Diese Geschichte ist ein kleiner Weihnachtsgruß an meine Leserinnen und Leser. Die Idee war einfach da, und ich hoffe, euch mit der kleinen Geschichte ein wenig Freude zu bereiten.
Lustlos starrte Lukas den kleinen Weihnachtsbaum an, den er gestern Morgen zusammen mit seiner Mutter geschmückt hatte. Seine Mutter hatte sich so viel Mühe gegeben, gute Laune und Vorfreude zu verbreiten, dabei war doch klar gewesen, dass Lukas am Heiligen Abend allein zu Hause sein würde.
Seine Mutter war Krankenschwester, und ausgerechnet heute hatte sie Nachtschicht! Klar, Lukas kannte das, und er verstand auch, dass auch an den Feiertagen jemand da sein musste, der sich um die Patienten kümmerte, aber trotzdem war es traurig, ausgerechnet an Weihnachten allein zu sein. Gerade, dass er zusammen mit seiner Mutter das mittags vorgekochte Essen gegessen hatte, zu mehr hatte die Zeit nicht gereicht; nachmittags hatte seine Mutter geschlafen, weil sie ja die ganze Nacht auf sein würde, und vor einer Stunde hatte sie sich auf den Weg zum Krankenhaus gemacht, um rechtzeitig zum Schichtwechsel da zu sein.
Einen Vater gab es nicht. Genauer gesagt hatte Lukas ihn nie kennengelernt, weil die Beziehung seiner Eltern nicht mal bis zu seiner Geburt gehalten hatte. Weil er es nicht anders kannte, hatte er seinen Vater auch nie vermisst, aber jetzt hätte er sich doch jemanden gewünscht, mit dem er Weihnachten hätte feiern können.
Mit einem leisen Seufzen legte er das Buch zur Seite, das seine Mutter ihm geschenkt hatte, ein Buch über die Schifffahrt, das eigentlich spannend geschrieben war, aber nicht spannend genug, um ihn vergessen zu lassen, dass Weihnachten war. Er stand auf, trat ans Fenster, lehnte die Stirn an die Scheibe und starrte nach draußen.
Egal, wohin er schaute, überall feierten die Menschen Weihnachten. Schräg gegenüber konnte er das alte Ehepaar Schwab sehen, sie saßen gemeinsam auf dem Sofa in ihrem Wohnzimmer, tranken Wein, redeten und lachten. Rechts daneben waren die Fenster dunkel, die Familie, die dort wohnte, war Weihnachten immer bei Verwandten zu Besuch. Eine Tür weiter war dagegen die Verwandtschaft eingefallen, bei Nickels war mit Eltern, drei Kindern, beiden Großelternpaaren und einer verwitweten Tante wie immer die Hütte gesteckt voll. Kurz gesagt: Frohe Weihnachten allenthalben, nur nicht bei Lukas.
Stopp! Ein Fenster gab es doch, hinter dem keine fröhliche Weihnachtsstimmung herrschte. Fast hätte Lukas es übersehen, obwohl es direkt gegenüber im Erdgeschoss lag, denn auf den ersten Blick sah es dort eigentlich hübsch weihnachtlich aus. Auf jeden Fall brannten die Lichter am Baum, der Tisch war mit Tannengrün geschmückt und gedeckt.
Doch das Mädchen, dass dort auf einem Sessel saß, wirkte nicht so, als hätte die Stimmung es erfasst. Wie es so mit zurückgelegtem Kopf an die Decke starrte, das sah auch eher gelangweilt und bedrückt aus.
Trotz der direkten Nachbarschaft kannte Lukas das Mädchen nur flüchtig. Er wusste, dass es Janine hieß, und dass es ungefähr so alt sein musste wie er selbst, weil es in der Grundschule in seiner Parallelklasse gewesen war. Jetzt besuchte sie eine andere Schule als er, er wusste nicht mal, welche. Janine war dünn, fast zu dünn, und hatte dunkles Haar, das ihr bald bis zum Po reichte.
