Freundschaft aus der Küche – Saft weg! ist eine kleine Fortsetzung der Reihe Freundschaft aus der Küche. Sie spielt nach Freundschaft aus der Küche – Grillfehde (Band 3) und beschreibt gemächlich einen Silvesterabend, der nicht ganz so läuft wie geplant und trotzdem oder vielleicht gerade deshalb wunderschön wird.
Pauline konnte nicht gerade jedes Wort verstehen, als ihre Mutter im Nebenzimmer telefonierte, aber den Tonfall bekam sie zwangsläufig mit. Die Zwischenwände der Dachgeschosswohnung bestanden bloß aus Holzbalken und verputzten Gipskartonplatten, die den Schall nur wenig dämmten. Ursprünglich war bis auf das Bad alles ein Raum gewesen, Pauline und ihre Mutter hatten beim Einzug die Zwischenwände gezogen, damit beide jeweils einen abgetrennten Bereich für sich hatten.
Ein erfreuliches Thema hatten Paulines Mutter und ihr Gesprächspartner nicht, aber einen kommenden Weltuntergang schienen sie zum Glück auch nicht zu besprechen. Paulines Mutter klang nicht wütend, sondern eher enttäuscht, so, als müsste irgendwas, auf das sie sich gefreut hatte, gestrichen oder verschoben werden.
„Marion hat gerade abgesagt“, erfuhr Pauline etwas später auf Anfrage. „Stromausfall im ganzen Haus, also kein Licht, kein Herd, kein gar nichts. Sie sagt, der Verwalter telefoniert schon rum wegen einem Elektriker, der den Fehler sucht, aber das kann dauern.“
Marion war ihre Freundin schon aus Schultagen. Sie war auch diejenige, derentwegen es Pauline aus ihrer Geburtsstadt Hamburg ins Ruhrgebiet verschlagen hatte. Ein gutes halbes Jahr war das jetzt her, im Frühjahr waren sie umgezogen. Marion hatte Paulines Mutter, die aus der Stadt stammte, auf ein Stellenangebot aufmerksam gemacht, und Paulines Mutter hatte den Job tatsächlich bekommen. Pauline hatte, plötzlich aus der vertrauten Umgebung gerissen, keinen leichten Start in der neuen Heimat gehabt. Sie war unfreiwillig gleich am ersten Schultag einer Mädchenclique in die Quere gekommen, die viel Einfluss in der Klasse hatte und Menschen ausschließlich nach materiellen Werten beurteilte. Da konnte Pauline nicht mithalten, die angesagten und teuren Marken saßen einfach nicht drin, auch wenn ihre Mutter etwas besser verdiente als bei ihrem alten Job in Hamburg.
Inzwischen hatte Pauline sich aber eingelebt und Freunde gefunden. Da war Marlene, mit der sie sich oft traf, Friederike, mit der sie auch zusammen im Volleyballverein war, und vor allem war da Robin. Er war der Erste gewesen, der auf das Urteil des Trios um Anna gepfiffen und sich mit Pauline angefreundet hatte, und seit dem Sommer waren sie sogar zusammen.
Paulines Mutter hatte sich seit dem Umzug wieder häufiger mit ihrer alten Schulfreundin getroffen. Kontakt gehalten hatten sie immer, meistens aber schriftlich oder fernmündlich, weil Bahnfahrten eben auch Geld kosteten. Auch für den heutigen Silvesterabend waren sie verabredet gewesen, Marion und ihr Mann hatten Paulines Mutter eingeladen zu einem gemütlichen Abendessen und anschließendem Beisammensein bis zum Feuerwerk. Aber wenn der Strom ausgefallen war, war das natürlich schwierig, kalte Küche und Abendessen beim Schein einer Taschenlampe wollte Marion keinem Gast zumuten.
„Dann können sie doch zu uns kommen!“, schlug Pauline spontan vor. „Was zu essen kriegen wir schon noch hin, und ob ihr jetzt hier oder da zusammen hockt…“
„Wir?“, wiederholte ihre Mutter lächelnd. „Du willst also helfen? Ich dachte, du wärst nachher noch mit Robin verabredet. Aber sonst ist die Idee gut. Eigentlich komisch, dass Marion und ich da beide nicht dran gedacht haben.“
So verwunderlich fand Pauline das gar nicht, denn bisher hatten ihre Mutter und Marion sich immer bei Marion getroffen. Der Grund war sie selbst, denn wenn die beiden sich verabredeten, dann wurde es leicht mal Mitternacht oder noch später. So lange nicht schlafen zu können, wollte ihre Mutter ihr nicht zumuten, auch am Wochenende nicht. Marion und ihr Mann hatten zwar auch Kinder, ein Zwillingspaar, aber die waren schon 16 und am Wochenende sowieso meistens bei Freunden.
