
„Alles drin?“, erkundigte Felicitas sich bei ihrer gleichaltrigen Cousine und besten Freundin. Anette nickte. „Alles drin“, bestätigte sie. Felicitas drückte die Blechtür des Schließfachs zu, drehte den Schlüssel um und zog ihn ab. Mit dem Schlüssel in der Hand ging sie in die Hocke, um ihn mit dem Bändchen am Knöchel zu befestigen. Die meisten trugen ihn am Handgelenk, aber Felicitas bevorzugte das Bein, weil sie dann beide Hände hatte, um den Schlüssel zu halten und das freie Ende des Armbands in die Schnalle zu friemeln. An diesem Tag hatte sie ein widerspenstiges Exemplar erwischt, die Schnalle war leicht verbogen. Anette musste sich einen Moment gedulden, bis ihre Cousine endlich so weit war.
Die Mädchen duschten und suchten dann einen Platz auf der Liegewiese für ihre Handtücher. Es war noch nicht so spät am Tag, das Freibad aber trotzdem schon ziemlich voll. Der Tag versprach knallheiß zu werden, wie schon die ganze Woche, und jeder, der konnte, suchte nach Abkühlung.
Anette und Felicitas hatten Glück, sie fanden ein Eckchen, wo ihnen auch später nicht ständig jemand über die Handtücher laufen würde. „Einmal quer durch und dann gleich zur Rutsche?“, schlug Anette vor.
Die Rutsche befand sich auf der anderen Seite des Nichtschwimmerbeckens, der kürzeste Weg führte durchs Wasser. Felicitas war einverstanden und folgte ihrer Cousine über die leicht abfallende Liegewiese zum Becken. Nebeneinander wateten sie die flachen Stufen hinunter, kühlten sich dabei ab und stürzten sich schließlich kopfüber ins Wasser. „Tut das gut!“, rief Anette. „Echt!“, pflichtete Felicitas ihr bei. „Ich will gar nicht mehr raus!“
Dem stand allerdings entgegen, dass Anette und sie zur Rutsche wollten. Sie erreichten die andere Seite des Beckens, wo es keine Stufen gab, nur eine Leiter an jedem Ende, und stemmten sich am Rand hoch. Eine Tropfspur hinter sich herziehend, liefen sie über die heißen Steinfliesen zum Rutschenturm.
Auf halber Höhe der Wendeltreppe, die zum Einstieg der Wasserrutsche führte, trafen sie auf das Ende der Warteschlange. Zum Glück ging es einigermaßen zügig voran, auch wenn oben eine Ampel dafür sorgte, dass die Kinder und Jugendlichen genug Abstand hielten. Zumindest in der Theorie, denn wenn das Aufsichtspersonal nicht hinschaute, hielt sich höchstens die Hälfte daran. Auch die Regel, dass nicht zu mehreren als Kette gerutscht werden durfte, wurde immer wieder missachtet.
Schließlich erreichten Anette und Felicitas die Plattform. Vor sich hatten sie noch einen Jungen, der 14 oder 15 Jahre alt sein mochte, und ein Mädchen von sieben oder acht Jahren. Hinter ihnen wartete ein Mädchen, das nur unwesentlich jünger zu sein schien als der Junge ganz vorne, es hatte Anette und Felicitas auf der Treppe vorgelassen, weil es auf eine Freundin gewartet hatte.
Die Ampel sprang auf Grün und der Junge in die Röhre. Zwei Sekunden, dann hatte er die erste Kurve erreicht und war außer Sicht. Die Röhre war aus hellem Kunststoff und ließ Licht durch, aber Schemen der Rutschenden konnte man nur sehen, wenn die Sonne genau dahinter stand.
In Gedanken zählte Felicitas die Sekunden mit, obwohl sie wusste, dass der Abstand an der Rutsche auf 10 Sekunden eingestellt war. Die Ampel wurde wieder grün, das Mädchen vor Felicitas setzte sich in die Röhre und rutschte los. Felicitas trat einen Schritt vor, damit hinten die nächsten auf die Plattform kommen konnten, und wartete, bis die Reihe an ihr war.
Sie hörte ein leichtes Poltern und einen kurzen Ruf, maß dem aber keine Bedeutung bei. Das kam schon mal vor, wahrscheinlich hatte das Mädchen vor ihr zu viel mit den Armen geschlenkert und gegen die Wand der Röhre geschlagen. Die Ampel sprang wieder auf Grün, und Felicitas machte sich auf die Reise.
Sie rutschte nicht wild, bekam aber doch ganz hübsch Tempo, weil sie sich im Liegen streckte und die Auflagefläche ihres Körpers auf dem Boden der Rutsche möglichst klein machte.
