Fröstelnd, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben, schlenderten Fabi und Oskar die Hauptstraße entlang. Es war Anfang Dezember und das Wetter ausgesprochen unfreundlich: Es war kalt, und schon den dritten Tag in Folge nieselte es. Auf dem Bürgersteig hatten sich Pfützen gebildet, und auf der Straße schmatzten die Reifen der Autos. Der Feierabendverkehr war in vollem Gange, Stopp and Go, das Licht der Scheinwerfer brach sich in den Schaufenstern. An der übernächsten Kreuzung flackerte es blau, ein Rettungswagen bahnte sich den Weg zwischen den anderen Autos hindurch.
Fabi und Oskar hatten einen Spezialauftrag erfüllt, nämlich einen Klassenkameraden besucht, der sich den Arm gebrochen hatte. Emilio war im Sportunterricht vom Schwebebalken gefallen, genau auf den linken Arm; was bei anderen Glück im Unglück gewesen wäre, war bei ihm besonderes Pech, denn er war Linkshänder.
Noch war er deswegen krankgeschrieben, aber die Klassenlehrerin meinte, es wäre gut, wenn er sich trotzdem ein bisschen mit dem Unterrichtsstoff befasste. Umso weniger Rückstand würde er dann später aufzuholen haben, bis der Gips abkam, würde es ein paar Wochen dauern. Da Emilio mit der rechten Hand aber kaum lesbar schreiben konnte, hatte die Lehrerin ein Tablet besorgt. Tippen würde er hoffentlich auch mit der schwachen Hand können, vielleicht etwas langsamer, aber noch gut genug.
Weil sie in der Nähe wohnten und auch locker mit ihm befreundet waren, hatte die Lehrerin Fabi und Oskar gebeten, ihm das Tablet vorbeizubringen. Das hatten sie gerade erledigt und sich bei der Gelegenheit eine Weile mit Emilio verquatscht. Jetzt waren sie auf dem Rückweg und wollten bei Fabi noch ein paar Runden Autorennen spielen, ehe Oskar nach Hause musste. Vor ihnen auf der rechten Seite ragte ein modernes Bürogebäude auf, das in diesem Jahr erst hochgezogen worden war. Die Fassade bestand fast nur aus Glas und Stahl, die Lichter der Straße spiegelten sich darin. Wenn die Sonne schien, brauchte man eine Sonnenbrille, um nicht geblendet zu werden, aber das Problem würden Staub und Autoabgase an der vielbefahrenen Straße wohl beizeiten lösen.
Ein hoher Aufsteller am Fuß der Treppe, die zum Eingang hinaufführte, listete die Firmen auf, die hier residierten. Ein gutes halbes Dutzend Schriftzüge gab es, und Platz für weitere; in kleiner Schrift stand ganz unten, dass noch Büroflächen zu vermieten waren. Die Namen sagten Fabi und Oskar nichts, aber Geld mussten die Firmen wohl haben, denn billig war die Miete hier bestimmt nicht.
Deswegen hatte auch nicht jeder Zutritt, und wie unnachgiebig unwillkommene Besucher zurückgewiesen wurden, bekamen Fabi und Oskar am eigenen Leib zu spüren. Nicht, dass sie versucht hätten, das Gebäude zu betreten, aber gerade, als sie an der Eingangstreppe vorbeigingen, wurde oben ein Junge in ihrem Alter zur Tür hinausgestoßen. Den Verantwortlichen sahen Fabi und Oskar nur flüchtig, es reichte gerade, um zu erkennen, dass es sich um einen Klotz von einem Mann handelte. Der Stoß, den er dem Jungen versetzt hatte, war so stark, dass der die Treppe unfreiwillig in zwei Sätzen nahm und wohl flach auf den Bürgersteig geklatscht wäre, hätte nicht Oskar im Weg gestanden. Der verlor unter dem Anprall selbst noch das Gleichgewicht und musste sich rasch bei seinem Freund festhalten.
