Kurz nach den Sommerferien trifft die Siebte sich zum gemeinsamen Grillabend. Der Platz ist perfekt, und jeder trägt etwas zu einem richtig bunten Buffet bei. Doch Anna hat längst noch nicht verwunden, dass ihr Urteil, wer dazugehören darf, nicht mehr befolgt wird, seit Pauline da ist. Ihr Neid droht allen die Laune zu verderben – nur gut, dass Pauline immer noch ein Rezept in der Hinterhand hat!
Autorenplauderei: Zeitliche Herausforderung
Bei dieser Geschichte stand ich vor einer besonderen Herausforderung: Der Anschluss musste nicht nur nach hinten, sondern auch nach vorne passen. Dass ich in einer Serie nicht etwas schreiben will, was den Aussagen in früheren Bänden widerspricht, liegt auf der Hand. Diesmal hatte ich jedoch den Fall, dass bereits eine Geschichte existiert, die zeitlich nach Grillfehde spielt. Dadurch musste ich immer auch schauen, dass ich nichts aus dieser Geschichte vorwegnehme; insbesondere keine Ereignisse in Grillfehde einbaue, die in Saft weg! so beschrieben sind, dass sie dort zum ersten Mal stattfinden.
Die zweite Stunde am Mittwochmorgen war im Stundenplan der 7c als „Orientierungsstunde“ verzeichnet. Das bedeutete, dass sie reserviert war, um organisatorische Fragen zu klären, die die Klasse betrafen. Gab es keine, dann sollte normaler Unterricht stattfinden, wobei es dem Klassenlehrer überlassen blieb, in welchem der beiden Fächer, die er in der Klasse unterrichtete.Herr Pertel, bei dem die Klasse seit der Fünften Englisch und neuerdings auch Geschichte hatte, hatte einen Mittelweg gewählt. Er wusste, dass die meisten sich nicht um eine zusätzliche Englischstunde rissen, konnte sich aber auch nicht einfach über die Vorgaben der Schulleitung hinwegsetzen. Also dachte er sich Spiele aus, mal ein Quiz, mal ein Rollenspiel, seine Fantasie schien keine Grenzen zu kennen. Das alles natürlich auf Englisch, er meinte, so würden sie sogar mehr Sicherheit in der fremden Sprache bekommen als mit den Lektionen aus dem Lehrbuch, und mehr Spaß machte es sowieso.
In der letzten Orientierungsstunde war jedoch ausschließlich Deutsch gesprochen worden, denn es war die erste nach den Sommerferien gewesen. Neben ein paar Kleinigkeiten hatte die Klassensprecherwahl einen großen Teil der Zeit beansprucht. Dabei war Anna zum zweiten Mal in Folge im Amt bestätigt worden, allerdings knapper, als sie es sich wohl vorgestellt hatte.
Die Schuld dafür suchte sie wahrscheinlich bei Pauline, auch wenn sie sich hütete, es öffentlich auszusprechen. Ehrlicher wäre es gewesen, sich an die eigene Nase zu fassen, aber da konnte man bei Anna lange warten.
Sie bestimmte, was Sache war, das war die Rolle, die sie für sich in Anspruch nahm. Nicht alle waren damit einverstanden, aber viele hatten es lange zumindest stillschweigend hingenommen, weil sie nicht selbst in Annas Visier hatten geraten wollen. Anna konnte ausgesprochen garstig sein, und sie war schnell mit einem vernichtenden Urteil bei der Hand.
Genau diese Erfahrung hatte auch Pauline gemacht, als sie im Frühjahr neu in die Klasse gekommen war. Sie hatte vorher in Hamburg gewohnt und war mit ihrer Mutter ins Ruhrgebiet gezogen, als die einen neuen Job bekommen hatte. Anna hatte keine zwei Minuten gebraucht, um ihr Urteil zu fällen und Pauline zur Außenseiterin abzustempeln.
Ihr Kriterium dafür war leicht erklärt: das große Gehalt, das Paulines Mutter nicht mit nach Hause brachte. Pauline hatte nicht das Gefühl, arm zu sein, sie hatte alles, was sie brauchte, aber eben nicht von den Marken, auf die Anna fixiert war. Das waren nämlich auch die, die sich ihr Logo auf der Ware teuer bezahlen ließen, und Geld bloß für einen Schriftzug auszugeben, konnte und wollte Pauline sich nicht leisten.