Als sie vor sich in der Rutsche Lärm hörte, war es schon zu spät. Schon hatte sie die nächste Kurve erreicht, und danach hatte sie gerade noch genug Zeit, um zu erfassen, dass der Junge, der als Vorletzter vor ihr gerutscht war, sich quer hingesetzt hatte. Er blockierte die Röhre in voller Ausdehnung und dachte gar nicht daran, Platz zu machen. Das jüngere Mädchen musste voll gegen ihn geprallt sein, das hatte vermutlich wehgetan, allerdings nur der Kleinen, schätzte Felicitas. Das Mädchen versuchte panisch, irgendwie an dem Jungen vorbei oder über ihn hinwegzukommen, aber der war viel stärker und schubste es mit einem Arm einfach zurück.
Felicitas selbst hatte auch keine Chance mehr, rechtzeitig zu bremsen, sie schaffte es nur so eben noch, wenigstens so weit zur Seite zu rutschen, dass sie nicht in das Mädchen vor ihr knallte. Der Schwung trug sie halb über den Jungen hinweg, ihr linkes Bein streifte hart seinen Oberschenkel. Das tat weh, weil die leicht verbogene Schnalle des Schlüsselbands in die Haut gedrückt wurde; auch der Junge gab einen scharfen Laut von sich.
Eine halbe Sekunde brauchte Felicitas, um sich wieder einigermaßen zu sortieren. „Nette, Vorsicht!“, rief sie nach oben, in der Hoffnung, dass ihre Cousine es hörte und wartete, bis die Bahn wieder frei war. „Mach Platz!“, herrschte sie dann den Jungen an. „Oder sollen noch mehr Leute hier reinknallen?“
„Ist doch gemütlich hier“, gab der Junge grinsend zurück, ohne auch nur einen Millimeter Platz zu machen. „Sogar Schatten haben wir.“ „Einen Schatten hast du wirklich“, versetzte Felicitas. Gleichzeitig machte sie sich aus dem Knäuel frei, das aus ihr, dem Jungen und dem kleinen Mädchen bestand. Mit einem Arm umschlang sie den Oberkörper des Mädchens, um es festzuhalten, dann trat sie mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte, gegen die Füße, die der Junge gegen die Wand der Röhre stemmte. Dadurch, dass sie selbst auf dem nassen Boden der Röhre rutschte, traf sie den Jungen weniger kräftig als erhofft, aber es reichte. Zwischen den glatten Wänden hatte der Junge sich nur mit Körperspannung verkeilen können, durch Felicitas‘ Tritt rutschte er ab und fand keinen neuen Halt. Der Weg für Felicitas war frei, das jüngere Mädchen immer noch schützend festhaltend, stieß sie sich mit der freien Hand ab.
Allerdings rutschte auch der Junge unfreiwillig weiter, und der Abstand war nicht der Rede wert. Ob er überlegte, sich noch mal querzulegen, wusste Felicitas nicht, am Ende entschied er sich auf jeden Fall dafür, sie zu jagen. Weil sie mit ihrem Schützling gehandicapt war, konnte sie nicht viel Tempo machen, und der Junge rutschte ihr mehrfach in den Rücken.
Sie war froh, als sie das Ende der Rutsche erreichte, aber vorbei war der Kampf damit noch nicht. Mit dem kleinen Mädchen im Arm hatte sie keine Chance, schnell aus dem Mündungsbereich der Rutsche wegzukommen, der Junge knallte mit seinem ganzen Gewicht auf sie und drückte sie unter Wasser. So dicht, wie er hinter ihr war, hätte er das nicht mehr verhindern könnte, selbst wenn er gewollt hätte, aber natürlich wollte er es auch gar nicht verhindern.
Felicitas tauchte zur Seite weg, hatte aber Schwierigkeiten, weil sie nur eine Hand freihatte. Noch dazu bekam das jüngere Mädchen jetzt wirklich Panik, weil es nicht nach oben kam, und begann zu zappeln. Aber loslassen konnte Felicitas nicht, das Mädchen würde sich allein nicht nach oben kämpfen können, solange der Junge, der sie beide untergetaucht hatte, nicht endlich Platz machte.
Endlich kam sie frei, tauchte auf und schnappte nach Luft. Neben ihr hustete das Mädchen, das vor ihr gerutscht war, offenbar hatte es bei dem unfreiwilligen Tauchgang Wasser geschluckt. Es zitterte immer noch, der Schreck über das Erlebte saß tief, aber wenigstens war es nicht so lange untergetaucht gewesen, dass der Sauerstoffmangel wirklich bedrohlich geworden war.