„Hoppla!“, murmelte der fremde Junge verlegen. „Tut mir leid, ich wollte euch nicht umrennen.“ „Schon gut“, beruhigte Oskar ihn. „Wir haben gesehen, dass der Typ dir geholfen hat, die Treppe runterzuspringen.“ „Scheint ja ziemlich gut bewacht zu sein, der Laden“, fügte Fabi hinzu. „Die lassen wohl nicht jeden rein, was?“ „Nein“, bestätigte der fremde Junge. „Da ist ein Pförtner, der fragt, zu wem man will, und dann fragt er da nach, ob er einen reinlassen darf.“ „Aha“, folgerte Fabi, „und du wurdest abgelehnt?“ Der fremde Junge schüttelte den Kopf. „Ich wollte in den Keller.“
Fabi und Oskar wechselten einen Blick. „Was wolltest du denn da?“, wunderte Oskar sich. „Da würde ich auch keinen reinlassen, höchstens einen Handwerker, den ich bestellt hab.“ „Oder einen, der die Zähler abliest“, ergänzte Fabi. Da war vor ein paar Tagen erst jemand bei ihm zu Hause gewesen.
Jetzt wand sich der fremde Junge. „Ich kann euch nicht sagen, warum, aber ich muss wirklich dringend in den Keller. Könnt ihr vielleicht…?“ „Den Portier ablenken?“, vollendet Fabi, als der Junge für einen Moment schwieg. „Vergiss es! Ich hab keine Lust, dass der mich am Kragen packt. Hast ja an dir selbst gesehen, dass der gerne Tickets für Fernflüge ausstellt.“
Im nächsten Moment fühlte er sich am Arm gepackt. Der fremde Junge zog ihn mit sich, in die Einfahrt neben dem Bürohaus. Oskar folgte ihnen.
„Hört zu!“, forderte der Junge sie auf, nach einem sichernden Blick in die Runde, ob sonst niemand mithörte. „Ich heiße Sebastian, und ich bin ein Weihnachtself.“
Fabi und Oskar stutzten. „Ha, ha!“, machte Fabi mit Verzögerung, lachte aber nicht. „Verarschen kann ich mich selbst! Also, jetzt mal im Ernst, warum musst du unbedingt rein in den Laden?“ „Das Portal zur Weihnachtswelt ist da drin“, versuchte Elf Sebastian zu erklären. Er sah gar nicht aus, wie man sich einen Weihnachtselfen vorstellte, sondern wie ein ganz normaler Junge. Okay, ziemlich bunt, mit seiner vielfarbigen Jacke, aber sonst nicht weiter auffällig. „Ich muss dringend da hin“, fuhr er fort. „Ich habe kein Weihnachtspulver mehr.“ „Weihnachtspulver?“, echote Oskar. „Ist das so ein Zeug, was als Schnee auf Plastiktannen gestreut wird? Da kann ich dir einen Laden zeigen, wo du das kriegst.“
Sebastian schüttelte den Kopf. „Nein, das meine ich nicht. Es ist ein magisches Pulver von den Tannen im Weihnachtswald. Ich brauche es, um den Menschen Weihnachtsstimmung zu bringen.“
Zauberpulver? Weihnachtsstimmung bringen? Plötzlich fühlte Fabi sich unwohl. Der Typ hatte doch ein Rad ab, und wer so neben der Spur lief, der war vielleicht auch gefährlich. Vielleicht versuchte er, ein Loch in die Wand zu sprengen, wenn er sonst nicht in den Keller kam, wer wusste das schon. „Komm, wir gehen!“, forderte er Oskar auf und zog ihn mit sich, ohne auf eine Antwort zu warten. „Der spinnt doch!“ Oskar, dem der angebliche Weihnachtself auch unheimlich war, folgte dankbar, und Sebastian blieb allein zurück.
***
Als Fabi mit Oskar zu Hause ankam, hing dort der Haussegen gewaltig schief. Was los war, war nicht zu erkennen, aber er spürte sofort, dass seine Mutter extrem gestresst war. Auf den zweiten Blick fiel ihm außerdem auf, dass seine kleine Schwester Feline sich offenbar in ihrem Zimmer verschanzt hatte. Sie war acht und musste, wenn die Mutter sie pünktlich abgeholt hatte, seit einer knappen Viertelstunde aus dem Hort zurück sein. Normalerweise saß sie um die Zeit noch in der Küche und erzählte, was sie in der Schule und im Hort erlebt hatte. Wenn ihre Mutter schon etwas fürs Abendessen vorbereitete, dann nutzte sie die Gelegenheit auch gern, um schon mal was zu naschen. Jetzt aber hörte Fabi sie in ihrem Zimmer rumoren, und die Tür war zu; das kam tagsüber eigentlich nie vor.