Die Wende hatte ausgerechnet Paulines Geburtstag gebracht, genauer gesagt der Kuchen, den sie an diesem Tag mit in die Schule gebracht hatte. Anna hatte ihn natürlich runtergeputzt, noch ehe Pauline den Deckel von der Kuchenplatte gehoben hatte. Aus reinem Mitleid hatte sie trotzdem ein Stück genommen, so hatte es aussehen sollen. Ein Billigkuchen vom Discounter, bestenfalls eine Fertigbackmischung, die hauptsächlich nach Zucker und Chemie schmeckte, mehr hatte sie Pauline nicht zugetraut. Sie selbst ließ ihren Geburtstagskuchen natürlich vom Konditor herstellen, alles andere war unter ihrer Würde.
Doch dadurch, dass ihre Mutter arbeiten musste, hatte Pauline früh kochen und backen gelernt, sie hatte Spaß daran und auch Talent. Nicht, dass Anna sich dazu hätte durchringen können, ihren Irrtum einzugestehen, aber ihr Gesicht und vor allem die Geschwindigkeit, mit der sie das Stück aufgegessen hatte, hatten sie verraten. Da war niemand, der nicht gemerkt hätte, wie gern sie sich noch ein zweites Stück genommen hätte. Aber damit hätte sie sich ja selbst Lügen gestraft, also hatte sie die Faust in der Tasche geballt, verzichtet und Pauline vielleicht gleich noch ein bisschen mehr gehasst.
Während Anna sich lieber die Hand abgehackt hätte, als zuzugeben, dass Pauline bei irgendetwas richtig gut war, hatte einer der Jungen dem Drängen seines Magens nachgegeben. Robin hatte nicht nur ordentlich zugeschlagen beim Kuchen, vor allem hatte er Pauline bei nächster Gelegenheit nach dem Rezept gefragt. Selbst hätte er ihn nicht nachbacken können, seine Erfahrungen in der Küche waren nicht der Rede wert gewesen, aber er hätte seine Mutter gebeten, den Kuchen bald einmal nachzubacken.
Dabei hatte Pauline ihn gleich doppelt zum Staunen gebracht. Er hatte nicht gedacht, dass Pauline den Kuchen selbst gebacken hatte, ohne jede Hilfe, und dann hatte sie noch nicht mal ein richtiges Rezept dafür gehabt. Sie improvisierte viel in der Küche und hatte ein gutes Gespür dafür, was funktionierte und was nicht.
Spontan war daraus die Idee entstanden, einmal gemeinsam zu kochen, und einen Moment lang hatte Pauline selbst gedacht, dass Robin sie dafür eigentlich nur auslachen konnte. Doch er hatte sich auf das Abenteuer eingelassen, und es hatte beiden richtig Spaß gemacht. Aus der einmaligen Sache war eine regelmäßige Einrichtung geworden, und Robin der erste Freund, den Pauline in der neuen Heimat gefunden hatte.
Zu was sie in der Lage waren, hatten sie am vergangenen Wochenende bewiesen, als sie zu zweit für die Silberhochzeit von Robins Eltern gekocht und gebacken hatten. Eigentlich hatte ein Partyservice den Auftrag gehabt, aber der war kurzfristig abgesprungen, und die Kinder hatten es übernommen, 40 Gäste zu verköstigen. Sie hatten die Herausforderung hervorragend gemeistert, und sie hatten gemerkt, dass sie längst mehr als „nur“ Freunde waren.
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Die meisten hatten sich wohl auf ein neues Englisch-Quiz eingestellt, doch zu ihrer Überraschung wechselte Herr Pertel nach der üblichen englischen Begrüßung wieder in die deutsche Sprache. „Nächste Woche Freitag holen wir unseren Grillabend nach“, verkündete er. „Wir haben Glück, dass ein Termin frei geworden ist, eigentlich war der Grillplatz ausgebucht.“
Der Grillabend hätte eigentlich schon vor den Sommerferien stattfinden sollen, war aber ausgefallen, weil Herr Pertel auf Klassenfahrt gewesen war. Das war nicht geplant gewesen, er war einer der Neunten nachgereist, weil deren Klassenlehrer während der Klassenfahrt krank geworden war. Er hatte versprochen, dass der Grillabend nachgeholt werden würde, wenn es sich irgend einrichten ließ, aber seitdem hatte er nichts mehr dazu gesagt. Einige hatten die Sache vielleicht schon vergessen, auch Pauline hatte sich damit abgefunden, dass es wohl nichts mehr werden würde. Sie konnte sich gut vorstellen, dass die städtischen Grillplätze gut ausgebucht waren, und einfach irgendwo eine Wiese zu okkupieren, ging auch nicht. Da beendete dann ruckzuck das Ordnungsamt die Party und verhängte gleich noch ein kräftiges Bußgeld dazu. Wenn es ganz unglücklich lief, musste sogar die Feuerwehr anrücken.