In letzter Sekunde rutscht Valerie in den Schüleraustausch mit einer Schule in Deutschland. Ihre Gastgeberin ist echt nett, und dass Valerie kein Deutsch spricht, scheint auch kein Problem zu sein. Doch weil sie ein Jahr jünger ist, nehmen die anderen Austauschschüler sie nicht für voll, und zwei von ihnen lassen sich einen echt blöden Streich einfallen. Plötzlich ist Valerie abgehängt, völlig auf sich allein gestellt, in einem fremden Land, dessen Sprache sie nicht spricht …
Autorenplauderei: Nicht-Muttersprachler
Mit diesem Buch habe ich mir selbst eine Herausforderung gestellt, die ich zumindest in dem Ausmaß noch nie hatte: Die Handlung beinhaltet einen bunten Mix aus vier Sprachen (Deutsch, Englisch, Französisch und Niederländisch), und die Protagonistin spricht kein Wort Deutsch. Dass der Erzähltext trotzdem auf Deutsch geschrieben ist, versteht sich von selbst, aber ich musste beim Schreiben immer mit einem Auge darauf achten, in welcher Sprache sich die Handelnden gerade bewegen, und das dann auch für den Leser kenntlich machen. Dabei sollten aber die Hinweise, welche Sprache gerade gesprochen wird, trotzdem den Lesefluss nicht stören – ich hoffe, es ist mir gelungen!
Valerie hatte gerade ihre Hausaufgaben fertig und wollte es sich mit einem Buch gemütlich machen, als sie von unten ihre Mutter ihren Namen rufen hörte. „Ja?“, rief sie zurück. „Komm mal runter!“, antwortete ihre Mutter.
Verwundert stand Valerie auf und ging zur Treppe. Sie hatte keine Ahnung, was los sein könnte. Soweit sie wusste, stand am Nachmittag nichts an, und ihre Pflichten im Haushalt hatte sie ihrer Meinung nach ordentlich erledigt. Überraschender Besuch konnte es auch nicht sein, denn dann hätte sie die Klingel gehört. Am ehesten hatte ihre Mutter wohl was beim Einkaufen vergessen und wollte jetzt, dass sie noch mal schnell zum Supermarkt ging.
Sie fand ihre Mutter im Wohnzimmer auf dem Sofa sitzend. „Was ist?“, fragte sie und bemühte sich, sich nicht anmerken zu lassen, dass sie wenig Lust verspürte, irgendeine Besorgung zu machen.
„Deine Klassenlehrerin hat eben angerufen“, eröffnete ihre Mutter ihr. Valerie zuckte leicht zusammen vor Schreck, obwohl sie keinen Grund hatte, ein schlechtes Gewissen zu haben. Seit dem letzten Sommer besuchte sie die Sekundarschule, und die Noten auf dem letzten Zeugnis waren durchweg in Ordnung gewesen. Sie hatte auch keinen Test versemmelt und fand, dass sie sich im Unterricht oft genug meldete. Natürlich rief sie ab und an mal dazwischen oder schwatzte einen Moment leise mit der Banknachbarin, statt aufzupassen, aber dafür würde kein Lehrer die Eltern anrufen. Da hätten sie ja nur noch am Telefon gehangen, aber trotzdem war Valerie beunruhigt. „Madame Russell?“, fragte sie, zu perplex für eine intelligentere Erwiderung. „Natürlich“, antwortete ihre Mutter trocken. „Oder hast du neuerdings noch eine andere Klassenlehrerin?“
Aber sie lächelte dabei, das war ein gutes Zeichen. Wenn ein Donnerwetter im Anmarsch gewesen wäre, dann hätte sie viel sarkastischer geklungen. „Keine Sorge“, beruhigte sie Valerie, „du hast nichts angestellt.“ Sie hatte also gesehen, dass sie Valerie einen Schrecken eingejagt hatte, und wusste auch, dass jeder Schüler instinktiv nichts Gutes witterte, wenn die Lehrer die Eltern anriefen.
Sie gab Valerie einen kurzen Moment Zeit, sich zu beruhigen. „Sie wollte wissen, ob du Lust hast, mit zu einem Schüleraustausch nach Deutschland zu fahren. Du müsstest dich aber schnell entscheiden, es geht Montag schon los.“ „Was?“, entfuhr es Valerie. „Aber wie…?“ Sie war total verwirrt und ließ die Frage in der Luft hängen.
