Autorenseite René Bote

Mitternacht, an der Kreuzung auf dem See!

Cover der Kurzgeschichte Mitternacht, an der Kreuzung auf dem See!

Still lag der See vor der Stadt im Licht des Vollmonds. Das Wasser glänzte silbrig, winzige Wellen machten sich ein Spiel daraus, das Glitzern immer wieder neu zu formen.

 

Bis auf das kaum hörbare Plätschern des Wassers war alles still. Niklas fand es schön, fühlte sich gleichzeitig aber auch ziemlich beklommen. Normalerweise mied er den See, tagsüber war ihm einfach zu viel los. Obwohl relativ klein, war der See mit seinen Ufern ein beliebtes Naherholungsgebiet, ausgestattet mit allem, was Unmassen von Besuchern anzog. Man konnte den See auf Fuß- und Radwegen umrunden, mit Tretbooten oder Kanus befahren, es gab Restaurants, Cafés, eine Minigolfanlage, Tennisplätze und mehrere Spielplätze. Ein Schiff pendelte nachmittags und am Wochenende zwischen einem halben Dutzend Anlegestellen, und auch bei Seglern und Surfern war der See beliebt. Besonders am Wochenende durfte man keine Angst vor Menschenmassen und Gedränge haben, wenn man an den See kommen wollte.

 

Jetzt in der Nacht war davon nichts zu spüren. Die Boote lagen am Ufer vertäut, und auf den Wegen rundherum war keine Menschenseele zu sehen. Doch ganz allein war Niklas nicht, das wusste er, obwohl er niemanden sah und hörte.

 

Angefangen hatte alles am Mittag in der Schule mit einem Brief, den er nach der letzten großen Pause auf seinem Tisch gefunden hatte. „Traust du dich?“, hatte der Absender ohne Einleitung geschrieben. „Triff mich um Mitternacht auf dem See!“ Eine grobe Skizze hatte den Treffpunkt markiert, und zwei Linien, die sich genau dort kreuzten. An jedem Ende jeder Linie war ein Punkt an Land markiert, der auch bei Nacht gut zu sehen sein musste: ein Hochhaus, dessen Lichter nicht zu übersehen waren, eine Tankstelle, die wegen der Farbe ihrer Beleuchtung unverkennbar war, ein Brückenpfeiler, der sich vor dem etwas helleren Nachthimmel abhob, und schließlich eines der Restaurants am Ufer. An jeden Ast des Kreuzes war außerdem ein Auge gezeichnet, und die Schlussfolgerung lag auf der Hand: Niklas hatte den richtigen Punkt erreicht, wenn er all diese Landmarken sehen konnte. Das war tatsächlich eine ziemlich genaue Angabe, denn vor allem die Tankstelle würde schon bei wenigen Metern Abweichung nach rechts oder links aus dem Blick geraten.

 

Von wem der Brief kam, war für Niklas klar gewesen, obwohl der Absender seinen Namen schön für sich behalten hatte. Es gab nur einen, der ihm so eine Aufgabe stellen würde: sein bester Freund Elvir. Er teilte Niklas‘ Abenteuerlust, und sie dachten sich immer wieder neue Herausforderungen für den jeweils anderen aus. Es war ein Hobby, Spaß und etwas Nervenkitzel, aber passiert war nie etwas. Das war kein glücklicher Zufall, Niklas und Elvir achteten immer darauf, weder sich selbst, noch den jeweils anderen oder unbeteiligte Dritte in Gefahr zu bringen. Da sie keine Fotos oder Videos von ihren Aktionen machten, um sie anschließend ins Netz zu stellen, konnten sie auch nicht der Versuchung erliegen, immer waghalsiger zu werden, um mehr Likes zu bekommen.