Unwillkürlich blieb Lukas‘ Blick an ihr hängen. Ihr schien es genauso zu gehen wie ihm, Weihnachten allein zu Hause, und während er zusah, wie sie an die Decke starrte, was keine sehr unterhaltsame Tätigkeit war, fiel ihm ein, was seine Mutter einmal erzählt hatte. Auch Janine hatte keinen Vater, der bei der Familie wohnte, und die Mutter hatte wohl ein Alkoholproblem. Nicht so, dass sie ständig nur durch die Gegend torkelte, und meistens hatte sie ihre Sucht wohl im Griff, aber manchmal gab es Tage, an denen sie viel zu viel trank. Hatte sie sich ausgerechnet an Weihnachten total betrunken? Wenn ja, dann hatte Janine es noch zehnmal schlechter getroffen als er selbst – Weihnachten allein zu Haus, das war schon nicht schön, aber Weihnachten mit einer Mutter zu verbringen, die völlig besoffen war, das musste ein Alptraum sein.
Eine Idee nahm Gestalt an, eine Idee, die Lukas am Anfang zu abwegig schien, um sie überhaupt zu Ende zu denken. Doch je länger er darüber nachdachte, desto mehr lösten sich alle Bedenken in Luft auf; schlimmstenfalls würde er sich eine Absage einhandeln. Schließlich gab er sich einen Ruck, zog im Flur seine Jacke an und nahm den Hausschlüssel aus dem Schlüsselkasten.
Der Weg war nicht weit, nur die Treppe hinunter, über die Straße und auf der anderen Seite zwei oder drei Meter den Bürgersteig entlang bis zur Haustür. Es gab acht Klingeln, und Lukas wusste nicht, wie Janine und ihre Mutter mit Nachnamen hießen, drückte aber trotzdem entschlossen auf den Knopf unten in der rechten Reihe. Wenn die Klingeln wie in seinem eigenen Haus angeordnet waren wir die Wohnungen, dann musste das der richtige Knopf sein, denn Janine und ihre Mutter wohnten im Erdgeschoss rechts, und das J. in der Beschriftung B. Kehrer & J. Engel konnte gut für Janine stehen.
Doch wenn die Klingel wirklich bei Janine anschlug, dann stellte die sich taub. Lukas versuchte es noch ein zweites Mal, aber Janine öffnete nicht. Nachdenklich nagte Lukas an seiner Unterlippe – eigentlich hätte er sich denken können, dass Janine nicht aufmachen würde. Um diese Zeit erwartete sie mit Sicherheit keinen Besuch mehr, und gerade wenn ihre Mutter tatsächlich betrunken war, würde Janine sich hüten, irgendjemandem die Tür zu öffnen.
Aber so schnell wollte Lukas nicht aufgeben. Es war doch völliger Quatsch, dass sie beide allein zu Hause hockten, wenn sie doch genauso gut etwas zusammen machen konnten! Über die Klingel würde er nicht weiterkommen, das war klar, und die Telefonnummer hätte er erst aus dem Telefonbuch heraussuchen müssen, falls Janine und ihre Mutter nicht ohnehin nur über Handys verfügten, deren Nummern nicht verzeichnet waren, aber die beiden wohnten ja im Erdgeschoss. Das Fenstersims war zwar für Lukas über Kopfhöhe, aber wenn er sich etwas streckte, konnte doch an die Scheibe klopfen. Er hoffte, dass Janine kommen würde, um nachzusehen, und das Fenster würde sie vielleicht eher aufmachen als die Tür.
Der erste Versuch war noch zu zaghaft, das merkte Lukas selbst, deshalb klopfte er gleich noch einmal und dieses Mal etwas fester an. Das musste drinnen eigentlich gut zu hören gewesen sein, aber Lukas konnte den Erfolg nicht kontrollieren, weil er weder hören konnte, was hinter dem Fenster geschah, noch etwas sehen konnte. Selbst wenn er ein paar Schritte zurück machte bis an die Bordsteinkante, konnte er durchs Fenster nur die Oberkanten der Schränke und die Decke des Zimmers sehen.