„Bist du okay?“, vergewisserte Felicitas sich, immer noch etwas außer Atem. Das Mädchen nickte tapfer, aber Felicitas sah, dass die Kleine sich das Handgelenk hielt. Entweder hatte es sich wehgetan, als es auf den Jungen geprallt war, oder es war gerade auf den Boden des Beckens gekommen. Felicitas entging auch nicht, dass sich unter das Wasser auf dem Gesicht des Mädchens Tränen mischten. „Tut dir die Hand weh?“, fragte sie.
Nur nebenbei nahm sie wahr, dass der Junge, der an allem schuld war, aus dem Becken kletterte, ohne sich um den Schaden zu kümmern, den er angerichtet hatte, achtete aber nicht darauf. Fertig war sie noch nicht mit ihm, aber das Mädchen war jetzt wichtiger.
Während sie vorsichtig nach der Hand des Mädchens griff, um zu schauen, ob sie verletzt war, stieß Anette zu ihr. Sie hatte Felicitas rufen hören, aber wegen der Verfälschung durch die Rutschenröhre kein Wort verstanden. Sie war langsam gerutscht und hatte so nichts mehr von dem mitbekommen, was ihrer Cousine widerfahren war. Aber sie kannte Felicitas seit Babytagen und sah an ihrem Gesicht, dass etwas nicht in Ordnung war.
„Was ist los?“, fragte sie besorgt, als sie Felicitas und das jüngere Mädchen erreicht hatte. „Alles okay bei dir?“ „Ja, ich bin okay“, versicherte Felicitas. „Aber der Typ, der vor ihr dran war, hat die Rutsche blockiert. Sie ist in ihn rein, und ich dann fast noch in sie. Als wir an ihm vorbei sind, ist er mir ständig in den Rücken gerutscht, und zum Schluss hat er uns auch noch untergetaucht. Aber geht schon wieder. Mir ist nichts passiert, aber ihr tut die Hand weh.“
„Untergetaucht?“, mischte sich eine Stimme ein – das Mädchen, das sie auf der Treppe vorgelassen hatte und mit dem vorgeschriebenen Abstand hinter Anette gerutscht war. „Wer? Benni?“ Felicitas zuckte mit den Schultern. „Weiß nicht, wie er heißt“, antwortete sie. „Der Typ, der vor ihr war.“ Sie deutete auf das jüngere Mädchen. „Eigentlich müsstest du ihn gesehen haben, du warst ja fast direkt hinter ihm, bevor du uns vorgelassen hast.“ „Ja, das ist er“, bestätigte das Mädchen. „Der ist bei mir in der Klasse. Absoluter Vollidiot. Wollt ihr ihn dem Bademeister melden? Übrigens, ich bin Gina.“
Auch Anette und Felicitas nannten ihre Namen, und das jüngere Mädchen sagte mit leiser Stimme, dass es Mathilda hieß. Anette und Felicitas wechselten einen Blick und zuckten mit den Schultern. Ganz sicher waren sie nicht, bis jetzt hatten sie sich darauf konzentriert, zu schauen, ob alles in Ordnung war.
„Wahrscheinlich hatte er’s gar nicht auf euch abgesehen, sondern auf mich“, vermutete Gina nach einer kurzen Pause. „Dass ich euch vorgelassen hab, weil ich auf Marlene warten wollte“, offenbar ihre Freundin, die gerade dazustieß, „hat er wohl nicht mitgekriegt. Euch kennt er ja gar nicht, da macht’s nur halb so viel Spaß.“ „Auf jeden Fall voll daneben“, meinte Marlene, nachdem Gina sie ins Bild gesetzt hatte. „Lass mich mal schauen!“
Ohne auf eine Antwort zu warten, nahm sie Felicitas Mathildas Handgelenk aus der Hand, tastete es ab und testete vorsichtig die Beweglichkeit. „Sie ist Schulsanitäterin“, erklärte Gina. „Und?“, erkundigte sie sich bei ihrer Freundin. „Scheint nichts passiert zu sein“, antwortete die. „Hat einfach nur wehgetan durch den Aufprall, aber kaputt ist nichts, glaube ich.“ „Dann kommt, wir suchen Benni!“, forderte Gina die anderen auf. „Er soll sich wenigstens entschuldigen.“
Da in der Zwischenzeit niemand auf ihn geachtet hatte, konnte Benni mittlerweile allerdings sonst wo sein. Viel Lust hatten Anette und Felicitas eigentlich nicht, ihm nachzulaufen, aber die Sache auf sich beruhen zu lassen, widerstrebte ihnen auch. Gina war sichtlich sauer, sie schien es persönlich zu nehmen, obwohl der Streich sie am Ende ja nicht getroffen hatte. Er hatte aber ihr gegolten, das glaubten Anette und Felicitas inzwischen auch.