 

Nachts auf den See rauszufahren, war trotzdem eine Hausnummer, da würde Niklas sich anstrengen müssen, um eine ähnlich große, aber sichere Herausforderung für Elvir zu finden. Aber darüber konnte er sich später Gedanken machen, es war nicht so, dass jede Probe bei ihnen unverzüglich mit einer Gegenprobe beantwortet werden musste. Jetzt war Niklas erst mal gespannt, wie es hier weitergehen würde. Da Elvir ihm keinen Hinweis mit auf den Weg gegeben hatte, wie es weitergehen sollte, wenn er den festgelegten Punkt auf dem See erreicht hatte, ging Niklas davon aus, dass sein bester Freund sich melden würde. Vielleicht würde er anrufen, eine Nachricht schicken, möglicherweise morste er auch vom Ufer aus mit einer Taschenlampe. Obwohl, nein, das würde er nicht tun, denn das Licht würde man auch von anderswo sehen können. Es war nicht auszuschließen, dass dann jemand ein Verbrechen oder jemanden in Not witterte und die Polizei oder die Rettung rief. Wer kannte denn heute noch das Morsealphabet und konnte schnell genug mitlesen, um zu verstehen, dass es keinen Grund zur Sorge gab? Er und Elvir hatten das auch nur zum Spaß gelernt vor zwei Jahren.

 

Links von sich hörte Niklas ein Plätschern. Es war nicht laut, und wäre die Nacht nicht so still, der See nicht so ruhig gewesen, dann hätte er es wohl gar nicht wahrgenommen. Aber es war doch anders als die kaum hörbaren Wellen, deshalb merkte er auf. Er schaute in die Richtung, konnte aber nichts erkennen. 20, 25 Meter entfernt hob sich ein dunkler Schemen vor dem Himmel ab, eine Insel, die keinen Namen trug. Es war auch keine echte Insel, jedenfalls noch nicht lange. Der See war insgesamt nicht tief, sah man ab von der Fahrrinne für das Ausflugsschiff, die regelmäßig ausgebaggert wurde, wohl nirgends mehr als mannstief. Die Insel war eine besonders seichte Stelle, selten wurde sie komplett überspült, und seit ein paar Jahren eigentlich gar nicht mehr. Ein paar Büsche, zähe Pioniergewächse, hatten sich angesiedelt, und die Stadt ließ sie wuchern. Die Insel, die so immer mehr zu einer wurde, lag abseits der Fahrrinne, und auch die Segler störte sie nicht. Die Mühe, zur Insel überzusetzen, machte sich niemand, der gesamte Grund bestand aus faust- bis kopfgroßen Steinbrocken, völlig ungeeignet für Sonnenbad und Picknick, und zu entdecken gab es nichts.

 

Für Elvir war das ideal. Er hatte sich frühzeitig dort einbauen können, nach Einbruch der Dunkelheit hätte niemand ihn bemerkt, trotz Vollmond. Niklas hatte nicht darauf geachtet, ob neben dem Boot, das für ihn vorbereitet worden war, noch ein weiteres fehlte, aber selbst wenn nicht, musste das nichts heißen. Elvir hätte sich auch von irgendwem ein Surfbrett oder Stand-Up-Paddling-Board leihen können, wenn er nicht gleich zu Fuß gegangen war. Niklas glaubte nicht, dass das Wasser irgendwo zwischen Ufer und Insel zu tief war zum Waten.

 

Das Plätschern wiederholte sich, und Niklas kniff die Augen zusammen. Die Büsche und die Uferböschung bildeten einen dunklen Hintergrund, aber musste sich Elvir nicht trotzdem davon abheben?

 

Ein paar Augenblicke später brach direkt neben dem Boot etwas durch die Wasseroberfläche. Niklas erschrak, und hätte er nicht gesessen, wäre er wahrscheinlich rücklings über Bord gefallen. Ein Schreckensschrei entfuhr ihm, der auf dem ganzen See zu hören sein musste.

 

War es lächerlich, dass er für einen Moment an den berüchtigten weißen Hai gedacht hatte? Es war natürlich Unfug, ganz davon ab, dass diese Tiere nicht so blutrünstig waren, wie es ihnen angedichtet wurde. Der See war Süßwasser und viel zu klein als Jagdrevier eines so großen Raubfischs, und einen weißen Hai setzte man auch nicht mal so eben aus.