An diesem Tag gab es jedoch keinen Grund, Rücksicht auf Pauline zu nehmen, denn sie würde eh aufbleiben bis zum Feuerwerk. Auch die Verabredung mit Robin musste den geänderten Plänen ihrer Mutter nicht zum Opfer fallen. „Er kann ja auch zu uns kommen“, sagte Pauline. „Und eigentlich auch hier schlafen, oder?“
„Wenn er mit Schlafsack und Luftmatratze einverstanden ist, dann ja“, antwortete ihre Mutter. Bis dahin hatte Robin noch nie bei Pauline übernachtet, aber das war eher Zufall. Umgekehrt hatte es das schon gegeben, nämlich an jenem Wochenende im Sommer, an dem Robins Eltern ihre Silberhochzeit gefeiert hatten. Da hatten Robin und Pauline zusammen für die Gäste gekocht, nachdem der beauftragte Partyservice einen Rückzieher gemacht hatte, und das hätten sie kaum geschafft, wenn Pauline abends zur üblichen Zeit nach Hause gemusst hätte.
„Er kriegt mein Bett“, stellte Pauline klar, „und ich schlafe im Wohnzimmer.“ „Oder so.“ Das war ihrer Mutter egal, solange die räumliche Trennung gewährleistet war.
Pauline wartete nicht länger und rief ihren Freund an. Der hatte nichts dagegen, dass sie sich bei ihr treffen würden statt bei ihm. Sie hatten ohnehin nichts Besonderes geplant, wollten einfach zusammen abhängen, und das konnten sie hier wie da. Die Idee, nicht nur den Nachmittag zusammen zu verbringen, sondern den ganzen Abend bis zum Jahreswechsel, fand er richtig gut. „Da hätten wir auch früher dran denken können“, meinte er. „Aber bei uns sind Feiertage immer irgendwie Familientage, wo man einfach zu Hause ist.“ „Ich hoffe, deine Eltern lassen dich dann überhaupt gehen“, antwortete Pauline. „Glaube schon“, versuchte Robin sie zu beruhigen. „Ich frage sie eben und ruf dich gleich wieder an.“
Das dauerte tatsächlich nicht lange, und Robin hatte gute Nachrichten. Seine Eltern waren zwar überrascht gewesen, hatten sich aber nicht gesträubt. Es war das erste Mal, dass er Silvester nicht zu Hause verbringen würde, aber sie verstanden auch, dass er gern mit Pauline feiern wollte. „Ich pack eben meinen Koffer, dann komme ich rüber“, kündigte er an. „Koffer?“ Pauline lachte. „Dann vergiss aber auch die nötigen Impfungen nicht, bei so einer langen und gefährlichen Reise!“ Beide lachten, und Pauline erkundigte sich, welchen Bus Robin nehmen wollte. Im Moment war es noch zu früh, um Abendessen zu machen, also konnte sie Robin bis zur Haltestelle entgegengehen.
Parallel hatte ihre Mutter schon mit Marion telefoniert. „Sie kommen“, berichtete sie. „Es sei denn, der Elektriker muss in die Wohnungen, aber das ist wohl nicht so wahrscheinlich.“ „Robin kommt auch“, antwortete Pauline und nannte die Zeit, zu der sie ihn abholen wollte. „Schlau eingefädelt!“, behauptete ihre Mutter. „Dann kann er gleich noch beim Kochen helfen, wie?“
Das war nun wirklich nicht Paulines primäre Intention gewesen. Allerdings ahnte sie, dass Robin sich schwerlich davon abhalten lassen würde, ihr in der Küche zur Hand zu gehen. Schließlich hatte er dank ihr Kochen gelernt und auch Spaß daran gefunden. Seine Mutter hatte zuvor vergeblich versucht, ihn dafür zu begeistern, sicherlich bedingt durch die knapp bemessene Mittagspause seines Vaters, die keine Verzögerung erlaubte. Wenn er zusammen mit Pauline kochte, dann hatten sie Zeit, und es spielte keine Rolle, ob das Essen fünf oder zehn Minuten später auf den Tisch kam.