„Alles okay?“, fragte er vorsichtig. Seine Mutter zuckte mit den Schultern und seufzte. „Im Hort gibt’s dieses Jahr kein Krippenspiel“, erklärte sie. „Du kannst dir ja denken, was Feline davon hält.“ Fabi nickte, denn er wusste, dass seine Schwester sich schon seit Wochen darauf freute, dass die Proben endlich losgingen. Im letzten Jahr hatte sie noch nicht mitmachen dürfen, weil sie noch nicht gut genug hatte lesen können, um den Text für eine Rolle auswendig zu lernen. Dieses Jahr hätte sie eine Rolle bekommen sollen, das hatten sie ihr fest versprochen, aber wenn das Krippenspiel komplett gestrichen war, war dieses Versprechen natürlich auch hinfällig. „Und warum?“, erkundigte Fabi sich. „Ich meine, warum machen sie dieses Jahr nichts?“ „Weil sich keiner gefunden hat, der es organisieren will“, erklärte seine Mutter. „Ich kann’s verstehen, das ist ja schon einiges an Aufwand. Das sind nicht nur die Proben und so, irgendwer muss auch die Aula herrichten, Kostüme besorgen, und so weiter und so fort… Und der ganze rechtliche Kram kommt ja auch noch dazu, mittlerweile braucht man ja selbst für so eine kleine Aufführung einen Berg von Genehmigungen.“
Fabi war nicht überzeugt. Das Krippenspiel im Hort hatte Tradition, da gab es einen Fundus von Kostümen und Requisiten, die jedes Jahr aufs Neue verwendet wurden. Für die Betreuer war das doch bestimmt schon Routine, was sollte sich da in einem Jahr derart verändert haben? Aber seine Mutter hatte mit den Leuten gesprochen, und verhört hatte sie sich wohl kaum.
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„Sag mal“, fragte Oskar zwei Tage später auf dem Weg zur Schule, „müssten die nicht längst die Weihnachtsbeleuchtung aufgehängt haben?“ „Stimmt“, meinte Fabi. „Normalerweise hängen sie die doch Ende November schon auf. Na ja, vielleicht sind sie dieses Jahr später dran, ich meine, kann ja immer mal passieren, dass sie keine Leute frei haben, oder dass was kaputt ist und erst repariert werden muss.“
Das konnte wirklich alles sein, und trotzdem ließ ihm die Feststellung irgendwie keine Ruhe. In den fünf Minuten, die ihm zwischen dem Erreichen der Schule und dem Klingeln zum Unterrichtsbeginn blieben, nahm er sein Handy und rief die Website der Stadtverwaltung auf. Die Weihnachtsbeleuchtung gab es, so lange er denken konnte, und wenn sie diesmal später oder gar nicht aufgehängt werden sollte, dann hatte es dazu sicherlich eine Verlautbarung gegeben.
Tatsächlich stieß er über die Suchfunktion auf einen Eintrag in den Pressemeldungen der Stadt, der von Ende Oktober stammte. Da hatte sich der Stadtrat mit der Beleuchtung befasst und einstimmig beschlossen, sie bis auf Weiteres nicht mehr zu installieren. Begründet wurde das mit dem Kosten für Auf- und Abbau, Strom und Wartung: Geld, das nach Ansicht der Stadträte sinnlos verpulvert wurde. Schließlich, so wurde der Bürgermeister persönlich zitiert, interessierte die Beleuchtung eh niemanden.
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„Wo feiern wir eigentlich dieses Jahr?“, erkundigte Fabi sich am Tag vor dem zweiten Advent beiläufig bei seiner Mutter. „Hier, oder bei Tante Martha?“ Sie feierten traditionell am ersten Weihnachtstag mit der ganzen Familie: Fabi mit seinen Eltern und Feline, seiner Tante Martha, die eine Halbschwester von seiner Mutter war, deren Freund und den drei Kindern, mit dem gemeinsamen Großvater und den beiden Großmüttern. Gefeiert wurde entweder bei Fabi oder bei Tanta Martha, meist im jährlichen Wechsel. Demnach wären in diesem Jahr wieder Fabis Eltern dran gewesen als Gastgeber, aber irgendwie deutete so gar nichts darauf hin. Sonst machten seine Eltern sich schon mal Gedanken, was es zu essen geben sollte, und schauten, was sie sonst noch vorbereiten mussten. Aber jetzt? Fabi hatte sie noch nicht ein Mal über Weihnachten reden hören.