 

Aber Elvir war es auch nicht. Es war ein Mädchen in einem hellen Badeanzug, das gerade an Bord kletterte. Niklas musste erst mal das Wasser wegblinzeln, das ihm in die Augen gespritzt war, ehe er es erkannte.

 

„Rebecca?“, fragte er entgeistert. „Ich dachte, Elvir…“ Rebecca lächelte und wischte sich eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht. Durch die Nacht und die Nässe wirkte ihr Haar braun, aber Niklas wusste, dass es in Wahrheit von einem hellen Kupferrot war. Rebecca ging auf seine Schule, und sie kannten sich ganz gut, obwohl sie eine Klasse unter ihm war. Ihr Bruder war in Niklas‘ Parallelklasse, ein Junge aus Rebeccas Klasse hatte eine Schwester in Niklas‘, und sowohl aus der 9b, als auch aus der 8c waren mehrere in der Theater-AG. Niklas wusste, dass Rebecca im Schwimmverein war und wohl auch schon einige Pokale gewonnen hatte. Wenn er sich richtig erinnerte, war sie die Jüngste in ihrer Klasse und gerade vor drei Tagen vierzehn geworden.

 

„Dann ist mein Plan ja aufgegangen“, stellte sie fest. „Prima!“ „Plan?“, wunderte sich Niklas. „Na, dass wir uns heute Nacht hier treffen“, präzisierte Rebecca. „Oder wärst du auch gekommen, wenn ich dich einfach gefragt hätte?“

 

Niklas zuckte unsicher mit den Schultern. Wahrscheinlich nicht, musste er sich eingestehen. Sie war okay, gar kein Zweifel, aber ob er sich auf eine Verabredung mit ihr eingelassen hätte? Kaum, und er hätte nicht mal sagen können, warum nicht.

 

„Siehst du“, deutete Rebecca sein Schweigen richtig. „Deshalb der Trick mit dem Boot. Ich wusste ja, dass ihr immer wieder solche Sachen macht.“ „Du hast mich schön drangekriegt“, musste Niklas zugeben. „Ich hab echt keine Sekunde dran gedacht, dass der Brief nicht von Elvir sein könnte.“ „Zum Glück!“, meinte Rebecca. Sie hatte sich vollends ins Boot gezogen und kletterte um ihn herum auf den zweiten Sitz. „Ich hoffe, du bist mir nicht böse.“

 

Niklas schüttelte den Kopf. „Kein Stück“, versicherte er ehrlich. „Von dir kann Elvir sich noch was abgucken. Das hast du echt sauber hingekriegt. Wie bist du auf die Idee gekommen?“ „War gar nicht so schwer“, gab Rebecca zu. „Der Bootsverleih gehört meinem Onkel. Ich kann fahren, so oft ich will, vorausgesetzt, ich nehme keinem Kunden das Boot weg, und auch außerhalb der Öffnungszeiten. War also überhaupt kein Problem, das Boot zu präparieren und unabgeschlossen am Anleger liegenzulassen.“ „Präpariert?“, echote Niklas verdutzt. Rebecca schmunzelte. „Ja, glaubst du, ich sitze hier mit nichts in der Hand und rede mit dir übers Wetter?“, fragte sie. Dabei drehte sie sich nach hinten und schob einen kleinen Schlüssel, den sie an einer Schnur um den Hals trug, in ein Schloss neben dem Ruderhebel. Niklas hatte das Schloss gesehen, weil er geschaut hatte, ob Elvir irgendwo eine Nachricht für ihn hinterlegt hatte, einen Zettel oder eine mit Kreide oder Whiteboard-Marker geschriebene Botschaft. Er hatte es aber nicht weiter beachtet, weil er davon ausgegangen war, dass es sich nur um eine Reparaturklappe handelte. Außerdem hätte Elvir bestimmt nichts aufgebrochen; dass auch die Boote als solche nachts angekettet waren, daran hatte Niklas gar nicht gedacht, obwohl es nahe lag.

