Ben ist gerade erst in die Stadt gezogen und neu in der 6b. Er scheint ganz in Ordnung zu sein, findet Max, der neue Sitznachbar, und im Fußball ist er auch nicht so schlecht. Wenn er noch die dicken Schnitzer abstellt, die ihm immer wieder passieren, dann könnte Max ihn gut für seine Mannschaft brauchen. Aber irgendwas versucht Ben zu verbergen, und als das Geheimnis ans Licht kommt, ist er sicher, dass nur einer ihn verraten haben kann: Max.
Autorenplauderei: Emotionen im Sport – Was geht?
Klopper & Sohn spricht ein Thema an, das immer wieder heiß diskutiert wird: Emotionen im Fußball. Fast immer, wenn ein Spieler wegen Meckerns verwarnt oder ein Trainer auf die Tribüne geschickt wird, wird noch lange darüber geredet. Emotionen gehören im Sport dazu, sagen die einen, man muss sich im Griff haben, argumentieren die anderen. Ich denke, recht haben beide Seiten: Sich zu ärgern, wenn etwas nicht so läuft, wie man es sich vorgestellt hat, ist menschlich, egal ob man als Spieler aus eigenem Unvermögen das Tor nicht trifft oder sich durch einen (vermeintlich) falschen Pfiff um den Erfolg gebracht sieht. Aber alle anderen auf und neben dem Feld sind auch Menschen und haben ein Recht darauf, entsprechend behandelt zu werden, das sollte man auch in Momenten des Zorns nicht vergessen. Es gilt, wie so oft, den gesunden Mittelweg zu finden: auf der einen Seite nicht jeden Ausruf, jede Geste gleich streng zu sanktionieren, aber auf der anderen Seite nichts zu entschuldigen, was andere Menschen physisch oder psychisch verletzt.
Sechs Wochen Sommerferien lagen landesweit hinter den Schülern, aber Sehnsucht nach der Schule hatte sich in der Zeit wohl bei den wenigsten eingestellt. Aber die Pflicht rief, also karrten Busse und Bahnen in jeder Stadt, jedem Dorf, die Jungen und Mädchen dorthin, wo ab sofort wieder ihr Alltag stattfinden würde.
Auch Maximilian Börnke, Max genannt, hätte gut und gerne noch mal sechs Wochen Ferien ausgehalten. Stattdessen hockte er wieder an seinem Tisch, an dem wohl schon die Generation seines Vaters mit Taschenmesser und Zirkel herumgeschnitzt hatte, und starrte sehnsüchtig durchs Fenster nach draußen. Blauer Himmel, warm, aber nicht zu heiß, kurzum: perfektes Wetter für alles außer Schule.
Es besuchte die Albert-Schussler-Realschule, die benannt war nach einem früheren Bürgermeister der Stadt. Womit der sich diese Ehrung verdient hatte, wusste Max nicht. Für ihn begann das zweite Jahr an der ASR, wie alle die Schule abkürzten, und es hieß, dass die Klasse einen Neuen bekommen sollte. Die Information war wohl verlässlich, denn sie stammte von Lutz, und dessen Vater war gut mit dem Direktor bekannt. Lutz behauptete auch, dass der Neue vom Gymnasium abgegangen sein müsste, aber das war nicht sicher.
Es hatte gerade zur ersten Stunde geklingelt, die an diesem Tag auch die letzte sein würde. Vielleicht würden sie die nicht mal voll brauchen, es ging ja nur um das übliche Zeug zu Schuljahresbeginn: der neue Stundenplan, die Bücher, die die Schule den Kindern zur Verfügung stellte, erste Terminankündigungen, also alles nichts Weltbewegendes. Und natürlich der Neue, wenn es ihn tatsächlich gab.