„Eigentlich wären wir wieder bei uns gewesen“, antwortete seine Mutter. „Aber wir haben beschlossen, dass wir diesmal alles eine Nummer kleiner machen. Du glaubst ja gar nicht, was das immer für ein Aufstand ist, und wofür? Am Ende hocken doch immer die Gleichen zusammen und quatschen, oder es gibt gleich wieder Streit. Nein, wir werden einen kleinen Baum besorgen, sonst wäre Feline traurig, und ihr kriegt natürlich eure Geschenke, aber mehr brauchen wir doch nicht.“
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An diesem Abend war Fabi überaus nachdenklich. Irgendwie hatte er ein Gefühl, als würde Weihnachten in diesem Jahr gar nicht stattfinden. Oder genauer: als würde es stattfinden, und keinen interessierte es. Selbst Feline fieberte dem Fest nicht so entgegen wie sonst. In ihr nagte zwar immer noch die Enttäuschung, weil das Krippenspiel abgesagt war, aber davon ab war bei ihr keine Vorfreude zu spüren. Woher hätte sie auch kommen sollen: Es war ja nichts da, was sie in weihnachtliche Stimmung hätte versetzen können.
Plötzlich musste er wieder an diesen Jungen denken, den Oskar und er vor dem neuen Bürobau getroffen hatten. War an der Geschichte doch etwas dran? „Quatsch!“, sagte er sich. Dieser Sebastian hatte einen Sprung an der Schüssel, vielleicht hatte er Oskar und ihn auch nur veralbert.
Aber der Gedanke ging ihm nicht mehr aus dem Kopf, und dass Weihnachten in diesem Jahr nicht so recht in Schwung kommen wollte, ließ sich nicht wegdiskutieren. Natürlich hatten die Läden Platz freigeräumt für Weihnachtsdeko, Spekulatius und Schokoweihnachtsmänner, und aus den Lautsprechern ertönten Weihnachtslieder, aber das war alles reine Verkaufsroutine. Genauso Routine, wie Feline sich Ende November im Supermarkt einen Adventskalender hatte aussuchen dürfen, an dem sie jeden Tag ein Türchen öffnete und ein Stückchen Schokolade herausholte. Feline freute sich natürlich, aber die Eltern hatten es einfach nur als Punkt auf der Liste stehen gehabt: abgehakt, fertig.
Weil er ohnehin nichts Besseres vorhatte, meldete Fabi sich nach dem Frühstück am Sonntag nach draußen ab, um noch einmal zu dem neuen Bürobau zu gehen. Seinen Eltern erzählte er das natürlich nicht, die hätten ihn für verrückt gehalten. Womöglich hätten sie ihn sogar zu einem Psychologen geschleppt, der feststellen sollte, ob er geistig seinem Alter hinterherhinkte. Zum Glück brauchte er nicht genau über jede Bewegung Rechenschaft abzulegen, wenn er in einem festgelegten Umkreis blieb und sein Handy eingeschaltet bei sich hatte.
Er wusste ja selbst nicht genau, warum ihn die Geschichte dieses merkwürdigen Jungen nicht losließ. War es, weil er irgendwas vermisste, weil ihm die Vorfreude fehlte, der er sich sonst vielleicht gar nicht so bewusst war? Egal, auf jeden Fall würde er sich den Neubau noch mal ansehen. Wahrscheinlich würde er nichts Auffälliges finden, aber dann hatte er wenigstens was getan.
Am Sonntagmorgen war selbst auf der Hauptstraße nicht viel los. Ein Bus kam Fabi entgegen, eine ältere Frau war mit ihrem Hund draußen gewesen und verschwand in einem der Häuser.
