„Geschafft!“ Klaras Mutter rammte den Nordic-Walking-Stock, den sie als Wanderstock benutzte, in den Boden, wie um zu sagen: „Bis hierher und keinen Schritt weiter!“
Klara seufzte. Ihre Mutter war echt nicht in Urlaubsstimmung, und das würde sich wohl auch nicht mehr ändern. Sie ging in ihrem Beruf als Webdesignerin auf, vor allem, seit sie sich vor zwei Jahren selbständig gemacht hatte. Von sich aus hätte sie die Woche in Südtirol nicht gebucht, eine gute Freundin hatte ihr die Auszeit mehr oder weniger verordnet. Das war bestimmt richtig gewesen, auch Klara hatte gespürt, dass ihre Mutter nach viel Stress mit einem inzwischen zum Glück Ex-Kunden mal Abstand brauchte. Man konnte nicht immer nur schaffen, auch wenn man seinen Beruf liebte, das hatte Klaras Mutter selbst einmal gesagt, als sie noch angestellt gewesen war.
Nachdem sie den ersten Tag noch zur Eingewöhnung genutzt und sich nur ein bisschen in der näheren Umgebung des Hotels umgesehen hatten, waren sie am zweiten zu den Reinbachwasserfällen gefahren. Auch das war ein Tipp der Freundin von Klaras Mutter, die Südtirol kannte wie ihre Westentasche.
Vor ihnen verbreiterte der Weg sich, um dann an einem hölzernen Geländer zu enden. Hinter dem Geländer ging es ein paar Meter hinunter zum Bach, und gegenüber stürzte der Wasserfall aus einer schmalen Schlucht. Das sah schon beeindruckend aus, und Klara spürte den feinen Sprühregen auf der Haut, obwohl sie noch einige Meter vom Geländer entfernt war.
Vorsichtig suchte Klara sich den Weg zwischen zahlreichen Wanderern hindurch, die sich hier versammelt hatten. Sie musste aufpassen, wohin sie den Fuß setzte, am Rand war der Boden mit großen Felsbrocken durchsetzt, und die waren glitschig. Aber sie hatte es nicht eilig und konnte warten, bis sich eine Lücke auftat.
Schließlich erreichte sie das Geländer und betrachtete schweigend das zu Tal stürzende Wasser. Es war wirklich schön, und bestimmt zwei oder drei Minuten lang ließ sie einfach nur den Eindruck der Naturgewalten auf sich wirken. Dann machte sie ein paar Fotos und auch ein kurzes Video, obwohl sie ahnte, dass sie die Wucht des Originals nur ansatzweise würde einfangen können.
Ihre Mutter hatte ebenfalls ein paar Fotos gemacht und wollte umkehren. Die Pflicht war erfüllt, sie würde ihrer Freundin sagen können, dass sie die Wasserfälle besucht hatte. Den Nachmittag würde sie im Hotel auf dem Balkon verbringen, in Gedanken vermutlich bald wieder bei ihrer Arbeit. Schade, dass sie im Moment so gar nicht abschalten konnte! Dabei liefen die Geschäfte gut, soweit Klara das mitbekam, ein paar Tage Pause waren alles andere als kritisch.
Klara hatte keine Lust, den Rest des Tages im Hotel abzuhängen. Sie fand die Ecke wirklich schön und wollte gerne noch weiterwandern. Bis jetzt waren sie ja nur eine gute Dreiviertelstunde unterwegs gewesen von der Bushaltestelle im Ortszentrum. Klara war nicht unsportlich, sie würde noch eine Weile durchhalten, auch wenn es so aussah, als würde der Weg jetzt steiler werden. Bis jetzt war es eher ein Spaziergang gewesen, der Weg vom Parkplatz durch den Wald fast eben, breit und gut befestigt. Wer weiter wollte, musste rechts den Hang hinauf, auf einem schmaleren, steinigeren Weg.
„Wollen wir wieder?“, fragte ihre Mutter. „Willst du echt schon wieder zurück?“, antwortete Klara mit der Gegenfrage, obwohl sie die Antwort kannte. „Weiter oben sind noch mehr Wasserfälle!“ Dabei deutete sie auf die Wegweiser, die zwei weitere Wasserfälle auswiesen. „Guck doch, wie’s da raufgeht!“, gab ihre Mutter zu bedenken. „Das ist nichts für mich.“ „Aber ich möchte mir das ansehen!“, beharrte Klara. „Dann kannst du ja zurück, und ich gehe weiter. Und guck mal“, sie deutete wieder auf den Wegweiser, „ganz oben, die Kapelle ist sogar nach einer Clara benannt.“ „Ja, schon“, räumte ihre Mutter ein. „Aber interessiert dich das wirklich? Du bist nicht mal getauft.“
Das stimmte zwar, war für Klara aber kein Grund, sich die Kapelle nicht anzusehen. Das Gebäude konnte trotzdem spannend sein.
