Mutproben? Völliger Unsinn, findet Marie. Normalerweise würde sie bei so etwas auch niemals mitmachen. Doch es scheint die einzige Chance zu sein, ihre beste Freundin zurückzugewinnen, und dafür würde Marie noch viel mehr wagen, als sich in der Halloween-Nacht auf dem Friedhof rumzutreiben.
Autorenplauderei: Du entscheidest!
Es gibt Bücher, in denen der Leser den Verlauf der Handlung mitbestimmt. Sie bestehen aus kurzen Kapiteln, und jedes Kapitel (bis auf die, die eines der möglichen Enden der Geschichte beschreiben) endet damit, dass die Hauptfigur eine Entscheidung treffen muss. Diese Entscheidung wird an den Leser weitergereicht, und abhängig von dessen Wahl wird dann dieses oder jenes Kapitel als nächstes aufgeschlagen.
Auch in Freundschaft in Ketten wird kurz vor dem Ende dem Leser eine Entscheidung abverlangt. Der Grund dafür ist jedoch ein anderer: Ich hatte zwei verschiedene Enden für die Geschichte, die ich beide gut fand, und habe deshalb beschlossen, dem Leser die Wahl zu lassen. Dadurch wird daraus kein typisches Du-entscheidest-Buch, wobei ich aber durchaus mit dem Gedanken spiele, so etwas mal zu machen.
Sehnsüchtig starrte Marie quer über den Schulhof zu den vier Mädchen, die den kleinen Pavillon mit dem Schachbrett mit Beschlag belegt hatten. Sie saßen jeden Tag dort, und niemand traute sich, ihnen den Platz streitig zu machen. Sabrina, die unbestrittene Anführerin des Quartetts, konnte ganz schön garstig werden, und es hieß sogar, dass sie schon mal einem älteren Jungen mit der Faust die Nase gebrochen hatte. Sie war zu Beginn des Schuljahres neu in die Klasse gekommen, und Marie hatte gehört, dass sie die Schule nicht ganz freiwillig gewechselt hatte. Ziemlich sicher war, dass Sabrina im letzten Schuljahr so oft gefehlt – geschwänzt – hatte, dass sie die Siebte jetzt wiederholen musste. Außerdem hatte es wohl Vorfälle gegeben, nach denen man ihr nahegelegt hatte, den zweiten Versuch an einer anderen Schule anzugehen.
Da Sabrina sich auch keine Mühe gab, sich in die Klassengemeinschaft einzufügen, hatte Marie also genug Gründe, die neue Mitschülerin unsympathisch zu finden. Tatsächlich mochte sie Sabrina nicht, aber trotzdem hätte sie alles dafür gegeben, zu der Clique zu gehören, die sich um die Neue gebildet hatte.
Der Grund dafür hatte einen Namen: Finja. Die war seit der Grundschule Maries beste Freundin gewesen, aber seit Sabrina aufgetaucht war, war sie nicht mehr wiederzuerkennen. Marie wusste auch nicht, womit Finja sich die zweifelhafte Ehre verdient hatte, dass Sabrina sich mit ihr abgab, aber eine brave Freundin wie sie hatte in diesem neuen Leben offensichtlich keinen Platz mehr.
Vervollständigt wurde die Clique von Vera und Michelle. Vera passte zu Sabrina, sie gab sich immer sehr erwachsen und suchte betont die Gesellschaft älterer Jugendlicher. Dabei war sie ihren Klassenkameraden in Wahrheit gar nicht voraus, weder war sie körperlich weiter, noch wirkte sie vernünftiger. Michelle war wahrscheinlich nur dabei, weil Vera dabei war, sie war körperlich wie geistig wenig beweglich und zufrieden, wenn ihr jemand sagte, wo’s lang ging.
Was Finja daran fand, mit einer Schulschwänzerin mit kurzer Lunte, einer totalen Trantüte und einer Dreizehnjährigen abzuhängen, die krampfhaft versuchte, wie eine Dreiundzwanzigjährige daherzukommen, war Marie schleierhaft. Vor allem war es noch gar nicht so lange her, dass Finja selbst sich mokiert hatte über Veras affiges Auftreten und Michelles Tollpatschigkeit. Doch es war, als wäre diese Zeit komplett aus Finjas Gedächtnis gelöscht worden; natürlich hatte Marie nachgefragt, aber nur ausweichende Antworten bekommen. Vielleicht wusste Finja selbst gar nicht so genau, warum sie jetzt mit Sabrina und den anderen abhing, und wahrscheinlich ging es tatsächlich nur um Sabrina, während sie Vera und Michelle bloß notgedrungen in Kauf nahm.
Am Anfang war Marie einfach nur niedergeschlagen gewesen, als sie gemerkt hatte, dass Finja mit ihr kaum noch etwas zu tun haben wollte. Es war nicht so, dass Finja komplett die Brücken hinter sich abgebrochen hatte, vielleicht gab es irgendwas tief in ihrem Inneren, das sie davor noch zurückschrecken ließ, aber wenn Marie sie fragte, ob sie mal wieder was zusammen unternehmen sollten, redete sie sich immer raus. Auf die Sachen, die sie früher oft und gern zusammen gemacht hatten, hatte sie plötzlich keinen Bock mehr, sie machte aber auch keinen Vorschlag, was sie stattdessen machen könnten. Oft behauptete sie auch einfach nur, dass sie keine Zeit hätte, und es schien sie nicht ernsthaft zu interessieren, ob Marie das durchschaute.
Inzwischen war Marie entschlossen, um die Freundschaft zu kämpfen. Sie hatte auch noch andere Freundinnen, mit denen sie etwas unternehmen konnte, aber mit keiner war es so lustig wie mit Finja, und keiner konnte sie so vertrauen und alles erzählen. Vielleicht war ja noch nicht alles verloren, und vielleicht merkte Finja ja irgendwann, dass sie bei Sabrina keine echte Freundschaft finden würde. Aber damit Marie ihr das klarmachen konnte, mussten sie erst mal wieder miteinander reden und Zeit zusammen verbringen, und das ging wohl nur, wenn Marie selbst in den elitären Zirkel vorstieß.
Das war allerdings alles andere als einfach. Sabrina hatte offensichtlich kein Interesse daran, die Gruppe, mit der sie sich abgab, zu erweitern, und Marie passte auch gar nicht zu dieser Clique. Finja hatte sich ja auch radikal verändert, seit sie mit Sabrina abhing, sie gab sich cool und irgendwie desinteressiert. Auch ihr Äußeres war kaum wiederzuerkennen, Finja hatte sich die Haare anders schneiden lassen, trug andere Klamotten als früher und schminkte sich so, dass ihr Gesicht fast hart wirkte.
Marie glaubte nicht, dass sie jemals genauso werden konnte. Sie war einfach, wie sie war: freundlich, zurückhaltend, manchmal verträumt und eine gute Geschichtenerzählerin. Sie glaubte nicht, dass sie aus ihrer Haut konnte, und würde sie die Freundschaft zu Finja retten können, indem sie eine Rolle spielte? Eine Rolle, die so gar nicht zu ihr passte?