Ihre Mutter schien ein bisschen amüsiert, verstand aber auch, dass sie Valerie völlig überrumpelt hatte. „Du weißt doch, dass Madame Russell nächste Woche mit ihrer Achten zum Schüleraustausch fährt, oder?“, erklärte sie. Valerie nickte. Das wusste sie schon deshalb, weil dadurch für sie in der kommenden Woche der Erdkundeunterricht ausfallen würde. Madame Russell unterrichtete Erdkunde, Deutsch und Geschichte, und in der Achten hatte sie eine Klasse in Deutsch. „Eins von den Mädchen aus der Klasse ist krank geworden“, fuhr Valeries Mutter fort. „Was sie hat, hat Madame Russell nicht gesagt, auf jeden Fall kann sie nicht mit nach Deutschland. Den Platz könntest du einnehmen und zwei Wochen bei der Gastfamilie verbringen.“ „Und warum ausgerechnet ich?“, wunderte Valerie sich. „Ich bin doch erst in der Siebten, und ich kann noch nicht mal Deutsch. Und überhaupt, warum lassen die den Platz nicht einfach leer?“
Ihre Mutter zuckte mit den Schultern. „Na ja, sie haben das ja alles schon gebucht, Karten besorgt und so weiter“, versuchte sie zu erklären. „Manches kann man nicht wieder zurückgeben, oder zumindest nicht so kurzfristig, und verfallen lassen wollen sie’s natürlich auch nicht. Außerdem wäre es für das Mädchen aus der Gastfamilie bestimmt auch blöd, wenn jetzt niemand zu ihm kommt.“ „Aber sie haben doch bestimmt schon geschrieben und vielleicht auch telefoniert“, wandte Valerie ein. „Mich kennt sie gar nicht.“ „Stimmt schon“, räumte ihre Mutter ein. „Aber Madame Russell meint, du würdest gut zu Mathilda passen.“ „Ist das das deutsche Mädchen?“, vergewisserte Valerie sich, und ihre Mutter nickte. „Sie spielt auch Volleyball und liest viel, genau wie du“, sagte sie. „Und Badminton spielt sie wohl auch. Sie ist natürlich auch schon in der Achten, aber ich glaube nicht, dass das ein Problem ist, so viel jünger bist du ja auch nicht. Mehr weiß ich auch noch nicht über sie, aber Madame Russell schickt mir gleich noch ihren Fragebogen. Den mussten alle ausfüllen, damit die Lehrer Paare zusammenstellen konnten, die zusammenpassen. Ich leite dir die Mail weiter, dann hast du zumindest schon mal ein Foto von ihr und kannst lesen, was sie über sich geschrieben hat.“
Valerie nickte verstehend. Offensichtlich hatte ihre Klassenlehrerin sich gut überlegt, wer anstelle der kranken Achtklässlerin zu Mathilda fahren sollte. Die Hobbys passten auf jeden Fall, sie spielte seit zwei Jahren im Volleyballverein. Zu den Stars der Mannschaft gehörte sie nicht, schlecht war sie aber auch nicht. Badminton hatte sie noch nicht richtig gespielt, nur ab und an Federball mit ihren Freundinnen, aber sie war durchaus bereit, es auszuprobieren. Mit etwas Glück hatten sie auch noch beim Lesen den gleichen Geschmack und konnten über ihre Lieblingsbücher reden.
„Kommt die Klasse aus Deutschland eigentlich auch mal zu uns?“, fragte sie. „Und wohin käme Mathilda dann? Zu uns, oder…?“ „Die deutsche Klasse kommt zwei Wochen nachdem ihr zurück seid“, antwortete ihre Mutter. „Auch für zwei Wochen. Ob Mathilda dann zu uns kommt, ist wohl noch nicht raus. Ich glaube, Madame Russell wollte sich noch nicht endgültig festlegen, für den Fall, dass das andere Mädchen bis dahin wieder gesund ist. Aber so, wie es sich anhörte, hat’s die Arme wohl ziemlich niedergestreckt. Wahrscheinlich käme Mathilda also tatsächlich zu uns.“
Ein kurzes Schweigen entstand. „Du musst das erst mal verdauen, wie?“, stellte Valeries Mutter dann fest. „Kommt ja reichlich plötzlich, die Geschichte. Du musst aber nicht jetzt und auf der Stelle sagen, ob du mit willst. Madame Russell braucht zwar heute noch eine Antwort, aber wenn du dir alles in Ruhe anguckst und Papa und mir bei Abendessen Bescheid sagst, dann reicht das völlig. Ich leite dir die Mail von Madame Russell weiter, sobald sie kommt, und bis dahin kannst du ja schon mal schauen, ob du was über die Gegend rauskriegst. Die Stadt heißt Herne, das ist wohl irgendwo bei Dortmund, wenn ich Madame Russell richtig verstanden hab.“
***
Eine Minute später saß Valerie auf dem Bett und loggte sich mit dem Handy ins W-LAN ein. Weil die E-Mail von Madame Russell noch nicht da war, googelte sie zunächst die Stadt, wie ihre Mutter vorgeschlagen hatte. Sie schrieb den Namen falsch, denn im Deutschen wurden einige Buchstaben anders gesprochen als im Französischen, aber die Suchmaschine verstand sie trotzdem. Valerie öffnete zuerst den Link zu Google Maps, um zu sehen, wo genau Herne lag, und dann den zu Wikipedia. Herne war etwas kleiner als Lüttich und lag mitten im Ruhrgebiet. Davon hatte Valerie schon gehört, die Gegend war bekannt für Kohle und Stahl. Deswegen hatte sie sich immer einen grauen Moloch vorgestellt, aber das schien nicht die ganze Wahrheit zu sein. Genauer gesagt war die letzte Kohlenzeche gerade geschlossen worden, dafür gab es überraschend viel Grün.