„Habt ihr Zoff?“, erkundigte Felicitas sich bei Gina, während sie auf der Suche nach Benni über das Gelände streiften. „Nicht direkt“, antwortete Gina. Ihr schien das etwas unangenehm zu sein, sie wollte aber nicht so unfair sein, Felicitas abzubügeln, nachdem die mehr oder weniger für sie den Kopf hingehalten hatte. „Ich weiß es auch nicht so genau. Ich meine …“ Das Verhältnis schien kompliziert zu sein, Gina brauchte ein paar Augenblicke, um sich die Erklärung zurechtzulegen. „Ich weiß nicht, ob er wirklich in mich ist“, sagte sie dann. „Auf jeden Fall will er, dass ich ihn bemerke.“ „Und was hat er davon?“, wunderte sich Anette. „Wenn du dann bloß sauer auf ihn bist …“ Gina zuckte mit den Schultern. „Frag mich nicht, was in seinem Kopf vorgeht! Ich glaube, ich will’s gar nicht wissen.“
„Da!“, unterbrach Marlene sie und deutete zum Sprungturm, wo Benni in der Schlange stand, noch drei andere Jungen zwischen sich und dem Fuß der Leiter. „Da ist er!“
Benni hatte sie noch nicht bemerkt, weil sie noch etwas entfernt waren und nicht direkt in seiner Blickrichtung. Wahrscheinlich rechnete er auch nicht damit, dass sie nach ihm suchten; aus seiner Sicht war ja nichts Wichtiges passiert.
Wenig später hatten die Mädchen ihn erreicht und kreisten ihn ein. Felicitas zog Mathilda leicht an sich, die zwar mitgekommen war, sich jetzt aber doch unsicher zu fühlen schien. „Der tut dir nicht noch mal was“, flüsterte sie ihr zu.
„Was sollte die Aktion eben?“, ging Gina ihren Klassenkameraden frontal an. „Glaubst du, mit so was kannst du bei mir landen?“ Felicitas sah ein kurzes Zucken in Bennis Augen, das verriet, dass Gina einen wunden Punkt getroffen hatte, auch wenn er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. „Vergiss es!“, schloss Gina wütend.
„Quatsch!“, sagte Benni. „Ich bin hängen geblieben. Wollte mich umdrehen und bin dabei irgendwie dann quer gewesen. Kann ich doch nichts dafür, wenn die hinter mir nicht gucken, ob die Rutsche frei ist!“ „Mathilda hat gewartet, bis die Ampel grün war“, stellte Felicitas klar. „Das hab ich genau gesehen. Und du hast auch nicht gerufen, dass sie noch nicht rutschen soll. Außerdem hast du versucht, zu verhindern, dass wir dich wegschieben.“
Benni geriet zunehmend in Bedrängnis, wollte sich aber vor allem vor Gina keine Blöße geben. „Ist doch Unsinn“, betonte er. „Und warum macht ihr überhaupt so einen Aufstand, ist doch nichts passiert.“ „Doch, es ist was passiert“, widersprach Gina fest. „Mathilda hat sich wehgetan. An der Hand, als sie gegen dich geknallt ist. Du hast Glück, dass sie sich nicht verletzt hat. Und untergetaucht hast du sie auch noch.“ „Konnte nicht mehr ausweichen“, behauptete Benni. „Ist eben passiert.“ „Mann, was glaubst du, was sie für eine Angst hatte, als sie nicht hochgekommen ist?“, fauchte Gina. Wenn Benni nicht sowieso schon längst untendurch gewesen wäre bei ihr, dann spätestens jetzt. „Versetz dich doch mal in ihre Lage!“ „Und was soll ich jetzt machen?“, fragte Benni zurück. „Ist doch alles vorbei.“ „Du könntest wenigstens so tun, als ob’s dir leidtut“, versetzte Gina. „Aber spar dir die Mühe, keiner will eine geheuchelte Entschuldigung. Lass uns einfach in Ruhe!“
Damit ließen sie Benni stehen und liefen zurück zum Nichtschwimmerbecken. „Am liebsten würde ich ihn zum Bademeister schleifen, damit wir ihn wenigstens heute nicht mehr sehen“, sagte Gina unterwegs. „Der verdirbt einem ja alles! Aber bringt nichts, für so was schmeißen die keinen raus, und wir könnten’s auch nicht beweisen.“ „Dass ich mit ihm zusammengestoßen bin, könnten wir schon beweisen“, korrigierte Felicitas. „Aber das wäre viel zu viel Aufwand für den.“ Gina schaute sie skeptisch an. „Wie willst du das denn beweisen?“
Weißt Du, wie Felicitas beweisen könnte, dass sie in der Rutsche mit Benni zusammengestoßen ist?
Auflösung