Weil Janine nicht reagierte oder zumindest nicht ans Fenster kam, klopfte Lukas noch einmal. Jetzt endlich schien Janine aufzumerken, die Schatten an der Decke gerieten in Unordnung, und gleich darauf erschien ein Gesicht hinter der Scheibe. Lukas ging wieder ein Stück weg, so dass er nicht mehr im toten Winkel unterhalb des Fensters war, und winkte vorsichtig.
Drinnen riss Janine die Augen auf. Mit ihm hatte sie bestimmt nicht gerechnet, wie hätte sie auch sollen, und weil sie nicht wissen konnte, was er wollte, erschrak sie zunächst einmal. Das tat Lukas leid, denn nichts lag ihm ferner, als sie zu erschrecken, aber irgendwie hatte er ja ihre Aufmerksamkeit erregen müssen. Er machte mit den Händen eine Bewegung, als würde er ein Fenster öffnen, um Janine zu signalisieren, dass sie genau das tun sollte. Janine verstand, nickte und machte das Fenster auf, um mit ihm sprechen zu können. Fragend sah sie ihn an.
„Hi.“ begrüßte Lukas sie. „Ich hab gesehen, dass du allein zu Hause hockst, und da dachte ich, wir könnten was zusammen machen. Ich bin nämlich auch allein zu Hause, meine Mutter muss arbeiten. Willst du mit rüberkommen?“
Irgendwas in Janines Augen sagte, dass sie nichts lieber getan hätte, als mit ihm zu gehen, aber noch überwog die Unsicherheit. So gut kannten sie sich ja wirklich nicht, eigentlich nur vom Sehen, und konnte sie ihre Mutter wirklich allein lassen? „Ich weiß nicht.“ sagte sie zögernd. „Ich müsste Mama fragen, aber die schläft schon. Sie hatte einen anstrengenden Tag, weißt du?“
Lukas nickte, aber so ganz glaubte er ihr nicht. Ja, wenn er Recht hatte mit seiner Vermutung, dann schlief Janines Mutter tatsächlich, aber nicht, weil sie schwer gearbeitet hatte und einfach erschöpft war, sondern weil sie mal wieder einen dieser Tage mit zu viel Alkohol erwischt hatte, von denen seine Mutter erzählt hatte. Vielleicht war es nicht ganz fair, so zu denken, aber wenn sie ihren Rausch ausschlief, dann konnte es sie gar nicht stören, wenn Janine mit zu ihm kam, weil sie es nämlich gar nicht erst merken würde.
Aber das wollte er Janine nicht einfach so an den Kopf werfen; er musste es diplomatischer anfangen. „Meinst du nicht, ihr wär’s auch lieber, wenn du Weihnachten nicht allein verbringst, wenn sie schon zu müde ist?“ fragte er.
In Janines Gesicht arbeitete es. Die Versuchung war groß, aber Janine wollte offenbar keinen Ärger, was Lukas nachvollziehen konnte, und war sich nicht sicher, ob sie ihre Mutter wirklich allein lassen konnte. „Du kannst ihr ja einen Zettel hinlegen, damit sie weiß, wo du bist, falls sie doch aufwacht.“ schob Lukas nach.
Warum auch immer, dieser Rat gab den Ausschlag. Janine zögerte nur noch kurz, dann holte sie Stift und Papier, schrieb eine kurze Notiz, wo sie war, und legte den Zettel auf den Wohnzimmertisch. Wo sie die Notiz ablegte, konnte Lukas zwar nicht sehen, weil er zu tief stand, aber Janine sagte, was sie vorhatte, ehe sie das Fenster schloss.
Eine Minute später ging die Haustür auf, und Janine kam hinaus. Sie hatte sich eine Jacke übergeworfen, obwohl die kurze Strecke quer über die Straße kaum reichte, um zu frieren, und den Hausschlüssel in der Hand. „So!“ sagte sie lächelnd, während die Tür hinter ihr ins Schloss fiel. „Von mir aus können wir.“
Auf dem kurzen Weg auf die andere Straßenseite wusste Lukas nicht so recht, was er sagen sollte, und Janine ging es offenbar genauso, deshalb schwiegen beide, während sie die Straße überquerten und die paar Schritte den Bürgersteig entlanggingen.
