Autorenseite René Bote

Der Glückszettel

Cover der Kurzgeschichte Der Glückszettel

Die Saison in der 3. Fußballliga stand noch ganz am Anfang, in fünf Minuten würden die Begegnungen des 3. Spieltags angepfiffen werden. Max war nervös wie nie zuvor, denn das Spiel würde der Höhepunkt seiner bisherigen Karriere sein. Er war frisch von der U19 in die erste Mannschaft aufgerückt und hatte erst in der Vorwoche sein kurzes Profidebut gegeben. Beim Stand von 2:2 war er in der Nachspielzeit eingewechselt worden, um Zeit von der Uhr zu nehmen. Sein einziger Ballkontakt war ein missglückter Pass eines Mannschaftskameraden gewesen, bei dem er den Ball noch mit der Fußspitze berührt hatte, bevor er ins Aus gegangen war. Damit hatte er sich bestimmt nicht für einen Einsatz von Beginn an aufgedrängt, aber die Mannschaft hatte trotz der noch jungen Saison Personalnot im Sturm. Bogdan, der in der Spitze gesetzt gewesen war, hatte im Lauf der Woche das Wechselangebot eines Zweitligisten angenommen, und Josua, das erste Backup, hatte sich im Training verletzt und würde mehrere Wochen ausfallen. Der Sportliche Leiter suchte wohl nach Verstärkungen, aber bezahlbare Stürmer, die ihnen sofort weiterhelfen konnten, waren rar gesät. Der Trainer musste also entweder den Jungspund bringen oder aber einen Mittelfeldspieler umfunktionieren; er hatte sich für die junge Lösung entschieden.

 

Max stand mit den anderen im Kabinengang. Von draußen hörte er den Lärm der Zuschauer, sechstausend sollten es sein. Das war natürlich nichts im Vergleich zu Magdeburg oder Lautern, wo regelmäßig fünfzehn-, zwanzig- oder fünfundzwanzigtausend kamen, aber für Max war es der schiere Wahnsinn. In der A-Jugend hatte er vor 50 Zuschauern gespielt, 100, wenn es ein ganz guter Tag gewesen war, und jetzt diese Kulisse.

 

Eine Betreuerin wies den Spielern ihre Einlaufkinder zu. Auch das war Neuland für ihn, nach dem Warmmachen noch mal reingehen, um im ordentlichen Gänsemarsch und mit einem Kind an der Hand den Rasen zu betreten. Ein Mädchen von vielleicht sieben oder acht Jahren stellte sich neben ihn und griff nach seiner Hand. Die Kleine war sichtlich aufgeregt, aber offenkundig kein Stück schüchtern. Mit der anderen Hand hielt sie ihm ein Blatt Papier hin. „Das hab ich für dich gemalt“, sagte sie. „Meine Mama sagt, Hufeisen bringen Glück.“

 

Max musste sich eingestehen, dass er mit der Situation überfordert war. Alles Mögliche war in den letzten Tagen und Stunden durchgekaut worden, aber auf die Einlaufkinder hatte ihn niemand vorbereitet. Aber die Kleine wollte offensichtlich, dass er den Zettel nahm, und vor den Kopf stoßen wollte er sie auch nicht. Er versuchte, zu lächeln, und hoffte, dass es nicht wie eine Grimasse wirkte. „Danke.“ Er besah sich kurz das Hufeisen, künstlerisch war es vielleicht ausbaufähig, aber dafür garantiert mit viel Hingabe gemalt, und die Zeichnerin war ja auch noch klein. Bloß – wohin jetzt damit? Mangels Alternativen faltete er den Zettel zusammen und schob ihn in den Stutzen. Das Mädchen lächelte, es freute sich, dass er den Glücksbringer mit ins Spiel nahm. „Viel Glück!“, wünschte sie ihm noch.

