Zwei Wochen Südtirol – das ist für sich schon eine super Sache, findet Ann-Kathrin. Aber richtig rund wird es erst mit den Tipps, die ihr Klassenkamerad Florentin ihr schickt. Er war schon oft in der Gegend und kennt auch die Ecken, an denen der Durchschnittstourist vorbeiläuft. Schade, dass er ihr das alles nur schreiben kann, denkt sich Ann-Kathrin. Florentin sieht es offenbar anders, denn als Ann-Kathrin ihm von ihren Gedanken schreibt, herrscht plötzlich Funkstille.
„Gerade angekommen!“, schrieb Ann-Kathrin in den Klassenchat. Sie war reichlich müde nach zehn Stunden Autofahrt, aber das wollte sie schnell noch posten, ehe sie ins Bett ging. Es war noch gar nicht so spät, aber Ann-Kathrin wollte lieber zeitig ins Bett gehen und dafür am nächsten Morgen wieder richtig ausgeruht sein.
Dass sie gerade erst angekommen war, entsprach auch nicht ganz der Wahrheit, immerhin hatte sie nach der Ankunft schon ihren Koffer ausgepackt und zu Abend gegessen. Aber davon ab hatte sie tatsächlich noch nichts unternommen, noch nicht mal einen Rundgang durch Haus. Sie hatte überlegt, wenigstens noch kurz eine Runde durchs Dorf zu drehen, fühlte sich aber zu matschig nach der langen Anreise.
Ann-Kathrin war dreizehn, würde im Oktober vierzehn werden und nach den Sommerferien in die achte Klasse kommen. Sie hatte eine Halbschwester aus der ersten Ehe ihrer Mutter, Franziska, und eine jüngere Schwester, Ella, die während der Zeit in Südtirol elf werden würde.
Ihre Eltern hätten verstanden, wenn Ann-Kathrin in ihrem Alter keine Lust mehr gehabt hätte auf Familienurlaub, und hatten ihr deshalb freigestellt, bei Franziska zu Hause zu bleiben. Franziska war fast zwanzig und machte eine Ausbildung zur Kindergärtnerin. Doch Ann-Kathrin hatte nicht lange überlegt und entschieden, dass sie mit den Eltern und der jüngeren Schwester fahren wollte. Zwei Wochen Südtirol, das hörte sich nicht schlecht an, und sie würde bestimmt auch mal ihre eigenen Wege gehen können in der Zeit. Außerdem waren ihre Freundinnen auch alle in Urlaub, und Franziska kam die sturmfreie Bude vielleicht gar nicht so ungelegen. Sie hatte einen Freund, einen Studenten, der ziemlich beengt in einer WG wohnte, und sie schimpfte häufiger, dass seine Mitbewohner offensichtlich die Bedeutung des Wortes „Privatsphäre“ nicht kannten.
Während sie sich umzog, gab ihr Handy einen Signalton von sich. „Und, wie ist’s?“, schrieb Kira, mit der Ann-Kathrin locker befreundet war. „Weiß ich noch nicht“, schrieb Ann-Kathrin zurück. „Bin ziemlich durch nach der Fahrerei, hab mir noch nichts angeschaut. Zimmer ist auf jeden Fall okay, das Abendessen war auch gut. Morgen mehr.“
***
Am nächsten Morgen fühlte Ann-Kathrin sich tatsächlich wieder gut erholt, und sie hatte richtig Lust, wandern zu gehen. Ob ihre Eltern schon irgendwelche Pläne gemacht hatten, wusste sie nicht, das würde sie beim Frühstück erfahren.
Sie beeilte sich mit Waschen und Anziehen und ging nach unten. Der Frühstücksraum, der auch so hieß, wenn dort das Abendessen serviert wurde, war noch weitgehend verwaist. Auch von ihren Eltern war nichts zu sehen, das hatte Ann-Kathrin fast erwartet. Es war noch früh, und ihre Eltern hätten auch bei ihr und Ella angeklopft und Bescheid gesagt, wenn sie schon runtergegangen wären.
Ann-Kathrin verspürte wenig Lust, sich hinzusetzen und auf den Rest der Familie zu warten. Dann lieber schon mal einen Blick nach draußen werfen! Sie hatte Ella gesagt, dass sie vielleicht schon mal rausgehen würde, und sie würde sich nicht weit von der Pension entfernen; nur so weit, dass sie innerhalb von zwei oder drei Minuten zurück sein konnte.
Die Pension lag am Rand eines kleinen Dorfes und unweit der Straße, die das ganze Tal erschloss. Das Haus war im gleichen Stil erbaut wie die umliegenden Gebäude, der obere Teil war mit Holz verkleidet. Dabei war die Pension gar nicht so klein, um die zwanzig Zimmer, glaubte Ann-Kathrin sich zu erinnern. Natürlich hatte sie sich vorher schlaugemacht, was sie erwartete, aber solche Fakten hatte sie nur am Rande mitbekommen. Seitlich vom Haus gab es einen Parkplatz, der ziemlich gut gefüllt war, schlecht ausgelastet war die Pension offenbar nicht. Es war ja auch Hauptsaison, und nach dem, was Ann-Kathrin überflogen hatte, waren die Online-Bewertungen überwiegend positiv. Natürlich waren auch ein paar Stinkstiefel darunter gewesen, die nur einen Stern gegeben hatten, aber das waren wohl welche, die entweder immer unzufrieden waren, meckerten, um nachträglich eine Erstattung rauszuschlagen, oder völlig unrealistische Erwartungen hatten.
Ann-Kathrin ging die Zufahrt hinunter, die die Pension mit der Straße verband. Das war nicht weit, nur das kurze Stück an den Häusern vorbei, die direkt an der Straße standen. Es war noch recht kühl, da machte sich die Höhe von fast 1000 Metern bemerkbar, aber mit einem Sweatshirt war es auszuhalten.
An der Einmündung blieb sie stehen und schaute in beide Richtungen. Nach rechts, taleinwärts, standen Wohnhäuser beiderseits der Straße, noch hundert Meter weit, bis das Dorf zu Ende war und nur noch Wiesen die Straße säumten. Talauswärts, ein bisschen weiter entfernt, war der Mittelpunkt des Dorfes, dort befand sich die Kirche mit dem Friedhof drumherum. Auf der Herfahrt hatte Ann-Kathrin ein Haus gesehen, das ein Gemeindesaal oder etwas in der Art zu sein schien, und daneben Kindergarten und Grundschule. Jetzt sah sie, dass es auf der anderen Straßenseite einen Laden gab, den hatte sie wohl auf der Fahrt übersehen. Das war verzeihlich, denn der Laden war augenscheinlich ziemlich klein. Außerdem stand das Nachbarhaus näher an der Straße, deshalb war der Laden wohl lange im toten Winkel, wenn man von der Autobahn her ins Dorf fuhr.
Da ihre Eltern sich noch nicht gemeldet hatten, um sie zum Frühstück zu rufen, beschloss Ann-Kathrin, sich den Laden schon mal aus der Nähe anzusehen. Am Sonntagmorgen würde er sicherlich geschlossen sein, aber vielleicht konnte sie durchs Schaufenster einen Eindruck bekommen, was man dort alles kaufen konnte. Außerdem kannte sie dann schon mal die Öffnungszeiten. So lang wie bei den Supermärkten bei ihr zu Hause würden sie bestimmt nicht sein, aber in so einem kleinen Ort musste sie wohl schon froh sein, dass es überhaupt etwas gab, wo sie sich mal ein Eis holen konnte.