„Und wenn dir unterwegs was passiert?“, wollte ihre Mutter wissen. „Du bist erst zwölf.“ „Fast dreizehn“, präzisierte Klara. Ihr Geburtstag würde auf den ersten Schultag nach den Sommerferien fallen. „Ich hab mein Handy dabei, und hier sind so viele Leute unterwegs …“, versuchte sie die Bedenken ihrer Mutter zu zerstreuen. „Und wenn ich merke, dass die Wege nicht gut sind, kehre ich um“, versprach sie zuletzt.
Ihre Mutter zögerte immer noch. Ihr fehlte es wohl auch an Erfahrung, wie viel Freiheiten sie Klara im Urlaub geben sollte. Da sie selbst lange keinen Urlaub gemacht hatte, hatte sie Klara in den letzten Jahren zu Kinderfreizeiten angemeldet. Als sie zuletzt gemeinsam mit Klara in Urlaub gefahren war, war die noch in der Grundschule gewesen.
Klara nahm ihr Handy und suchte online nach einer Wegbeschreibung. Sie wurde schnell fündig, und so, wie der Weg beschrieben war, gab es für ihre Mutter keinen Grund, sich Sorgen zu machen. Der Weg zu den nächsten Wasserfällen war zwar kein Spaziergang, aber auch nicht gefährlich, wenn man keine Dummheiten machte. Das hatte Klara nicht vor, sie würde aufpassen, wohin sie trat.
„Also gut“, gab ihre Mutter schließlich nach. „Dann geh du weiter. Aber du bleibst auf dem Weg, du gehst auf keinen Fall weiter als bis zu dieser Kapelle, und du gehst auf demselben Weg zurück!“
Klara versprach es, denn das war ja genau das, was sie vorhatte. Auch dass sie regelmäßig eine Nachricht schicken sollte, wo sie war, störte sie nicht. Immerhin durfte sie, und sie würde sowieso regelmäßig stehen bleiben, um wieder zu Atem zu kommen und Fotos zu machen.
Sie verabschiedete sich von ihrer Mutter und nahm den Weg unter die Füße, der weiter nach oben führte. Zwanzig Minuten sollten es sein bis zum zweiten Wasserfall, dreißig bis zum dritten und letzten. Wenn es ein paar Minuten mehr wurden, würde das auch kein Beinbruch sein. Zeit hatte sie genug, es war noch nicht mal Mittag.
Sie spürte, wie Atem und Herzschlag sich beschleunigten, aber das war normal angesichts der Steigung und kein Signal, dass sie bald mit ihrer Kondition am Ende sein würde. Schritt für Schritt stieg sie den Weg hinauf, der Teils aus festgetretener Erde bestand, streckenweise aber auch mit Steinen aus der Umgebung befestigt war, die zu einfachen Treppen zusammengefügt waren.
Alles in allem kam sie gut voran, und Schwierigkeiten hatte sie nicht. Wo der Weg steiler war, halfen Stufen den Wanderern, und an Stellen, an denen der Hang neben dem Weg stark abfiel, gab es hölzerne Geländer. Klara brauchte sie nicht, aber es war gut, dass sie da waren.
So erreichte sie den zweiten Wasserfall, und sie hatte ziemlich genau die Zeit benötigt, die auf dem Wegweiser unten angegeben gewesen war, wenn sie die reine Laufzeit betrachtete. Ein paar Minuten war sie über dieser Zeit, aber sie hatte auch Fotos gemacht unterwegs oder sich einfach nur umgeschaut. An manchen Stellen hätte man einen Fantasy-Film drehen können, ohne einen Set-Designer beschäftigen zu müssen, das gefiel ihr.
Ihre Mutter hatte wirklich etwas verpasst, das konnte sie jetzt schon sagen, und erst recht, als sie schließlich den dritten Wasserfall erreichte. Der Bach stürzte von der Seite in eine Schlucht, die er sich im Lauf von abertausenden von Jahren gegraben hatte. Das Tosen erfüllte die Luft, und auf der anderen Seite waren die Felsen glitschig von der feinen Gischt, die unablässig herabregnete. Klara spürte die winzigen Tropfen auf der Haut und sah sie im Sonnenlicht glitzern.
Sie machte ein kurzes Video und hinterher noch ein Foto, das sie ihrer Mutter zusammen mit der fälligen Standortmeldung schickte. „Das hat sich echt gelohnt“, schrieb sie dazu.
Ein paar Minuten verweilte sie, betrachtete das Naturschauspiel und genoss das kalte Wasser, das sie benetzte. Sie war erhitzt vom Aufstieg, die Abkühlung tat gut. Sie trank auch einen Schluck aus ihrer Wasserflasche und aß ein Plätzchen.