Die Geschäfte entlang der Hauptstraße waren natürlich geschlossen, nur die Tür einer Bäckerei ein Stück entfernt stand offen. Auch das neue Bürogebäude lag wie ausgestorben da, nur hinter zwei Fenstern in den oberen Stockwerken brannte Licht. Leute konnte Fabi nicht sehen, allein schon weil die Fenster zu hoch lagen, um vom Bürgersteig aus reinzuschauen. Deshalb wusste er auch nicht, ob da jemand arbeitete, ob geputzt wurde, oder ob schlicht jemand vergessen hatte, das Licht auszumachen. Soweit er die Firmen auf den Schildern neben dem Eingang einer Branche zuordnen konnte, war nichts dabei, wo üblicherweise 24/7 gearbeitet wurde, aber es konnte ja trotzdem etwas Dringendes zu erledigen geben. Vielleicht brütete einer von den Anwälten Schrader, Schrader und Müricke noch über einer Fallakte, oder Röntgenarzt Paulsen war für den ärztlichen Notdienst eingeteilt. Fabis Mutter, die als Heizungsmonteurin arbeitete, musste auch regelmäßig Notdienst machen; allerdings brauchte sie dann nicht in der Firma abzuhängen und darauf zu warten, dass bei einem Kunden die Heizung streikte. Es gab ein Handy, auf das Notrufe außerhalb der Geschäftszeiten umgeleitet wurden, und zusätzlich nahm sie den Firmenwagen mit Werkzeug und gängigen Ersatzteilen mit nach Hause, wenn sie Notdienst hatte.
Die Tür war geschlossen und der Empfang nicht besetzt. Aber die Mitarbeiter der Firmen hatten sicherlich Chipkarten für die Schließanlage und konnten jederzeit rein und raus. Und jetzt? Unschlüssig stand Fabi am Fuß der Treppe – was genau hatte er sich eigentlich davon versprochen, herzukommen? Das mit dem Portal zur Weihnachtswelt war doch sowieso Humbug, und er würde bestimmt keinen Einbruch begehen, um einem Luftschloss nachzujagen.
Schulterzuckend wandte er sich ab. Was auch immer mit den Leuten los war, dass sie mit Weihnachten nichts mehr am Hut hatten, er würde nichts daran ändern können. Immerhin hatte er ein bisschen frische Luft abgekriegt, das war ja auch kein Schaden, und zu Hause hatte er schon nichts verpasst.
Da stand plötzlich Sebastian vor ihm, Fabi wäre fast gegen ihn geprallt. „Was machst du hier?“, fragte der angebliche Weihnachtself, und er klang aufgeregt. „Willst du mir doch helfen?“
Fabi atmete tief durch. „Hat doch keinen Sinn!“, sagte er dann. „Ich meine, in den Laden kommst du sowieso nicht rein, du hast ja gesehen, dass der Portier aufpasst wie ein Schießhund. Aber selbst wenn du reinkommen würdest, das Portal ist weg! Die haben hier alles abgeräumt, bevor sie angefangen haben zu bauen. Unter dem Haus ist eine Tiefgarage, und was meinst du, was so ein Bau für ein Fundament braucht! Da haben sie bestimmt fünfzehn oder zwanzig Meter tief gegraben, dein Portal liegt längst auf der Müllkippe.“
Sebastian schüttelte den Kopf, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen. „Das Portal in die Weihnachtswelt ist nicht so, wie du denkst, mit Säulen und einem Bogen aus Stein und schweren Türflügeln“, erklärte er. „Es ist überhaupt nicht zum Anfassen, man kann es also auch nicht wegbaggern. Glaub mir, es ist noch da.“ „Wie soll das gehen?“, fragte Fabi zweifelnd. Fast bereute er es, dass er noch mal hergekommen war. Na ja, solange dieser Sebastian nur rumfantasierte, ging es ja noch, und eigentlich war’s sogar unterhaltsamer als ein langweiliger Sonntagvormittag zu Hause.
