29. November 2025
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978-3818791766
epubli
Marvin und seine beiden Freunde haben Ruben lange genug gemobbt. Wenn sein Plan aufgeht, werden sie bald andere Sorgen haben, und das haben sie sich selbst eingebrockt. Doch die drei drehen den Spieß um, und plötzlich steckt Ruben übel in der Klemme. Was ihm widerfährt, sieht Marvin und seinen Freunden ähnlich, aber irgendetwas passt nicht. Um das Bild zusammenzusetzen, fehlt Ruben ein Puzzleteil, ein Puzzleteil, das er bestens kennt, aber überhaupt nicht im Blick hat.
„Heute kriege ich sie!“, schrieb Ruben in den Chat. „Diesmal sind sie dran, und dann müssen sie mich endlich in Ruhe lassen.“ „Was ist los?“, kam kurz darauf die Antwort von Shadowwitch34. So nannte sich Rubens Chatpartnerin, mit der er seit einigen Monaten viel schrieb. Ruben hatte das Gefühl, dass er ihr alles anvertrauen konnte, auch wenn er im Hinterkopf behielt, dass er sie nicht persönlich kannte und nur über sie wusste, was sie selbst im Chat über sich preisgegeben hatte. Er sah keinen Grund, daran zu zweifeln, dass er es wirklich mit einem vierzehnjährigen Mädchen zu tun hatte, aber er blieb vorsichtig. Shadowwitch34 hielt es umgekehrt genauso, und weil sie beide kein Geheimnis daraus machten, funktionierte das sehr gut.
„Ich wusste, die haben Dreck am Stecken“, schrieb Ruben. „Ich wusste nur nicht genau, was, und hatte natürlich keine Beweise. Aber heute klappt’s.“
Shadowwitch34 schickte zwei Fragezeichen zurück. „Sie dealen“, präzisierte Ruben. „Ich hab sie belauscht, heute Morgen in der Schule. Nachher kriegen sie eine neue Lieferung. Wenn ich das filme, hat die Polizei genug Beweise, um sie festzunageln.“
Die erste Antwort war ein Smiley mit entgeistert aufgerissenen Augen. „Mach bloß keinen Scheiß!“, beschwor Shadowwitch34 ihn. „Wenn die dich erwischen!“
Das wusste Ruben. Wenn die Dealer ihn entdeckten, würden sie ihn fertigmachen, dass sie ihn krankenhausreif prügelten, war das Mindeste, was er dann zu erwarten hatte. Er konnte auch nicht behaupten, dass er keine Angst hatte, ganz im Gegenteil. Aber die Gelegenheit war zu gut, und vor allem hatte sich über die Zeit ein enormer Leidensdruck aufgebaut. Wenn er die Chance hatte, durfte er sie einfach nicht verstreichen lassen.
Shadowwitch34 brauchte er das nicht zu erklären. Sie wusste längst, dass er von drei älteren Jungen terrorisiert wurde, die im selben Wohnblock lebten. Seit einem halben Jahr ging das nun schon so, und er wusste nicht einmal, womit er das verdient hatte. Vielleicht war er ein Zufallsopfer, weil er jünger und quasi jederzeit verfügbar war; zumindest jederzeit, wenn er das Haus verließ oder zurückkam. Da konnten sie ihm bequem auflauern, wenn sie mal wieder das Gefühl brauchten, die Größten zu sein, und er konnte dem unmöglich ausweichen. Schließlich musste er zur Schule, und er wollte auch nicht auf sein Leichtathletiktraining verzichten oder darauf, sich nachmittags mit Freunden zu treffen.
Der Anführer des Trios hieß Marvin und war nach allem, was Ruben wusste, fast 18. Seine Kumpel, Simon und Fabian, waren unwesentlich jünger, sie gingen in dieselbe Stufe, würden aber erst im Frühjahr Geburtstag haben. Beliebt waren sie wohl auch in der Zwölften nicht, eher würden die meisten aus der Stufe froh sein, wenn sich nach dem Abitur die Wege trennten. Möglich, dass Ruben nicht das einzige Opfer war, das war schwer zu erkennen. Ruppig benahmen die drei sich eigentlich ständig, und bisher waren alle Erziehungsmaßnahmen an ihnen abgeperlt.
Ruben traute ihnen grundsätzlich so ziemlich alles zu, aber bislang hatte er nichts Konkretes in Erfahrung bringen können. Genauso wenig war es ihm gelungen, Beweise dafür zu sichern, dass sie ihn mobbten. Sie hatten ein Talent dafür, sich ihre Attacken für Momente aufzuheben, in denen es keine Zeugen gab, und keine Spuren zu hinterlassen. Gut, vermutlich trugen inzwischen etliche von seinen Sachen ihre Fingerabdrücke, aber er hatte zu wenig in der Hand für eine Anzeige, die dazu geführt hätte, dass Marvin und die anderen von der Polizei ans Stempelkissen gebeten wurden. Alles bewegte sich in diesem verflixten Grenzbereich, der einfach nicht richtig zu packen schien, und die drei wussten offensichtlich verdammt genau, wie weit sie gehen konnten. Sie schubsten ihn herum, verletzten ihn aber nicht dabei, seine Sachen warfen sie in den Dreck, sodass sie schmutzig, aber nicht beschädigt wurden. Auch ihn bestohlen oder Geld von ihm verlangt hatten sie noch nie. Ganz offensichtlich ging es ihnen nicht darum, sich zu bereichern, sie wollten ihre Macht demonstrieren, ihm und auch sich selbst. Sie wollten ihm Angst machen, und leider gelang es ihnen auch.