In der Wohnung angekommen, die er mit seiner Mutter bewohnte, führte Lukas Janine ins Wohnzimmer. Eigentlich nahm er seine Freunde zwar mit in sein eigenes Zimmer, wenn sie zu Besuch kamen, aber es war ja Weihnachten, und der Baum stand nun mal im Wohnzimmer.
Ganz Gentleman nahm er Janine die Jacke ab und hängte sie an die Garderobe im Flur, dann fragte er Janine, ob sie ein paar Plätzchen essen und etwas trinken wollte.
Gegen einen warmen Kakao hatte Janine nichts einzuwenden, und sie begleitete Lukas in die Küche, um ihm zur Hand zu gehen. „Muss deine Mutter die ganze Nacht arbeiten?“ erkundigte sie sich, während sie darauf warteten, dass die Milch auf dem Herd warm wurde. Lukas nickte. „Morgen früh um sieben wird sie abgelöst.“ erklärte er. „Ist irgendwie blöd, dass sie Weihnachten arbeiten muss, aber da kann man nun mal nichts dran machen. Schön, dass wir wenigstens noch ein bisschen zusammen feiern können.“ „Stimmt.“ pflichtete Janine ihm bei. „Ich find’s auch schade, dass Mama schon schläft, aber das ist eben auch so.“
Wieder vermied sie es, zu bestätigen, was Lukas bis jetzt nur vermuten konnte, aber Lukas hatte gar keine Lust, das weiter zu ergründen. Er konnte verstehen, dass Janine nicht darüber reden wollte, und sich weiter Gedanken darüber zu machen, hätte nur die heimelige Weihnachtsstimmung gestört, die sich in ihm breitzumachen begann.
Sie trugen die vollen Tassen hinüber ins Wohnzimmer und setzten sich. Lukas öffnete die Blechschachtel mit selbstgebackenen Weihnachtsplätzchen und stellte sie so hin, dass Janine sich bedienen konnte. Erst griff Janine nur zögerlich zu, aber Lukas versicherte ihr, dass sie ruhig zulangen konnte, und ging selbst mit gutem Beispiel voran.
Als die Kakaotassen leer waren und der Inhalt der Plätzchendose deutlich weniger geworden war, schlug Lukas vor, etwas zu spielen. Er hatte einige Brett- und Würfelspiele, und nachdem er Janine die Auswahl gezeigt hatte, entschieden sie sich für Deutschlandreise. Unter Lukas‘ Lieblingsspielen war das die Nummer zwei, aber seinen absoluten Liebling, MindTrap, hatte er gar nicht erst vorgeschlagen, weil es unfair gewesen wäre; er besaß das Quizspiel seit zwei Jahren, und Janine hätte keine Chance gegen ihn gehabt, weil er im Gegensatz zu ihr die Fragen in- und auswendig kannte.
Es war einfach gemütlich, im Wohnzimmer zu sitzen, das nur von den elektrischen Kerzen am Weihnachtsbaum erhellt wurde, Plätzchen zu essen und die Spielfiguren auf dem Brett durch Deutschland reisen zu lassen. Mehr als einmal ertappte Lukas sich bei dem Gedanken, dass man so etwas öfter machen konnte, auch gerne ohne besonderen Anlass, und es sah ganz so aus, als ob Janine es genauso sah.
Doch auch der schönste Abend musste einmal ein Ende habe. Es war schon elf durch, als Lukas und Janine die Figuren wegräumten und das Spielbrett zusammenklappten; so lange hatte Lukas noch nie einen Freund zu Besuch gehabt oder war selbst bei einem seiner Freunde geblieben, wenn die Übernachtung nicht von vornherein eingeplant gewesen war.
Schon draußen im Treppenhaus, drehte Janine sich noch einmal zu Lukas um. „Danke.“ sagte sie leise. „Das waren die schönsten Weihnachten, die ich je hatte.“ Rasch drückte sie Lukas einen Kuss auf die Wange, dann lief sie die Treppe hinunter, und die Haustür fiel hinter ihr ins Schloss. Ja, dachte Lukas, schöner hätte sich der Wunsch „Frohe Weihnachten!“ nicht erfüllen können.