„Das Portal ist einfach da“, bekräftigte Sebastian. „Man muss nur wissen, wo es ist, man stellt sich dorthin, denkt ganz fest ans Weihnachtsland, und schon ist man da.“ „Aha“, machte Fabi. „Und das funktioniert nur, wenn du zentimetergenau an der richtigen Stelle stehst? Da hat ja Bluetooth mehr Reichweite!“
Sebastian nickte betreten. „Na ja, vielleicht nicht auf den Zentimeter genau“, versuchte er die Ehre des Weihnachtslandes zu retten. „Aber ziemlich dicht dran eben. Draußen bin ich jedenfalls zu weit weg, das hab ich x-mal versucht.“ „Merken die in der Weihnachtswelt nicht, dass das Portal weg ist, und bauen ein anderes auf?“, wollte Fabi wissen. „Da könnte dann einer rauskommen und dir zeigen, wo das neue Portal ist, und schon ist die Sache geritzt.“ „Das Portal ist ja nicht weg“, erklärte Sebastian. „Es ist nur so zugebaut, dass ich nicht mehr drankomme. Außerdem hat jeder Weihnachtself sein eigenes Portal. Ich muss irgendwie in die Weihnachtswelt kommen, von dort aus kann ich das Portal verlegen.“ „Dann hast du das Portal selbst gemacht?“, wunderte sich Fabi. „Aber warum dann hier?“ „Das Kino, das hier früher war“, antwortete Sebastian, und es klang traurig, „hat meinem Großvater gehört. Er musste es schließen, weil die alten Projektoren die neuen Filme nicht mehr abspielen konnten, und für neue Technik hatte er kein Geld. Das Portal muss an einem Ort sein, zu dem der Weihnachtself eine persönliche Verbindung hat.“ „Hast du schon eine Idee?“, fragte Fabi. Sebastian zuckte mit den Schultern. „Hab ich noch gar nicht drüber nachgedacht“, gab er zu. „Bringt ja nichts, ich kann das Portal ja nicht verlegen, weil ich nicht drankomme. Sonst… na ja, ich glaube, hinter der Turnhalle von meiner Schule, das könnte gehen. Zur Schule hat man ja irgendwie eine persönliche Beziehung, oder? Außerdem hat mich im Sommer eine aus der Fünften dahingezerrt, um mich zu küssen.“ Er wurde rot. „Wollte ich gar nicht so richtig, aber na ja. Das sollte reichen fürs Portal, findest du nicht?“
Jetzt erst bemerkte er die Fragezeichen in Fabis Augen. „Was ist denn?“, fragte er. „Du gehst zur Schule?“, wunderte Fabi sich. „Ich dachte…“ „dass ich nur in einer Fantasiewelt lebe und mit dem normalen Leben nichts zu tun hab?“, vollendete Sebastian. „Abgesehen von meinem besonderen Auftrag bin ich die meiste Zeit ein durchschnittlich blöder Sechstklässler. Sonst könnte ich das Weihnachtspulver auch gar nicht unauffällig verteilen.“
Das klang logisch, trotzdem fiel es Fabi schwer, das zu glauben. Aber war nicht eigentlich die ganze Geschichte völlig unglaubwürdig? Trotzdem konnte er sich dem nicht entziehen, und irgendwas stimmte in diesem Jahr auf jeden Fall nicht mit Weihnachten. „Okay, also musst du da rein, oder Weihnachten fällt aus“, schloss er. „Alles andere findet sich dann.“
***
Der Pförtner, der am Montagnachmittag Dienst hatte, war Raucher. Es war der gleiche, der Sebastian rauskomplimentiert hatte, offenbar versah er regelmäßig die Mittagsschicht. Aber jeder andere wäre Fabi und Oskar genauso recht gewesen, wenn er sich nur für einen Augenblick ablenken ließ.
Sie hockten an einer Straßenecke, die mit einem Haus zuzubauen wohl vergessen worden war. Ein kleiner Platz unterbrach hier die Häuserzeilen, und die Stadt hatte sich bemüht, ihn ein wenig wohnlich zu gestalten. Der Erfolg war mäßig, die beiden Bänke luden mit ihrem Blick auf die Fassaden nicht zum Verweilen ein, und das Bäumchen in seiner runden Baumscheibe mühte sich zwar, kam aber nicht an gegen die naturferne Umgebung. Aber die Jugendlichen aus der Umgebung nahmen den Treffpunkt, den ihnen niemand streitig machte, dankbar an. Weil sie keine Randale machten, ließ man sie gewähren, auch wenn die Inhaber der umliegenden Geschäfte sie teilweise mit Misstrauen betrachteten. Auf jeden Fall fielen Fabi und Oskar nicht auf, weder den Jugendlichen, die in der Nähe standen, noch irgendwem in der Umgebung. Sie taten so, als würden sie sich ausschließlich mit ihren Inlinern beschäftigen, aber sie hatten jederzeit das neue Bürohaus im Blick.
Eine gute halbe Stunde mussten sie sich gedulden, dann sahen sie, wie der Pförtner nach draußen kam. Er entfernte sich ein paar Schritte vom Eingang, vielleicht war er so rücksichtsvoll, vielleicht war es ihm auch vorgeschrieben worden. Als er sich seine Zigarette anzündete, verabschiedete Oskar sich von Fabi und rollte den Bürgersteig entlang.
