Autorenseite René Bote

Silvester bei Tüftlers

Cover der Kurzgeschichte Silvester bei Tüftlers

Eigentlich hatte Johannes nicht vorgehabt, den Jahreswechsel im Krankenhaus zu verbringen, aber viel gefehlt hätte nicht dazu. Es war später Nachmittag an Silvester, seine Mutter hatte ihn gebeten, rasch noch einen Botengang für sie zu erledigen: die Hälfte des Kuchens, den sie gebacken hatte, zur Großmutter zu bringen.

 

Er ging zügig, passte aber auf, wohin er trat, denn es war kalt, und Raureif machte den eisigen Boden rutschig. Die meisten Nachbarn hatten gestreut, aber hundertprozentig darauf verlassen durfte man sich nicht.

 

Bis zur Straßenecke hundert Meter weiter ging alles gut. Doch mit dem Mädchen, das plötzlich hinter der Hecke des Eckgrundstücks hervorsprang, hatte er unmöglich rechnen können, und zum Ausweichen war es zu spät. Das Mädchen hatte es offensichtlich nicht auf ihn abgesehen, es hatte schlicht keine Augen im Rücken. Es hatte sich selbst vor irgendetwas in Sicherheit gebracht, was Johannes nicht sehen konnte. Mit dem Rücken prallte es gegen ihn, und Johannes verlor das Gleichgewicht. Instinktiv griff er mit der rechten Hand in die Hecke, so konnte er verhindern, dass er rücklings auf den Boden krachte.

 

Das Mädchen hatte nicht so viel Glück, versuchte zwar auch, sich festzuhalten, erwischte aber nur einen dünnen Zweig, der ihm gleich wieder aus der Hand rutschte. Nur die Tatsache, dass der Schwung es gegen Johannes gedrückt hatte, bremste den Fall. Ein Aufschrei zeigte, dass der Aufprall trotzdem wehtat, ging aber unter in einem lauten Knall hinter der Ecke. Damit war Johannes auch klar, was der Grund für den Satz um die Ecke gewesen war: ein Böller, den irgendjemand nach dem Mädchen geworfen hatte. Zumindest nahm er an, dass das Mädchen den Böller nicht selbst gezündet hatte.

 

Nachdem er sich selbst wieder gefangen hatte, reichte Johannes dem Mädchen die Hand, um ihm aufzuhelfen. Erst dabei erkannte er es, bislang war alles zu schnell gegangen, er hatte es nur von hinten gesehen, und die Dämmerung war auch schon weit fortgeschritten.

 

Patrizia wohnte in einem der ersten Häuser in der Seitenstraße. Als kleine Kinder hatten sie gelegentlich auf dem Spielplatz zusammen gespielt, waren auch in derselben Gruppe im Kindergarten und in derselben Grundschulklasse gewesen. Jetzt waren sie auf unterschiedlichen Schulen, Patrizia besuchte wie die meisten der damaligen Klassenkameraden das nächstgelegene Gymnasium, Johannes eines in einem anderen Teil der Stadt; seine Eltern hatten ihn dort angemeldet, weil schon sein Vater es besucht hatte.

 

„Hast du dir wehgetan?“, fragte Johannes, während Patrizia sich mit seiner Hilfe wieder auf die Füße stellte. „Geht schon“, antwortete sie. Die Hand, die sie auf die Kehrseite drückte, strafte sie lügen, aber allzu dramatisch schien es wirklich nicht zu sein; höchstens ein blauer Fleck. „Sorry, ich hab nicht aufgepasst“, entschuldigte sie sich. „Schon gut“, sagte Johannes. „Wenn du erst noch geguckt hättest, wo du hinrennst, dann wärst du nicht mehr rechtzeitig weggewesen, bevor das Ding hochgeht. Hat den einer nach dir geworfen?“

 

Patrizia nickte. „Dreimal darfst du raten, wer.“ Johannes hatte tatsächlich einen Verdacht, wusste nämlich, dass sie als „kleine“ Schwester oft Ärger mit den älteren Brüdern hatte. Die waren 16, Zwillinge, und hatten nichts als Blödsinn im Kopf.

 

Patrizia bestätigte es, die Zwillinge und ein paar von ihren Freunden warfen schon seit dem Vormittag Böller, nicht die ganze Zeit, aber immer wieder einmal ein oder zwei Stück. Dass einer ihr genau vor die Füße geflogen war, war garantiert kein Zufall; das war das, was die Jungen unter Spaß verstanden, und auch eine Art, zu zeigen, dass sie meinten, sie könnten sich alles erlauben.

 

„Und deine Eltern sagen nichts?“, wunderte sich Johannes. „Die sind nicht da“, erklärte Patrizia. „Im Restaurant ist Silvesterparty, wir haben sturmfrei bis morgen früh.“ Ihre Eltern führten ein Restaurant am Rand der Innenstadt. „Außerdem – was meinst du denn, von wem die das ganze Zeug haben? Meine Eltern haben eine ganze Ladung besorgt, sie müssen ja nachher auch richtig Feuerwerk machen. Die Gäste erwarten das einfach.“ „Und du?“, erkundigte sich Johannes. „Was machst du dann? Wenn du rausgehst, bewerfen sie dich wahrscheinlich wieder, oder?“ Patrizia zuckte mit den Schultern. „Mal schauen“, sagte sie. „Vielleicht gehe ich raus, wenn sie gerade drinnen sind, und dann ein Stück weg. Wenn sie mich nicht sehen …“

 

Das würde vermutlich funktionieren, schätzte Johannes. Er glaubte nicht, dass Patrizias Brüder großartig nach ihr suchen würden. Trotzdem fand er es blöd, genießen können würde sie das Feuerwerk so kaum.