Bekannt war Herne für seine Kirmes, die zu den größten in Deutschland gehörte. Die würde Valerie allerdings nicht miterleben, denn die Kirmes würde erst im August wieder stattfinden.
Sonst schien die Stadt nicht so spannend zu sein, aber vielleicht standen die wirklich interessanten Sachen bloß nicht in dem Wiki-Artikel. Valerie beschloss, sich nicht von einem Artikel abschrecken zu lassen, dessen Wahrheitsgehalt und Vollständigkeit sie nicht prüfen konnte. Stattdessen würde sie abwarten, was Mathilda schrieb, die würde schließlich wissen, was es in ihrer Stadt zu erleben gab.
Die E-Mail von Madame Russell traf ungefähr zehn Minuten später ein, und Valerie öffnete zuerst den Fragebogen, der als PDF angehängt war. Der erste Blick galt dem Foto, es zeigte ein dunkelhaariges Mädchen mit braunen Augen und einer lustigen Stupsnase. Mathilda sah nett aus, fand Valerie, und auch was sie über sich schrieb, hörte sich so an, als könnte man prima mit ihr auskommen. Obwohl Valerie nicht mal zu den Ältesten in der Klasse gehörte, war auch der Altersunterschied nicht so groß. Valerie würde kurz vor den Sommerferien 13 werden, Mathilda würde ihren 14. Geburtstag feiern, während Valerie bei ihr – vorausgesetzt natürlich, Valerie entschloss sich tatsächlich, mit nach Deutschland zu fahren.
Ganz sicher war sie sich ihrer Sache noch nicht. „Ich hab vor allem Angst wegen der Sprache“, sagte sie beim Abendessen zu ihren Eltern. „Da kann ich mich doch mit keinem verständigen.“ „Ich glaube nicht, dass Madame Russell dich ausgesucht hätte, wenn sie glauben würde, dass das ein Problem sein könnte“, versuchte ihre Mutter sie zu beruhigen. „Du kannst ja immerhin ein bisschen Englisch, das werden die meisten einigermaßen verstehen. Außerdem bist du ja entweder mit Mathilda unterwegs, oder mit den anderen Austauschschülern.“ Sie schien überzeugt zu sein, dass der Austausch eine tolle Sache werden würde, und wollte offenbar verhindern, dass Valerie die Chance wegen unbegründeter Sorgen nicht nutzte. „Bist du sicher?“, fragte Valerie. Ihre Mutter nickte. „Ganz sicher.“
Valerie nagte an ihrer Unterlippe. Ja, klar, der Schüleraustausch war eine echte Gelegenheit, zwei Wochen schulfrei, ein paar tolle Ausflüge, und Mathilda schien ja auch echt nett zu sein. Außerdem war Valerie auch neugierig, sie war noch nie in Deutschland gewesen und überhaupt nur einmal im Ausland. Das war gewesen, als die Pension in Ostende, in die sie im Sommer immer fuhren, nach einem Brand die Hälfte der Zimmer nicht mehr hatte vermieten können; da hatten Valeries Eltern so kurzfristig nur noch was in den Niederlanden gefunden. Und wenn ihre Eltern meinten, das mit der Sprache würde schon klappen… Sie atmete tief durch und nickte dann. „Okay“, sagte sie.