Besorgt schaute Fine zum Himmel. Schwarzgraue Wolken drängten sich über den Häusern, es sah fast so aus, als würden sie die Dächer streifen. Obwohl es Nachmittag war, war es so düster, als wäre die Dämmerung fortgeschritten. Ein dumpfes Grollen untermalte die Szene, es würde nicht mehr lange dauern, bis das Unwetter losbrach.
Fine war voll bepackt, ihr Rucksack vollgestopft mit Socken und Unterwäsche. Sie hatte sich komplett neu eindecken müssen, alles, was sie an Wäsche hatte, war ihr zu klein geworden. Schnell laufen würde sie mit diesem Gewicht nicht können – würde sie es trotzdem noch schaffen, ehe der Himmel die Schleusen öffnete?
Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, sich unterzustellen, bis das Gewitter abgezogen war, aber dann würde sie den Bus verpassen, und der fuhr sonntags nur einmal in der Stunde. Also sprintete sie los, so schnell es der Rucksack zuließ.
Die ersten Tropfen fielen, als sie noch kaum fünf Schritte vom Eingang des Kaufhauses entfernt war. Okay, das würde knapp werden, aber jetzt war sie einmal unterwegs…
Sie konnte die Haltestelle schon sehen, als irgendwer den Schalter umlegte. Ein greller Blitz riss die Häuser aus der Dämmerung, und von einem Augenblick auf den anderen prasselten Regen und Hagel auf Fine ein. Fine versuchte, noch etwas schneller zu rennen, aber ihre nackten Füße fanden auf den vermoosten Steinplatten kaum Halt. Fast wäre sie ausgeglitten, gerade noch konnte sie sich an einem dünnen Baumstamm festhalten.
Als sie die Haltestelle erreichte, war sie klatschnass. Noch war sie erhitzt vom Laufen, aber mit jeder Sekunde machten sich die durchweichten Klamotten mehr bemerkbar. Sie stellte die große Strandtasche mit den Büchern auf den Boden und schlang die Arme um sich, aber das half nicht viel. Wie lange würde es noch dauern, bis der Bus kam?
Sie machte einen Schritt nach vorne, um ihre Armbanduhr mit der Uhr am Kirchturm abzugleichen. Dabei trat sie jemandem in den Weg, den sie in der Dunkelheit nicht hatte kommen sehen, und derjenige rannte voll in sie hinein. Sie verlor das Gleichgewicht, aber zum Glück landete sie weich auf dem Teppich. „Oh“, sagte der Junge, der sie über den Haufen gerannt hatte. „Sorry, das wollte ich nicht. Hast du dir wehgetan?“ Fine schüttelte den Kopf und griff dankbar nach der Hand, die er ihr hinhielt, um ihr aufzuhelfen. „Nichts passiert“, versicherte sie.
„Aber du bist ja komplett nass!“, stellte Lukas fest und schaute auf die Wasserflasche, die er bei dem Zusammenstoß verloren hatte. „Warte, ich rubbele dich trocken!“ Er zog ein Handtuch aus der Hosentasche, trat hinter Fine und begann, ihre dunklen Haare abzurubbeln. Fine hielt still, und sie spürte, dass er aufpasste, sie nicht versehentlich an den Haaren zu ziehen.
„So, schon besser, oder?“, meinte er schließlich, und Fine nickte. „Willst du was trinken?“, erkundigte sich. „Ja, ich glaube schon“, antwortete Fine unsicher. „Aber…“ Lukas legte ihr einen Finger quer über die Lippen. „Kein Aber!“, gebot er. „Warte, ich hol dir was!“
Schon war er weg, aber nach zwei Minuten war er zurück, in der Hand einen Becher mit dampfendem Kakao, der mit Sicherheit aus dem Automaten in der Pausenhalle stammte. Auch für sich hatte er einen mitgebracht.
Es war richtig gemütlich, mit ihm zusammenzusitzen, und irgendwie verflog die Zeit viel zu schnell. Hoffentlich musste er nicht so schnell nach Hause! Aber es reichte leider nur gerade, dass er noch den Kakao mit ihr trinken konnte. „Ich muss dann mal!“, sagte er bedauernd, nachdem er den Becher in die Spülmaschine gestellt hatte. „Aber vorher…“
Fine wusste, was kommen würde, und schaute kurz zu ihrer Oma. Aber die war mit Waldi schon um die Ecke im Park verschwunden und würde nichts mitbekommen. Lukas‘ Gesicht näherte sich ihrem, und dann…
***
Verwirrt starrte Fine in die Dunkelheit. Wo war Lukas? Hatte er es sich doch noch überlegt? Schade, es war gerade so schön gewesen!
Dann begriff sie, dass sie geträumt hatte, und sie zuckte zusammen. Sie hatte von Lukas geträumt? Von Lukas aus der Achten, mit dem sie ab und an zu tun hatte, weil sie beide für die Schülerzeitung schrieben? Das durfte nie jemand erfahren, sonst war sie blamiert bis in alle Ewigkeit!
Ein lautes Rumpeln riss sie aus ihren Gedanken – das Gewitter hatte sie nicht nur geträumt. Auch dass sie gefroren hatte, hatte sie sich nicht eingebildet, sie hatte am Abend das Fenster aufgelassen, damit zumindest ein Hauch von frischerer Luft gegen die Hitze des Tages ankämpfen konnte, und durch das Gewitter hatte es sich merklich abgekühlt. Ihre nackten Beine hatten sogar ein paar Tropfen Regen abbekommen, die beim Auftreffen auf die Fensterbank auseinandergespritzt sein mussten.
Sie stand auf, um das Fenster auf Kipp zu stellen, schaute kurz den Blitzen zu, die über den Himmel zuckten, und legte sich dann wieder hin. Angst hatte sie nicht vor Gewittern, sie zog die Bettdecke halb über sich und wollte wieder einschlafen.
Doch irgendwas hielt sie wach, der verrückte Traum wollte sie einfach nicht loslassen. Irgendwie hatte es sich im Traum wirklich gut angefühlt mit Lukas, und fast bedauerte sie ein bisschen, dass sie einen Augenblick zu früh aufgewacht war, um zu erfahren, wie es sich angefühlt hätte, wenn er…
Wenn es stimmte, dass Träume sich aus dem Unterbewusstsein speisten, bedeutete das dann, dass sie in Lukas…? Kaum vorstellbar eigentlich, sie kannte ihn doch kaum! Sie sahen sich nur bei den Redaktionssitzungen, und ab und an begegneten sie sich natürlich auch auf dem Schulhof, aber das war’s dann auch. Fine hatte das Gefühl, dass sie eigentlich gar nichts über ihn wusste, aber irgendwas in ihr, das sie nicht kontrollieren konnte, hatte offenbar etwas an ihm wahrgenommen, was ihr gefiel. Sollte sie dem Fingerzeig folgen? Es klang verrückt, aber es hatte sich so gut angefühlt in ihrem Traum, das würde sie schon gern auch in echt erleben. Okay, dann war das der Plan, sie würde herausfinden, ob Lukas im echten Leben auch so nett war, wie im Traum, und wenn er sich dann auch mochte… Man konnte nie wissen, oder?