Zusammen mit ihrer Mutter sichtete Pauline die Vorräte und überlegte, was man daraus machen konnte. Zum Einkaufen war es zu spät, an Silvester machten ja die meisten Geschäfte schon am frühen Nachmittag zu. Allenfalls im Tankstellenshop hätten Pauline und ihre Mutter noch etwas bekommen, aber das wollten sie möglichst vermeiden, weil dort alles viel mehr kostete.
„Reicht dicke!“, stellte Pauline nach ein paar Minuten fest. Mit einer Suppe und fünf Sorten Fingerfood würden sie für das Abendessen gerüstet sein, und zum Knabbern für den Rest des Abends würden sie Plätzchen backen. Was sie dafür brauchten, hatten sie im Haus.
Die Gäste beklagten sie jedenfalls nicht, dass sie hungrig bleiben müssten, im Gegenteil: Marion und ihr Mann lobten das Essen, das am Ende doch hauptsächlich Pauline und Robin gemacht hatten, ausdrücklich. Sie wussten natürlich, dass Paulines Mutter mittags nicht zu Hause war und Pauline deshalb selbst kochte, fanden aber trotzdem bemerkenswert, was sie und Robin alles machten.
Kennengelernt hatten sie Robin bis dahin noch nicht, wussten aber, dass es ihn gab. Wenn Marion sich mit Paulines Mutter unterhielt, waren natürlich gelegentlich auch die Kinder ein Thema, und nach dem Umzug hatte Marion sich mehrfach erkundigt, wie Pauline sich eingelebt hatte. Ihr war ja auch klar gewesen, dass so ein Umzug für ein knapp zwölfjähriges Mädchen nicht einfach war. Nachdem Pauline anfangs noch mehr Schwierigkeiten gehabt hatte als befürchtet, war ihre Erleichterung umso größer gewesen, als Pauline dann doch Freunde gefunden hatte. Dass sich Pauline als Erstes mit einem Jungen angefreundet hatte, hatte sie überrascht, und ein bisschen neugierig war sie natürlich schon, jetzt, wo sie ihn zum ersten Mal persönlich traf. Sie wusste aber auch, dass er keine Lust haben würde, sich einem peinlichen Verhör zu unterziehen, und hielt sich entsprechend zurück.
Nach dem Essen vertrieben Pauline, Robin und die drei Erwachsenen sich die Zeit mit Gesellschaftsspielen. Pauline suchte aus ihren Spielen zwei heraus, von denen sie annahm, dass alle daran Spaß haben würden. Ein Quiz-Spiel legte sie wieder zurück ins Regal, weil dabei die Chancen zu ungleich verteilt gewesen wären; auf einigen Wissensgebieten waren Erwachsene nun mal Siebtklässlern gegenüber im Vorteil.
Mit den Spielen verging die Zeit wie im Flug, und Pauline erschrak fast, als sich ihr Handy mit einem kurzen Signalton meldete. Gut, dass sie daran gedacht hatte, die Erinnerung einzustellen! Sonst hätten sie glatt durchgespielt, bis der Lärm des Feuerwerks sie aufgeschreckt hätte. So war gerade noch genug Zeit für Paulines Mutter, um den Sekt zu öffnen, den Marion und ihr Mann zum Anstoßen mitgebracht hatten, und Gläser zu füllen. Für Pauline und Robin, die noch keinen Alkohol trinken durften und auch kein Verlangen danach spürten, gab es stattdessen Orangensaft. Auch Marions Mann nahm nur einen Schluck, weil es in seiner Verantwortung lag, sich und seine Frau nach dem Feuerwerk unfallfrei nach Hause zu bringen.
Als Taktgeber für den Countdown diente Paulines Handy. Pauline hatte am Nachmittag extra noch mal geschaut, dass die Uhr exakt ging. Sie zählten alle mit, und bei null stießen sie an auf das neue Jahr. Pauline umarmte Robin und gab ihm einen Kuss, ehe sie ihm alles Gute für das neue Jahr wünschte. Ein wenig merkwürdig fühlte sie sich dabei, weil es das erste Mal in Gegenwart ihrer Mutter war. Die fand das aber offenbar völlig in Ordnung, sie wartete geduldig, bis Pauline und Robin einander losließen, und umarmte Pauline dann.
Danach ging es nach draußen. Einige Nachbarn hatten das Anstoßen wohl entweder vorverlegt oder gestrichen, denn obwohl Pauline und Robin allenfalls eine Minute nach Mitternacht auf die Straße traten, war das Feuerwerk schon in vollem Gange.