 

„Dann komm doch mit uns!“, sagte er spontan. „Wir gehen auch früher raus und schauen uns das an, aber so, dass wir nicht mittendrin sind.“ „Ihr böllert nicht?“, folgerte Patrizia, und Johannes nickte. „Mit China-Böllern und so haben wir eh nie was gemacht, meistens nur ein paar Raketen. Aber dieses Jahr probieren wir was anderes aus.“

 

***

 

Um viertel nach elf fand Patrizia sich bei Johannes ein. Soweit er sich erinnern konnte, war sie noch nie bei ihm zu Hause gewesen, aber seine Eltern kannten sie von früher.

 

Johannes hatte schon alles zusammengepackt, was er brauchte, aber ein paar Minuten Zeit hatten sie noch, ehe sie losgehen mussten. Sie aßen ein paar Plätzchen, tranken Tee dazu und unterhielten sich. Patrizia gefiel es ganz offensichtlich, es war einfach nur gemütlich, und vor allem brauchte sie sich nicht mit ihren Brüdern und deren Freunden herumzuärgern.

 

Um zwanzig vor zwölf machten sie sich auf den Weg. Patrizia wusste weder, wohin genau sie gehen, noch was sie dort machen würden. Keine Raketen, das hatte Johannes ihr ja verraten, aber nicht, was er stattdessen vorhatte. Damit war sie immerhin nicht allein, auch Johannes‘ kleine Schwester Serafina wusste nur, dass es eine Überraschung geben würde, aber nichts Genaues.

 

Das Ziel war eine Weide am Stadtrand. Die Weide selbst war eingezäunt, aber am Rand führte eine schmale Straße vorbei, die nur Anlieger benutzen durften. Die Wahrscheinlichkeit, dass so kurz vor dem Feuerwerk jemand mit dem Auto hier durchwollte, tendierte gegen null, und auch sonst würde sich wahrscheinlich niemand blicken lassen. Die Weide lag nicht erhöht, man hatte keinen Blick über weite Teile der Stadt, deshalb war sie als Aussichtspunkt eher zweite oder dritte Wahl.

 

Johannes war das recht, umso mehr konnte er sich ausbreiten. Er hatte eine Weile getüftelt, natürlich auch getestet, trotzdem war er nicht sicher, ob alles so funktionieren würde, wie er es sich vorstellte. Davon abgesehen, dass er nicht alles komplett durchgespielt hatte, würde sich erst jetzt erweisen, wie es wirkte.

 

An vier verschiedenen Stellen drückte er Erdnägel in den Boden, Haken, die eigentlich zum Halten von Zeltschnüren gedacht waren. Patrizia ging ihm zur Hand, ohne zu wissen, was daraus werden würde. Sie verknotete Schnüre an den Haken, und pumpte die Luftballons auf, die am anderen Ende verknotet waren. Sie sah, dass irgendetwas in den Luftballons war, konnte aber in der Dunkelheit, die von keiner Laterne erhellt wurde, nicht erkennen, was.

 

„Bereit?“, fragte Johannes dann. Patrizia nickte. Sie hatte immer noch keine Vorstellung, was das werden sollte.

 

Johannes nahm eine kleine Fernbedienung und drückte einen Knopf. Zunächst tat sich nichts, doch Johannes lächelte nur, als er Patrizias verwunderten Blick sah.

 

Etwas später hob sich der erste Ballon vom Boden, die anderen folgten in kurzen Abständen. Jetzt begriff Patrizia zumindest im Ansatz: In den Ballons war irgendetwas, das die Luft erwärmte. Weil warme Luft leichter war als kalte, stiegen die Ballons auf.

 

In der Stadt schossen die ersten Raketen in den Himmel, das waren die Ungeduldigen, denn noch war es nicht ganz Mitternacht. Johannes’ Mutter hatte die Uhr im Auge. „Perfektes Timing!“, sagte sie. „Noch eine Minute.“

 

Die letzten zehn Sekunden zählten sie gemeinsam herunter, und bei „Null!“ drückte Johannes noch einen Knopf. Plötzlich wurde es hell über ihnen, in den Luftballons begannen Lichterketten mit winzigen LED zu leuchten, hell, aber nicht grell, und in verschiedenen Farben. Die Farben wechselten sogar, es war wunderschön bunt, einfach faszinierend. „Toll!“, hauchte Patrizia dicht neben Johannes. „Einfach schön!“

 

Johannes wurde rot und war froh, dass Patrizia das im wechselnden Licht nicht sehen konnte. „Frohes Neues!“, sagte er, auch um seine Verlegenheit zu überspielen. Er umarmte seine Eltern, lupfte Serafina kurz an, alle wünschten einander einen guten Start ins neue Jahr.

 

Dann stand er vor Patrizia und wusste nicht so recht, was er tun sollte. Doch Patrizia zögerte nicht und umarmte ihn einfach, völlig selbstverständlich. „Frohes Neues!“, wiederholte sie leise. „Und danke, dass du mich mitgenommen hast.“ Sie hauchte ihm einen Kuss auf die Wange, und als sie gemeinsam das Lichterspiel in den Ballons verfolgten, spürte er, wie sich ihre Hand in seine schob.