***
Es gab den Neuen, er kam zusammen mit Frau Schulz-Kölner, die wie schon im Vorjahr Klassenlehrerin der nun von der 5b zur 6b gewordenen Klasse war. Er sah durchschnittlich aus: mittelgroß, schlank, dunkles, leicht welliges Haar, braune Augen. Bekleidet war er mit Jeansshorts und T-Shirt, auf dem Rücken trug er einen bunten Rucksack. Besonders wohl zu fühlen schien er sich gerade nicht, aber das wäre wohl kaum jemandem in seiner Situation anders gegangen. Unsicher sah er in die Runde.
Frau Schulz-Kölner begrüßte die Klasse. „Einige von euch haben es wahrscheinlich schon gehört:“, verkündete sie dann, „Ihr habt einen neuen Mitschüler.“ Sie deutete mit dem Kopf auf den Neuen. „Das ist…“ „Benjamin Michalke“, fiel der Junge ihr ins Wort. „Oder kurz Ben. Ich bin aus München hergezogen.“
„Hoppla!“, ging es Max durch den Kopf. „Ganz schön forsch!“ Er hätte sich nicht getraut, die Lehrerin einfach zu unterbrechen, und dieser Ben sah eigentlich auch nicht aus wie einer, der vor nichts und niemandem Respekt hatte.
Auch Frau Schulz-Kölner war irritiert und brauchte einen Moment, um sich zu fangen. „Gut“, sagte sie schließlich und versuchte, dabei nicht zu deutlich durchzuatmen. „Dann setz dich! Viel Auswahl hast du nicht, ich schlage vor, du setzt dich neben Max.“
Die Tische waren so aufgestellt, dass immer vier zusammen eine Reihe bildeten, in der Mitte durch einen Gang getrennt. Max saß in der zweiten Reihe am Tisch an der Wand, der Platz neben ihm, der direkt an der Wand, war frei. Dass Ben diesen Platz bekam, war logisch, denn ansonsten wäre nur auf der Fensterseite bei den Mädchen was frei gewesen.
Ben schob sich hinter Max und den beiden Jungen durch, die neben Max den Tisch direkt am Mittelgang besetzten. Viel Platz war nicht, Max beugte sich vor, damit sein neuer Sitznachbar leichter vorbeikam.
„Hi“, sagte er, als sein neuer Klassenkamerad sich gesetzt hatte. „Ich bin Max.“ „Hi“, antwortete Ben. Damit schien für den Moment alles gesagt, aber Max fand, dass es gut wäre, ein Gespräch in Gang zu bringen. Außerdem war er neugierig, zumal er und Ben ja wohl auch für einige Zeit Sitznachbarn bleiben würden. „Warum bist du hergezogen?“, fragte er. „Neuer Job“, antwortete Ben. „Mein Vater, meine ich, nicht ich.“ „Na, du aber auch“, sagte Max. „Jedenfalls sagt die Schulz-Kölner immer, die Schule wäre unser Job.“ Ben grinste. „Hat einer von den Lehrern in München auch gesagt. Aber für den Job braucht keiner umzuziehen, der wird überall gleich scheiße bezahlt.“ „Was macht denn dein Vater?“, fragte Max weiter. Aus den Augenwinkeln vergewisserte er sich, dass die Schulz-Kölner ihn nicht im Visier hatte, denn er hatte keine Lust, sich gleich am ersten Tag nach den Ferien einen Rüffel einzufangen. Doch die Lehrerin achtete nicht weiter auf ihn; vielleicht hatte sie das Getuschel auch bemerkt und sah ausnahmsweise darüber hinweg, weil sie’s gut fand, wenn der Neue schnell Anschluss fand.
Ben zögerte einen ganz kurzen Moment. „Er ist in der Sportbranche“, sagte er dann. Verkäufer im Sportgeschäft war damit wohl nicht gemeint, vermutete Max, das hätte Ben auch so sagen können, und er glaubte auch nicht, dass man sich mit dem Beruf einen Job hunderte Kilometer entfernt vom alten Zuhause suchen würde.