Was kommen würde war klar, es war der älteste Trick der Welt, aber immer noch wirksam. Vielleicht gerade, weil er so alt und so simpel war? Ein unsichtbares Hindernis schlug Oskar die Rollen am rechten Fuß aus der Spur, er trat sich selbst in die Hacken, und das war nicht gut für sein Gleichgewicht.
Wehgetan hatte er sich nicht, denn auch wenn es nicht so ausgesehen hatte, hatte er seinen Sturz doch recht gut kontrolliert. Er war auf die Schulter gefallen, den Ellbogen hatte der Schützer gesichert, auch das Knie war gut geschützt. Aber das konnte der Pförtner nicht wissen, er erschrak sichtlich und rannte los, ohne darüber nachzudenken.
Das gab Sebastian die nötige Zeit, die Treppe hinaufzugehen und weiter in die Eingangshalle. Er bewegte sich ganz offen, der Pförtner hatte keine Muße, den Eingang im Auge zu behalten. Wahrscheinlich schauten auch sonst alle zu dem gestürzten Inlineskater, aber wenn nicht, dann weckte Sebastian so am wenigsten Verdacht. Wäre er dagegen geduckt reingehuscht, dann hätte doch jeder, der ihn sah, den Pförtner lauthals gewarnt, dass der Sturz gespielt und eine Falle war.
Dass Oskar erst mal auf dem Boden hocken blieb, nach einer halben Minute aber doch aufstand und versicherte, dass ihm nichts passiert war, konnte dagegen kein Misstrauen wecken. Wohl fast jeder wäre erst mal sitzen geblieben, bis Schreck und Schmerz etwas nachließen, und hätten in sich reingehorcht, ob wirklich nichts kaputt war. Auch der Pförtner dachte sich nichts dabei, er schien froh zu sein, dass er keine Erste Hilfe leisten musste.
***
„Und, alles geklappt?“, fragten Oskar und Fabi wie aus einem Mund. Dabei lag die Antwort auf der Hand, denn wenn es nicht geklappt hätte, dann hätte Sebastian unmöglich schon an seiner Schule sein können. Fabi und Oskar hatten sich nach dem gefakten Unfall außer Sichtweite des Bürohauses wieder getroffen und waren so schnell wie möglich hergeskatet. Damit waren sie auf jeden Fall schneller als Sebastian zu Fuß, er hatte ihnen also nur mit einer Abkürzung durch die Weihnachtswelt zuvorkommen können.
„Ja, ging ganz leicht“, bestätigte Sebastian. „Wo die Kellertür ist, hatte ich schon gesehen, sie war auch nicht abgeschlossen, und unten konnte ich das Portal gleich aktivieren. Jetzt ist es hier, hinter dem Busch.“
„Clever!“, befand Fabi. Hinter dem Busch, direkt an der Wand der Turnhalle, war Sebastian nicht zu sehen, wenn er plötzlich auftauchte, aber es gab eine kleine Lücke, sodass er auch die Zweige der Büsche nicht verräterisch bewegte. Vielleicht würde es peinlich werden, versteckt abzuwarten, bis ein Pärchen, das sich eine stille Ecke gesucht hatte, fertig war mit Knutschen, aber zur Not konnte er sich ja noch mal für eine Weile in die Weihnachtswelt verkrümeln.