Dann ging es weiter, über eine Brücke, die die Schlucht höchstens zehn Meter vom Wasserfall entfernt überspannte. Auf der anderen Seite führte eine Treppe weiter hoch in den Wald.
Das letzte Stück hatte es noch einmal in sich. Der Weg wurde schmaler und steiler, und daneben ging es immer senkrecht nach unten. Klara war froh, dass sie schwindelfrei war, ihrer Freundin Svenja, die nicht frei war von Höhenangst, wäre an dieser Stelle sicher mulmig geworden. Aber gefährlich war es nicht, nicht, wenn der Boden trocken war, wenn man geeignete Schuhe anhatte und aufpasste. Bloß auszuweichen war schwierig, nur an wenigen Stellen passten zwei Menschen aneinander vorbei, ohne dass einer auf die Felsen klettern oder sich gefährlich weit übers Geländer lehnen musste.
Mit der gebotenen Vorsicht stieg Klara weiter nach oben. Schwierigkeiten hatte sie nicht, verzichtete aber darauf, das Panorama einzufangen, um nicht anderen im Weg zu sein, die diese Stelle zügig hinter sich lassen wollten.
Dann hatte sie es geschafft, der Weg wurde breiter und war nicht mehr so steil. Sonne fand ihren Weg zwischen den Bäumen hindurch und wärmte den Boden. Das wussten vor allem die Eidechsen zu schätzen, die auf den Steinen hockten und blitzschnell in irgendwelchen Ritzen verschwanden, wenn Wanderer sich näherten. Klara gelang es, eins der Tierchen aus ziemlich kurzer Entfernung zu fotografieren, noch näher heranzukommen versuchte sie nicht, weil sie die Eidechse nicht stören wollte.
Wenig später konnte sie zwischen den Bäumen, noch einige wenige Meter oberhalb, eine weiß verputzte Hausecke ausmachen. Das musste es sein, oder?
Zumindest war sie nah dran, das helle Gebäude war nicht die Kapelle, sondern ein Toilettengebäude, das für die Besucher errichtet worden war. Aber von dort aus waren es nur noch ein paar Schritte zur Kapelle, einem rechteckigen Bau aus Bruchsteinen. Der Eingang lag ein Stück über dem Boden, eine steinerne Treppe führte dorthin. Ein paar Meter entfernt gab es eine Wasserstelle, einen Trog aus einem ausgehöhlten Baumstamm mit einem hölzernen Wasserspeier. Links neben der Kapelle ragten Mauerreste früherer Gebäude zwischen Gras und Gebüsch auf, rechts waren einige Bänke aufgestellt worden.
Klara fand, dass der Platz einladend wirkte. Dankbar trank sie am Brunnen einen Schluck Wasser und machte sich den Nacken nass, um sich abzukühlen.
Sie machte wieder Fotos und schickte eines davon an ihre Mutter. „Schön hier oben“, schrieb sie diesmal dazu. „Ich bleibe noch ein bisschen.“
Sollte sie wirklich hineingehen? Wirklich dafür angezogen war sie nicht, aber eigentlich hatten alle hier oben Wanderbekleidung an, Shorts oder Trekkinghosen, T- oder Funktionsshirts, Wanderschuhe oder stabile Turnschuhe. Mit den dunklen Trekkingshorts und dem lachsfarbenen T-Shirt reihte sie sich da nahtlos ein, und sie sah nicht abgerissen aus. Dass sie einen anstrengenden Aufstieg hinter sich hatte, sah man ihr natürlich an, das T-Shirt war feucht vom Schweiß, und eine Strähne ihres braunen Haares klebte ihr an der Stirn. Aber das war bei den anderen Besuchern auch nicht anders, bei den einen mehr, bei den anderen weniger, je nach Kondition und Aufstiegstempo.
Sie beschloss, dass es wohl okay war, wenn sie einen Blick in die Kapelle warf, und stieg die Stufen zum Eingang hinauf. Drinnen war es halbdunkel und angenehm kühl. Sehr groß war die Kapelle nicht, und die Ausstattung war einfach. Zumindest kam es Klara so vor, die selten eine Kirche betreten hatte und deshalb nur wenig vergleichen konnte. Ein hölzerner Altar, eine Darstellung des gekreuzigten Jesus, ein aus Holz geschnitztes Standbild, ein Ständer mit Kerzen. Als Sitzgelegenheiten dienten offenbar die halbmeterlangen Baumstammstücke, die rechts und links der Tür standen. Der Ort hatte eine ganz eigene Atmosphäre, die Klara irgendwie beeindruckend fand.
Sie war froh, dass sie diese Wanderung gemacht hatte. Der Weg war, wenn auch anstrengend, wunderschön, die Wasserfälle waren faszinierend, und auch die Kapelle gefiel ihr. Das wollte sie noch eine Weile genießen, sie suchte sich eine freie Bank im Schatten eines Baums, lehnte sich an den Stamm und machte für einen Moment die Augen zu.