Robin hatte sich etwas Kleinzeug zum Knallen mitgebracht, Zisselmänner und ein paar Böller, die vielleicht wehtaten, wenn sie zu früh hochgingen, einem aber nicht gleich die Finger abrissen. Pauline hatte gar keine Böller, immerhin aber ein paar Wunderkerzen, die sie auf den Kasten mit den Mülltonnen stellte. Robin hatte Verständnis dafür, denn er wusste ja auch, dass Paulines Mutter kein Wahnsinnsgehalt bekam. Das Geld reichte für Miete und Lebensunterhalt, und das bisschen, das übrig blieb, legte Paulines Mutter lieber zur Seite für größere Ausgaben. Gerade in diesem Jahr waren die Rücklagen nicht mehr sehr groß, der Umzug hatte doch einiges an Geld verschlungen.
Aber das machten die Nachbarn wett, denn von denen hatten einige offenbar beträchtliche Beträge in Raketen und Böller investiert. Es war ordentlich laut, die Hauswände warfen jeden Knall zigfach zurück, und die Straße verschwand immer mehr in Rauchschwaden. Aber es war ein schöner Anblick, wie überall die Raketen in den Himmel stiegen.
„Ich hab eine Idee!“, sagte Robin plötzlich. „Hast du Lust auf richtiges Panorama?“ „Immer!“, antwortete Pauline. „Aber wo…?“ „Lass dich überraschen!“ Robin drehte sich zu Paulines Mutter um. „Dürfen wir ein Stück gehen?“, fragte er. „Macht ruhig“, entschied die. „Aber geht nicht zu weit, und bleibt nicht zu lange weg.“ „Wir bleiben in der Nähe“, versicherte Robin. „Und wenn das Feuerwerk aufhört, kommen wir wieder.“ Es war klar, dass er damit die Viertel- oder halbe Stunde meinte, in der der Hauptteil des Feuerwerks in die Luft geschossen wurde, nicht zwei oder drei Uhr früh, wenn auch die Letzten ihr Pulver verschossen hatten.
Pauline wusste, dass es keinen Zweck hatte, aus ihm herausholen zu wollen, wohin er mit ihr gehen wollte. Sie würde es erfahren, und das auch ziemlich bald, denn weit konnte es nicht sein. Robin würde kaum ewig mit ihr durch die Straßen laufen, damit sie am Ende mit viel Glück noch eine Handvoll Raketen aufsteigen sehen konnten.
Tatsächlich waren sie keine zwei Minuten unterwegs zu der Straßenkreuzung, die Robin sich ausgeguckt hatte. Pauline kam regelmäßig hier vorbei, aber bislang war ihr noch nie aufgefallen, wie weit man von hier aus gucken konnte, wenn man sich den richtigen Punkt suchte. Eine der Straßen führte ein ganzes Stück bergab, und wenn man sich so stellte, dass man mit dem Blick dem Straßenverlauf folgen konnte und nicht die Häuser im Bild hatte, dann hatte man tatsächlich einen weiten Ausblick bis in die angrenzenden Stadtteile hinein. „Schön“, befand Pauline. „Wie bist du da drauf gekommen?“ „Ich hab’s irgendwann mal zufällig gesehen“, erklärte Robin. „Und eben, als wir rausgegangen sind, ist es mir wieder eingefallen.“
Eng nebeneinander, jeder einen Arm um die Hüften des anderen gelegt, blieben sie stehen und beobachteten die unzähligen Raketen, die vor ihnen in den Himmel stiegen. Kurz dachte Pauline, dass es hunderte, vielleicht tausende Menschen sein mussten, die in den Straßen unter ihnen den Jahreswechsel begingen.
Weil auch an der Kreuzung geknallt wurde, hätte Pauline fast ihr Handy überhört, das eine eingehende Nachricht meldete. Sie holte es heraus – eine Nachricht von Nina, die in Hamburg ihre beste Freundin gewesen war und den Kontakt nicht abreißen ließ. Sie schickte Neujahrsgrüße und schrieb, dass Pauline auch Robin grüßen sollte. Nina hatte ihn in den Herbstferien kennengelernt, als sie Pauline besucht hatte. „Grüß sie zurück“, bat Robin. „Ich find’s übrigens klasse, dass ihr immer noch Freunde seid, obwohl du so weit weggezogen bist. Aber ich muss gestehen, ich bin froh, dass du hergezogen bist.“ Pauline lachte und legte den Kopf an seine Schulter. „Ich hätte nicht gedacht, dass ich das jemals sagen würde, aber ich bin auch froh, dass ich jetzt hier bin.“ Und da drin steckte ganz viel: „Hier bei dir.“