„Und wie geht’s jetzt weiter?“, wollte Oskar wissen. „Was machst du mit dem Weihnachtspulver? Streust du es aus, irgendwo von einem Turm aus?“ „Eigentlich nicht“, antwortete Sebastian. „Das Weihnachtspulver braucht eigentlich persönlichen Kontakt, die Menschen müssen es weitergeben. Weiß nicht, ob es funktioniert, wenn ich es einfach nur über der Stadt ausschütte.“ „Aber viel Zeit hast du nicht mehr“, gab Fabi zu bedenken. „Sonst ist Weihnachten vorbei. Können wir dir beim Verteilen helfen? Ich meine, wenn du sagst, die Menschen müssen es weitertragen, dann könntest du uns ja eine Portion…“
Sebastian überlegte. „Ich hab noch nie mit Helfern…“, murmelte er unsicher. „Und eigentlich hätte ich euch gar nicht erzählen dürfen, dass ich… Aber ohne euch wäre ich nicht in das Haus gekommen…“ Er straffte sich. „Es sind nur noch zwei Wochen bis Weihnachten“, stellte er unwiderlegbar fest. „Wenn es noch klappen soll, dann wird jetzt jede Hand gebraucht. Also gut, ich erkläre euch, wie wir’s machen…“
***
Es war ein Kraftakt geworden, obwohl Fabi die Sache körperlich gar nicht so anstrengend gefunden hatte. Jeden Tag hatten er und Oskar sich mit Sebastian getroffen, und er hatte sie großzügig mit seinem Weihnachtspulver eingepustet. Es brauchte nur eine Winzigkeit, eine Menge, die man gar nicht sehen konnte, um einen Menschen in Weihnachtsstimmung zu versetzen, aber je mehr sie selbst davon an sich trugen, desto mehr konnte auf andere überspringen. Wahrscheinlich war auch ein bisschen was aus der Nachbarschaft in die Stadt getragen worden, von Berufspendlern und Besuchern, aber das reichte nicht. Sebastian kannte auch die anderen Weihnachtselfen in der Umgebung nicht, deshalb hatte er sie nicht um Hilfe bitten können. Zuletzt hatte er Fabi und Oskar noch verraten, dass vor allem die Erwachsenen das Weihnachtspulver brauchten; Kinder waren meistens auch ohne empfänglich genug für diese ganz besondere Stimmung.
Sie hatten einen genauen Plan gemacht, denn es war keine Zeit mehr gewesen, um die Weihnachtsstimmung sich zufällig ausbreiten zu lassen. So hatte Fabi eigens eine öffentliche Sitzung des Stadtrats besucht, denn da hatte er die höchsten Entscheider der Stadt alle hübsch versammelt gehabt. Es war ganz leicht gewesen, er hatte auf der erhöhten Besucherempore im Ratssaal nur einmal über seinen Handrücken blasen müssen, wie um Staub oder ein vorwitziges Insekt wegzupusten, und schon hatte sich das Weihnachtspulver über den Bürgermeister und die Abgeordneten gesenkt.
Am nächsten Tag hatte er seiner Mutter angeboten, Feline aus dem Hort abzuholen. Seine Mutter war überrascht gewesen, aber auch dankbar, und so hatte er ganz nebenbei die Betreuer im Hort und auch ein paar Eltern „verarzten“ können, die ihre Kinder abgeholt hatten.
Alles in allem war Fabi fast ständig unterwegs gewesen, und er hatte sich viele verwunderte Blicke seiner Eltern gefallen lassen müssen. Doch je mehr er herumgekommen war und Weihnachtspulver verbreitet hatte, desto mehr hatte er die Wirkung gespürt. Es war nicht immer wirklich zu greifen, er fühlte einfach nur eine veränderte Stimmung. Aber nicht nur, es gab auch sichtbare Veränderungen: Die Stadt hatte gerade noch rechtzeitig zum dritten Advent doch noch die Beleuchtung aufgehängt, und Fabis Mutter hatte entschieden, die Familie doch einzuladen am ersten Weihnachtstag.
Nach so viel Rennerei durften Fabi, Oskar und Sebastian sich am Nachmittag von Heiligabend zurücklehnen. Ein bisschen waren sie selbst überrascht, dass trotz des späten Starts doch noch vieles geklappt hatte, und sie freuten sich darüber.
Zu dritt saßen sie auf den nicht sehr bequemen Holzstühlen in der Aula von Felines Schule, umgeben von stolzen Eltern, und verfolgten das Krippenspiel. Dafür, dass sie nur noch anderthalb Wochen gehabt hatten, den Text zu lernen, spielten die Kinder erstaunlich gut, und man spürte, wie viel Freude sie daran hatten.
Feline als eine der Jüngsten spielte einen Hirten und hatte nur wenige Sätze zu sagen auf der Bühne. Trotzdem war sie glücklich, und als das Spiel zu Ende war und die Kinder zu ihren Eltern rannten, war Fabi der Erste, den sie umarmte. „Danke!“, flüsterte sie. „Es war so toll!“
Fabi wurde rot, und er war froh, dass sie das im gedimmten Licht nicht sehen konnte. Glaubte sie, er steckte hinter dem Sinneswandel der Betreuer? Steckte er ja auch, aber das konnte sie doch nicht wissen, oder? Aber was war schon unmöglich? Weihnachten hatte so viele Geheimnisse, man musste nur richtig hinsehen und offen sein dafür, das hatte er gelernt in den letzten Tagen.