schon recht – sie konnten das Spiel mitmachen, mussten aber nicht.