 

***

 

Das Spiel wollte irgendwie nicht richtig in die Gänge kommen. In den ersten beiden Spielen hatte die Mannschaft gegen Teams, denen man zutraute, um den Aufstieg mitzuspielen, jeweils ein Unentschieden herausgeholt. Gegen den heutigen Gegner hatte man sich den ersten Dreier ausgerechnet, um mit einem ordentlichen Start in die Saison einen Platz im gesicherten Mittelfeld anzupeilen. Die Chancen waren auch da, aber irgendwie war doch immer ein gegnerisches Bein dazwischen, oder der Ball ging knapp vorbei. Außerdem war der Torwart echt gut, zumindest an diesem Tag der beste Mann, den die Gegner auf dem Feld hatten.

 

Max hatte das Gefühl, dass er ein ordentliches Spiel machte. Er holte sich viele Bälle, legte für die Mitspieler ab und schoss auch selbst aufs Tor. Allein, ein Treffer wollte auch ihm nicht glücken; einmal dachte er schon, jetzt würde er endlich reingehen, aber dann lenkte der Torwart den Ball doch noch irgendwie über die Latte.

 

So stand es wenige Minuten vor Schluss immer noch 0:0, und nach dem bisherigen Spielverlauf war das für Max und seine Mannschaft eindeutig zu wenig. Einer der Mittelfeldspieler versuchte es mit Gewalt, weil er keine Lücke fand, um den Ball durchzustecken, aber es sprang nur eine Ecke heraus.

 

Max hielt sich am langen Pfosten bereit. Der Ball kam von der rechten Seite rein, reichlich hoch, wie Max fand. Donny, der lange Innenverteidiger, der bei Standards immer mit vorne reinging, kam tatsächlich nicht richtig dran, er berührte den Ball zwar mit dem Kopf, konnte ihn aber nicht zum Tor hin umlenken. Nur deshalb kam der Ball zu Max durch, Max reagierte eine Winzigkeit schneller als sein Bewacher, schraubte sich hoch und erwischte den Ball mit dem Kopf. Ein guter Kopfball, das spürte er sofort, er hatte den Ball wuchtig getroffen, und es war ihm geglückt, ihn zu drücken.

 

Trotzdem kam der Torwart noch dran. Er lenkte den Ball an den Pfosten, doch von dort sprang er Max direkt wieder vor die Füße. Max brauchte nur noch den Fuß hinzuhalten – Tor!

 

Das Gefühl drohte Max zu überwältigen. Klar, er hatte schon viele Tore erzielt, ganz früher, bevor er von seinem ersten Verein bei ihm zu Hause um die Ecke in die Jugend hier gewechselt war, manchmal acht oder neun in einem Spiel, und auch danach hatte er in fast jedem Spiel getroffen. Aber das war sein erstes Tor als Profi, vor sechstausend Zuschauern im Stadion und noch mehr, die das Spiel im Dritten Programm oder im Livestream verfolgten.

 

Im ersten Moment riss er einfach nur beide Arme hoch, einen ausgefeilten Jubel wie viele andere Profis hatte er sich nicht zurechtgelegt. Keine gekreuzten Arme wie Robert Lewandowski, kein Rühren mit dem Kochlöffel wie Serge Gnabry, keine Batman-Maske im Stutzen wie Aubameyang…

 

Als er daran dachte, fiel ihm das Hufeisen wieder ein, und er wusste, was er zu tun hatte. Hastig befreite er sich aus der Traube der Mitspieler, holte den Zettel aus dem Stutzen und hielt ihn in die nächste Kamera. Ob ihm das Hufeisen Glück gebracht hatte, mocht dahingestellt bleiben, eigentlich war er nicht abergläubisch. Aber die Kleine, die es gemalt hatte, glaubte fest daran, und wenn sie glücklich war, weil er mit ihrem Glücksbringer im Stutzen ein Tor geschossen hatte, dann hatte es tatsächlich Glück gebracht.