 

Tatsächlich war die Klappe hauptsächlich dafür gedacht, Reparaturen zu vereinfachen, wobei natürlich für manche Arbeiten das Boot trotzdem aufs Trockene gezogen und aufgebockt werden musste. Zusätzlich, verriet Rebecca Niklas, befand sich darunter ein Sender, über den das Boot geortet werden konnte. Der hatte schon mehr als einmal gute Dienste geleistet, wenn irgendwelche Leute das Boot nicht zurückgebracht hatten. Zum Glück war bis jetzt immer Faulheit oder Vandalismus die Ursache gewesen, das war ärgerlich, kostete aber anders als ein Unfall niemanden das Leben.

 

Wenn man es geschickt anfing, war hinter der Klappe aber auch etwas Stauraum, und den hatte Rebecca genutzt, um eine Tasche bereitzulegen, ohne dass Niklas sie finden würde. Niklas sah, dass die Tasche sicherheitshalber mit Panzertape befestigt worden war, und sie schien fast völlig trocken geblieben zu sein.

 

Auf diese Weise hatte Rebecca alles in der Hinterhand, was sie und Niklas für ein nächtliches Picknick auf dem See brauchten. Nach und nach holte sie eine Tüte mit Plätzchen, eine Flasche Eistee, zwei Becher und eine Packung Salzstangen heraus. Mit einer Duftkerze schaffte sie eine romantische Stimmung und sorgte gleichzeitig dafür, dass Mücken Abstand hielten, falls sie noch unterwegs waren. Zuletzt holte sie noch ein Badetuch heraus, das sie sich um die Schultern legte. Die Nacht war zwar warm, aber ihr Badeanzug war ja nass, das war dann vielleicht doch nicht so angenehm.

 

„Wie komme ich dazu?“, fragte Niklas staunend. „Du verwöhnst mich ja!“ „Du weißt, warum“, antwortete Rebecca schlicht.

 

Niklas stutzte, doch dann begriff er. Es war doch klar, was das bedeutete, Rebecca hatte sich ganz clever ein Date mit ihm verschafft. Eigentlich hätte er es in dem Moment wissen müssen, wo sie neben dem Boot aufgetaucht war.

 

Rebecca sah, dass er verstanden hatte. „Ich weiß, das kommt jetzt plötzlich für dich“, sagte sie sanft. „Aber ich glaube, anders hätte ich mich nie getraut.“

 

Was sollte Niklas darauf sagen? Feige war Rebecca bestimmt nicht, allein schon dieses nächtliche Date strafte alle lügen, die etwas anderes behaupteten. Aber ihr das zu versichern, hätte irgendwie komisch geklungen, fand er, zu platt, zu sehr darauf aus, zu sagen, was sie hören wollte. Dabei nahm er nicht mal an, dass sie wollte, dass er ihr widersprach – jemandem zu zeigen, dass man mehr für ihn fühlte, war eben nicht immer einfach und oft mit Ängsten verbunden.

 

„Wollen wir uns nach hinten setzen?“, schlug er nach ein paar Augenblicken vor. Das Boot hatte am Heck eine kleine Plattform, auf der noch mal zwei Leute sitzen konnten, zusätzlich zu den beiden Sitzen an den Tretkurbeln vorne. Rebecca nickte und kletterte zwischen den Lehnen der beiden Vordersitze durch. Niklas folgte ihr und setzte sich neben ihr auf den Boden, näher, als es vorne möglich gewesen wäre, wo der Ruderhebel im Weg war.

 

Rebecca sah ihn von der Seite an, sie freute sich, dass er nicht versuchte, Abstand zu halten, und lud ihn mit ihrem Blick ein, noch etwas mehr zu wagen. Behutsam legte Niklas ihr einen Arm um die Schultern. Rebecca lächelte, hauchte ihm einen Kuss auf die Wange und legte dann den Kopf an seine Schulter.